Franz Mehring 19000400 Weltkrach und Weltmarkt

Franz Mehring: Weltkrach und Weltmarkt

(April 1900)

[Franz Mehring: Weltkrach und Weltmarkt Berlin (1900), S. 3-46. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 405-444]

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Aufsätze sind im Januar und Februar d. J. als Leitartikel des „Vorwärts" erschienen, auf eine Anregung der Redaktion, die, über den Rahmen der Tagesdebatte hinaus, die historisch-prinzipielle Stellung der deutschen Arbeiterklasse zur Flottenvorlage der Regierung dargelegt zu sehen wünschte. Da der Verlag des „Vorwärts" der freundlichen und hoffentlich nicht ganz irrtümlichen Ansicht ist, dass die kleine Arbeit auch in einer Sonderausgabe einigen Nutzen stiften könnte, so gebe ich sie noch einmal heraus, mit den entsprechenden formellen Änderungen, aber im Wesentlichen unverändert. So verlockend es wäre, das Thema noch viel eingehender zu erörtern, wodurch die historisch-politische Hinfälligkeit der Flottenvorlage noch viel handgreiflicher hervortreten würde, so zieht das Wesen einer politischen Flugschrift doch bestimmte Grenzen, die nur auf Kosten ihrer praktischen Wirkung überschritten werden könnten.

Eher könnte es sich fragen, ob nicht die Entwicklung, die der Kampf um die Flotte seit der Abfassung meiner Artikel genommen hat, einige berichtigende oder erweiternde Ausführungen nötig machte. Wenn auch noch keine bürgerliche Partei, so haben doch einzelne, nicht einflusslose Organe bürgerlicher Parteien sanfte Liebesblicke auf eine Reichserbschaftssteuer geworfen, allein wie sehr es sich dabei nur um ganz unverbindliche Redensarten handelt, haben die Verhandlungen gezeigt, die in der Budgetkommission über die Deckungsfrage gepflogen worden sind. Ich habe diese Frage nur ganz nebensächlich berührt, aus dem guten Grunde, weil gerade diejenigen bürgerlichen Parteien, die gern umfallen möchten, aber noch nicht umzufallen wagen, mit äußerster Hartnäckigkeit auf ihr herumreiten. Im Interesse der Arbeiterklasse liegt das einseitige Verbeißen in diese Frage durchaus nicht. Mit so großem Rechte sie sich gegen eine neue erdrückende Belastung ihrer Schultern sträubt, so darf sie deshalb die entscheidenden Gesichtspunkte keinen Augenblick übersehen. Entweder ist die geplante Flotte eine unbedingte Notwendigkeit nationaler Existenz, und dann wäre die gänzliche Abwälzung ihrer Kosten auf das Proletariat immer noch ein geringeres Übel als die Ablehnung der Flottenvorlage durch den Reichstag. Oder aber die Flottenvorlage ist eine tödliche Gefährdung der nationalen Existenz, und dann muss sie bis aufs Messer bekämpft werden, selbst wenn die besitzenden Klassen in einer unerhörten und vorläufig unglaublichen Anwandlung von Edelmut ihre Kosten bis auf den letzten Pfennig aus eigener Tasche zahlen wollen.

In dem entscheidenden Punkte aber haben die Verhandlungen der Reichstagskommission über den Zweck der Flottenvorlage meine Ausführungen durchaus nur bestätigt, so dass ich ihnen nichts abzustreichen und nichts zuzusetzen habe. Die Behauptung, dass die große Industrie zu ihrer Entwicklung einer entsprechend großen Kriegsflotte bedürfe, ist glücklicherweise an ihrem eigenen Widersinne gestorben; hat auch der Staatssekretär des Auswärtigen, Cecils, geheimnisreiche Miene aufgesetzt, als er der Budgetkommission des Reichstags seine Offenbarungen machte, so ist es doch ein öffentliches Geheimnis, dass sich die Spitze der offiziellen Flottenpolitik gegen England richtet. Selbstverständlich in „rein defensiver" Absicht, wie ja auch die Annexion Elsass-Lothringens, die den europäischen Kontinent in ein waffenstarrendes Kriegslager verwandelt hat, in „rein defensiver" Absicht erfolgte, wobei zu bemerken ist, dass diese Redensart damals, wenn auch keinen triftigeren Sinn, so doch einen zehnmal so blendenden Schein von Sinn hatte wie heute.

Die Flottenvorlage der deutschen Regierung ist ein entscheidender Schritt vorwärts auf der verhängnisvollen Bahn in den Weltkrach, dem vorzubeugen das oberste Interesse wie der modernen Zivilisation so des modernen Proletariats ist. Gewinnen die gewalttätigen und reaktionären Klassen aber dennoch einstweilen ihr Spiel, so wird der Sieg der Arbeiterklasse nur um so gründlicher vorbereitet, vorausgesetzt, dass sie am Tage des ungeheuren Zusammenbruchs sagen darf, dass ihre Hände rein geblieben sind von dem Frevel, dem vorwärts rollenden Rade der Geschichte in die Speichen zu fallen.
Berlin, im April 1900. F. M.

I. Einleitung

Die Stellung der Arbeiterklasse zur Flottenvorlage ist zunächst durch den finanziellen und den konstitutionellen Gesichtspunkt gegeben. Es unterliegt keinem ernsthaften Zweifel, dass die fünf oder sechs Milliarden, die der Bau der neuen Flotte erheischt, ganz oder mindestens zum weitaus größten Teile von den arbeitenden Klassen aufgebracht werden sollen. Die Regierung ist ja auch ganz ehrlich, indem sie die finanzielle Deckung ihrer Vorlage in neuen Anleihen und den laufenden Reichseinnahmen sucht. Denn da die laufenden Reichseinnahmen vornehmlich aus der Besteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse fließen und die Zinsen der neuen Anleihen natürlich auch aus dieser Quelle gezahlt werden müssen, so ist das Einmaleins nicht einfacher und unbestreitbarer, als dass die Regierung abermals darauf hinausgeht, die arbeitenden Klassen für die Zeche der besitzenden Klassen aufkommen zu lassen. „Arbeiterfreundliche" Flottenschwärmer sprechen nun zwar von einer Reichserbschafts- oder Reichseinkommenssteuer, allein das ist zunächst einmal ein politisches Kindermärchen, woran keine der bürgerlichen Parteien ernsthaft denkt, selbst wenn dies oder jenes kleine Fraktiönchen, wohl wissend, dass es sich den Luxus straflos gestatten darf, mit dem Gedanken an solche Steuern kokettieren sollte. Dann wollen aber auch diese wohlwollenden Gemüter in erster Reihe an den „laufenden Reichseinnahmen" festhalten und ihre chimärischen Steuern erst zur Ergänzung heranziehen, so dass auch sie den Arbeitern den vielleicht sehr ehrenvollen, aber gewiss sehr auspowernden Vortritt beim Zahlen einräumen.

Nicht minder schroff als dieser finanzielle, ist der konstitutionelle Angriff abzuweisen, den die Flottenvorlage unternimmt. Die Methode, die dabei von der Regierung befolgt wird, ist nicht neu: Sie besteht einfach darin, der Volksvertretung den Schein der Freiheit zu lassen, aber sie tatsächlich so festzulegen, dass sie bei dem ersten Versuche, von ihrer Freiheit wirklichen Gebrauch zu machen, über ihre eigenen Beine purzelt. Die Erfolge dieser Methode wurzeln in der Halbheit der bürgerlichen Oppositionsparteien, die nicht die Courage haben, das klare Nein zu sprechen, das sie allein zum Siege führen kann und sicher zum Siege führen muss, sondern die schon froh sind, wenn die Regierung ihnen erlässt, ein klares Ja zu sagen, und sich damit begnügt, ein verfassungsrechtliches Dunkel zu schaffen, worin gut munkeln ist, nämlich für die Regierung. Keine bürgerliche Partei, der die Rechte des Reichstags mehr gelten als einen Pappenstiel, sollte zur Flottenvorlage etwas anderes zu sagen haben als ein kurzes Nein. Jede bürgerliche Partei muss aus der preußischen und deutschen Verfassungsgeschichte wissen, dass die Annahme, die diese Vorlage zu erwecken sucht, als könne der Reichstag den „Gesamtplan" genehmigen und dann bei der Ausführung dieses Planes noch wirksam mitreden, ein trügerischer Schein ist; diesem Gesetzentwurf zustimmen, heißt einfach der Regierung weiße Karte in allen Flottenfragen erteilen.

In der Tat fängt die Ära des Marinismus genauso an, wie vor vierzig Jahren die Ära des Militarismus anfing. Als die preußische Regierung im Jahre 1860 die Reorganisation des Heeres begehrte, konnte das preußische Abgeordnetenhaus diesen Plänen einen unzerbrechlichen Riegel vorschieben, indem es die Mittel verweigerte, oder aber, wenn die bürgerliche Mehrheit des Hauses die Reorganisation aus irgendwelchen Gründen für notwendig hielt, die Mittel nur unter Bedingungen gewährte, die den bürgerlichen Klassen einen Anteil an der Regierung sicherten. Um das eine oder das andere zu tun, war nichts nötig als einige politische Einsicht und ein ganz klein wenig Courage, der das Herz bei einigem Stirnrunzeln des damaligen Königs – der, beiläufig, solange die Militärfrage schwebte, einen liberalen Schimmer annahm – nicht gleich in die Hosen fiel. Statt dessen aber ließ sich die liberale Mehrheit nach eben der Methode einseifen, die jetzt wieder bei der Flottenvorlage angewandt werden soll; die Regierung sagte ihr: Wir wollen ja gar nicht, dass ihr eure Mannesseelen dem Moloch des Militarismus für ewig verschreibt, aber denkt doch an das „größere Preußen", an das Ansehen des preußischen Namens, an die bedrohliche Weltlage und bewilligt die Kosten der Reorganisation nur auf ein kurzes Jährchen, dann könnt ihr sie in Ewigkeit verweigern, denn heilig sei euer konstitutionelles Recht! Auf diese märchenhafte Torheit ließ sich das preußische Abgeordnetenhaus wirklich ein; es bewilligte die Kosten der Reorganisation auf ein und dann noch auf ein kurzes Jährchen, aber als es nunmehr diese Kosten verweigerte, sagte ihm die Regierung kaltblütig: Ihr seid wohl nicht recht bei Troste! Es ist wirklich etwas hart, dass, nachdem auch die sanftmütigsten Historiker über die damalige Taktik des preußischen Abgeordnetenhauses sich klargeworden sind, die Opposition nicht mit einem kurzen Nein darüber zu entscheiden wagt, ob der deutsche Reichstag abermals eine so märchenhafte Torheit begehen soll.

Für die Arbeiterklasse genügen jedenfalls schon der finanzielle und der konstitutionelle Gesichtspunkt, jeder für sich, geschweige denn beide zusammen. Sie darf sich nicht für die misera contribuens plebs, für den elenden, zum Steuerzahler verdammten Pöbel halten, den die hochmögenden Patrioten in ihr sehen, und sie darf die konstitutionellen Rechte der Volksvertretung nicht mit jener frivolen Leichtigkeit preisgeben, die einen so großen Teil der deutschen Bourgeoisie zu seiner Schande vor den Bourgeoisien anderer Kulturvölker auszeichnet. Der Einwand der Flottenprofessoren, dass die Arbeiterklasse ja auch ihren Vorteil bei dem Bau der neuen Schiffe haben werde, läuft auf den menschenfreundlichen Vorschlag hinaus, dass die Arbeiter ihr Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht verschachern sollen. Das Proletariat soll die Spannung der goldenen Kette, woran es von der Bourgeoisie daher geschleift wird, für den Augenblick ein wenig erleichtern, um den Preis, dass die Wucht der Kette auf die Dauer um so schwerer wird! Man muss über die Naivität dieser gelehrten Männer staunen, vorausgesetzt, dass es bei allen wirklich nur Naivität ist, die heute noch der Sozialdemokratie zu bieten wagen, was von ihr schon in ihren Kinderjahren mit verdientem Hohn und Spott zurückgewiesen worden ist. Ebenso steht es mit dem „Entgegenkommen", das die Arbeiter zeigen sollen, weil sich die Ausnahmegesetzfabrikanten, solange die Marinefrage schwebt, etwas zurückhalten oder auch zurückgehalten werden. Eunuchenpolitik hat die Arbeiterklasse niemals getrieben und kann sie niemals treiben.

So wichtig nun aber auch die finanzielle und die konstitutionelle Frage ist, und so vollkommen schlüssig sie die ablehnende Stellung der Sozialdemokratischen Partei rechtfertigen, sowenig darf man sich darüber täuschen, dass die Flottenfrage damit nicht erschöpft ist. Will die Arbeiterklasse sich selbst treu bleiben und will sie ihre große Zukunft sichern, so muss sie an ihrer prinzipiellen Politik festhalten, und zwar nach ihrer alten Gewohnheit an jener echt prinzipiellen Politik, die unter vollkommener Wahrung aller Grundsätze zugleich allen praktischen Möglichkeiten gerecht wird. Hieraus folgt, dass eine rein defensive Stellung in der finanziellen und der konstitutionellen Frage für sie gegenüber der Flottenvorlage nicht genügt. Diese defensive Stellung müsste der konsequente Liberalismus – hätten wir anders einen in Deutschland! – auch einnehmen. Die Sozialdemokratie muss mehr tun, sowohl weil sie mehr verlangt, als auch weil für sie mehr auf dem Spiele steht. Demgemäß hat die Resolution, die von den Berliner Arbeitern gegen die Flottenvorlage gefasst worden ist, bei ihrer notgedrungen kurzen Fassung die konstitutionellen und finanziellen Seiten der Sache gar nicht oder nur nebensächlich berührt und das Schwergewicht ihres Protestes in die Verurteilung derjenigen Tendenzen gelegt, die unter dem Schlagwort der Weltpolitik zusammengefasst werden.

Von diesem Schlagwort gilt in erster Reihe: Hier ist der Feind! Nicht als ob die Sozialdemokratie sich vor einem Schlagwort fürchtete, wohl aber weil der liberale Philister sich durch Schlagworte ins Bockshorn jagen lässt. Beweis die Wahlen von 1878 und 1887, wo sich die Spießbürger durch die hohlsten Schlagworte derartig hypnotisieren ließen, dass sie, ihre eigenen Interessen mit Füßen tretend, ins Garn der Reaktion rannten. Dann aber ist das Schlagwort der Weltpolitik nur die Maske für sehr mächtige Interessen, die rücksichtslos entschlossen sind, die Flottenvorlage durchzusetzen, und – was nicht übersehen werden darf – dabei selbst wieder unter einem für ihre historische Rückständigkeit unerbittlichen Zwange stehen. Gerade dies hat die proletarische Opposition seit jeher vor der bürgerlichen voraus gehabt, dass sie sich nie mit der unfruchtbaren Defensive, nie damit begnügt hat, auf den papiernen Schein ihres Rechts zu pochen, sondern dass sie sich stets in die Politik ihrer Gegner hineinzudenken vermocht und die gegebene Situation nach allen Richtungen zu durchdringen gewusst hat, wodurch allein sie ihren Gegnern immer überlegen geblieben ist. Wenn die liberale Opposition sich begnügt zu sagen: Die Weltpolitik, die sich in den uferlosen Flottenplänen verkörpert, ist eine windige Projektenmacherei, so ist das ganz richtig, aber auch ganz von der Oberfläche geschöpft. Erst indem die proletarische Opposition prüft, woher diese windige Projektenmacherei kommt, indem sie sich über die ernsthaften Ursachen klar wird, die in noch so lächerlichen Wirkungen hervortreten, gewinnt sie den festen Boden, worauf sie der falschen und gegenwärtig mächtigen Weltpolitik die richtige und auf die Dauer siegreiche Weltpolitik entgegenzusetzen vermag.

Dieser ihrer altbewährten Methode ist die Sozialdemokratie in dem politischen Kampfe der letzten Monate treu geblieben, und ihre Organe haben das Schlagwort der Weltpolitik in allen möglichen Richtungen gründlich zerpflückt. Gleichwohl mag es nützlich sein, noch einmal die wesentlichsten Gesichtspunkte zusammenzufassen, um die es sich bei der sogenannten Weltpolitik handelt. Es würde jedoch ermüdend sein und zur Wiederholung oft schon gesagter Dinge zwingen, wenn wir alle die Redensarten der Flottenschwärmer der Reihe nach untersuchen wollten; wir ziehen es vor, einen kürzeren Weg einzuschlagen, indem wir die historische Entwicklung der kapitalistischen Weltpolitik in ihren großen Zügen verfolgen und nacheinander die Weltpolitik des kapitalistischen Absolutismus, die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals, die Weltpolitik der großen Industrie und die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus beleuchten. Auf diesem Wege brauchen wir die Redensarten des gegenwärtigen Wasserpatriotismus nur da mit einem Wort zu berühren, wo sie von den historischen Tatsachen totgeschlagen werden, und neben allen Annehmlichkeiten dieser summarischen Methode haben wir noch den Vorteil, klaren Einblick in die Ursachen zu gewinnen, aus denen sich sowohl die reaktionäre Weltpolitik des Deutschen Reichs wie die revolutionäre Weltpolitik des deutschen Proletariats erklärt.

II. Die Weltpolitik des kapitalistischen Absolutismus

Die moderne Weltpolitik begann mit dem 16. Jahrhundert, nachdem die Spanier im Jahre 1492 die neue Welt und die Portugiesen im Jahre 1498 den Seeweg nach Ostindien entdeckt hatten. Spanien und Portugal waren damals Staaten, die sich eben zu nationaler Einheit in der Form des Absolutismus zusammengeschlossen hatten, das heißt derjenigen Staatsform, deren die kapitalistische Produktionsweise in ihren ersten Entwicklungsstadien zu ihrer kräftigen Entfaltung bedurfte. Selbstverständlich aber war dieser Absolutismus noch immer reich mit feudalen Elementen durchsetzt; es gab noch keine bürgerliche Klasse, auf die gestützt der absolute Monarch die alten Feudalmächte des Adels und der Kirche niederwerfen konnte; ließen sie ihm nur den notdürftigen Spielraum, um den gebieterischen Forderungen seiner historischen Stellung gerecht zu werden, so fügte er sich gern ihrem noch immer sehr mächtigen und trotzigen Willen.

Mit dem Seewege nach Ostindien erschlossen sich den Portugiesen, mit der Entdeckung Amerikas den Spaniern märchenhafte Reichtümer, deren sie sich, soweit sie nicht den einfachen Seeraub vorzogen, in der Form eines streng monopolisierten Handels bemächtigten. Kein Fremder durfte sich in einer portugiesischen oder spanischen Kolonie, kein Schiff mit fremder Flagge in einem portugiesischen oder spanischen Gewässer sehen lassen. Der Papst als Stellvertreter Gottes teilte die Welt zwischen diesen beiden Mächten, und sie waren entschlossen, keinen Eindringling darin zu dulden. Es ist nun auch gar nicht zu leugnen, dass sie mit dieser Weltpolitik kolossale Erfolge erzielt haben, und in erster Reihe Spanien, das größere und volkreichere der beiden Länder. Eben noch von inneren Kriegen zerrissen, war es erst 1490, zwei Jahre vor der Entdeckung Amerikas, notdürftig zu einem Königreiche vereinigt worden; binnen weniger Jahrzehnte wurde es durch seine Weltpolitik ein Weltreich, worin die Sonne nicht unterging. Der spanische König Karl war auch deutscher Kaiser; er besaß die Niederlande und einen großen Teil Italiens, Mailand, Neapel, Sizilien, Sardinien; er schlug die Macht der Türken, damals die furchtbarste der Welt, auf allen Seiten zurück und demütigte die französische Monarchie, indem er ihr wertvolle Provinzen entriss und den französischen König gefangen im Triumph nach Madrid führte. Und nun gar außerhalb Europas! In Amerika erwarben die Spanier einen Länderumfang, der sechzig Breitengrade bedeckte und beide Tropen einschloss. Außer Mexiko, Zentralamerika, Venezuela, Neugranada, Peru und Chile eroberten sie Kuba, St. Domingo, Jamaika und andere Inseln. In Afrika gewannen sie Centa, Oran, Tunis und bedrohten die ganze Küste der Berberei. In Asien hatten sie Niederlassungen zu beiden Seiten des Dekans, sie gewannen einen Teil von Malakka und setzten sich auf den Gewürzinseln fest. Endlich verbanden sie ihre entferntesten Besitzungen durch die Eroberung der Philippinen und sicherten sich so eine Verbindung zwischen allen Teilen ihres ungeheuren Reichs, das die ganze Erde umgürtete.

Für die Weltpolitik dieses Weltreichs waren natürlich Waffen, Waffen und abermals Waffen nötig. Der Sohn Karls V., jener Philipp II., den unsere Leser aus Schillers „Don Carlos" kennen werden, war der erste Monarch, der auf den erleuchteten Gedanken verfiel, zugleich ein Heer und eine Flotte ersten Ranges zu unterhalten. Die Liebe des freien Mannes war ihm ein unbekannter Begriff; er wollte durch Ross und Reisige die steile Höh' sichern, worauf er über der bewohnten Welt thronte. Seine Schiffe raubten auf allen Meeren, seine Söldner heerten in allen Erdteilen. Besonders die spanische Kolonialpolitik begann mit Gräueln, wie sie bis dahin in der Geschichte noch nicht erhört gewesen waren. Doch sei gleich bemerkt, dass von diesen und überhaupt von Gräueln der Kolonialpolitik nicht weiter gesprochen werden soll. Das würde sich in unsrer „weltpolitischen" Zeit nicht schicken, und wir möchten nicht gern die Verachtung der „ethischen" Flottenprofessoren auf uns herabziehen. Zudem schrieb der preußische Historiker v. Treitschke schon vor dreißig Jahren, jede Kolonialpolitik sei voller Gräuel, und es werde nie zu entscheiden sein, welcher der europäischen Nationen in diesem zarten Punkte der Preis der Ruchlosigkeit gebühre. Seitdem haben wir auch eine deutsche Kolonialpolitik, ohne dass die Leist, Wehlan, Peters, Arenberg die Preisfrage Treitschkes leichter lösbar gemacht hätten. Sprechen wir also nicht von Moral, wie jene Pariser Grisette zu ihrem Freunde sagte.

Dagegen ist festzustellen, dass Philipp II. mit seinem Plane, zugleich eine Flotte und ein Heer ersten Ranges zu unterhalten, kläglich scheiterte, zum eignen Ruin, woran gar nichts gelegen gewesen wäre, aber auch zum Ruin eines edlen Kulturvolks, woran sehr viel lag. Die kleinen Niederlande schlugen den Weltdespoten dröhnend aufs Haupt, Frankreich zerbrach seine Landmacht, England seine Seemacht; siehe darüber die „unüberwindliche Flotte" Schillers, der ein „Weltbürger", aber deshalb beileibe kein „Weltpolitiker" war. Als Philipp II. im Jahre 1598 nach vierzigjähriger Regierung starb, hinterließ er neben einem entehrten Namen eine ungeheure Schuldenlast und ein ausgesogenes, in Elend, Schmutz und Unwissenheit hinsiechendes Volk, dessen Kopfzahl in dieser Zeit von zehn auf acht Millionen gesunken war. Das waren innerhalb hundert Jahren die Früchte der Weltpolitik, die der kapitalistische Absolutismus des 16. Jahrhunderts in dem klassischen Lande seiner Wirksamkeit getrieben hat, aber es war immerhin erst die Ernte eines Jahrhunderts. Seitdem sind noch drei Jahrhunderte gefolgt, in denen das Land der Calderón und Cervantes den Kelch des Elends und der Schmach bis zur Hefe leeren musste, in denen die spanische Geschichte die Geschichte eines Verfalls ohnegleichen gewesen ist, bis hinab zu unsern Tagen, wo Spanien mit einer demütigenden Niederlage endlich den Rest des alten Fluchs los wurde und nun vor der Aufgabe steht, in mühseliger Arbeit sich wieder auf die Höhe einer Kulturnation zu erheben.

Sprach man zur Zeit des letzten Spanisch-Amerikanischen Krieges mit einem liberalen Philister, so konnte man die salbungsvollsten Belehrungen darüber zu hören bekommen, dass der spanischen Nation ihr verdienter Lohn geworden sei, weil sie sich nie von der Herrschaft von Junkern und Pfaffen befreit habe. Nun ist es für keine Nation ein Genuss, unter der Herrschaft von Junkern und Pfaffen zu stehen, es sei denn etwa für die Nation der deutschen Philister, und wenn ein ehedem so kraftvolles und kühnes Volk wie die Spanier sich von dieser Herrschaft nicht befreit hat, so wird es wohl weniger an seinem guten Willen, als an einem zwingenden Grunde gelegen haben. Dieser Grund aber ist kein anderer als die Weltpolitik des kapitalistischen Absolutismus. Sie brach in einem Augenblick über das Land herein, wo die Feudalmächte des Adels und der Kirche zwar innerlich schon zum Untergange reif, aber äußerlich noch mächtig genug waren, die Früchte dieser Weltpolitik an sich zu reißen und nunmehr die Anfänge bürgerlicher Bildung und Kultur auszurotten, Ackerbau und Industrie zu zerstören, die aufkeimende Kraft der Städte zu brechen und eine Pöbelmasse von Bettlern und Schmarotzern, von Prahlhänsen und Raufbolden zu züchten, genug, einen Zustand der Unkultur herzustellen, den der englische Historiker Buckle mit den Worten kennzeichnet: „Für den König zu fechten und in den Kirchen zu beten war ehrenvoll, alles andere gemein und schmutzig."

Mit derselben Soldateska, die sich von fremden Nationen so oft die schönsten Prügel geholt hat, warf bereits Karl V. die Macht der spanischen Kommunen in der Schlacht bei Villalar1 nieder, und die Inquisition ergänzte diesen Sieg durch die Verwüstung der spanischen Städte. Noch verhängnisvoller erwies sich unter Philipp II. und dessen Nachfolgern die Ausrottung der Mauren, der kundigsten Ackerbauer und der gewerbfleißigsten Handwerker im Lande, in deren Händen sich die Baumwollen- und Zuckerkultur, die Papier- und Seidenindustrie befanden. Den ideologischen Vorwand lieferten die Pfaffen; die wirkliche Triebfeder aber war das Bestreben der Weltdespoten und ihrer junkerlichen Höflinge, alles auszurotten, was die Nation arbeitsam, unabhängig und deshalb rebellisch gegen ein Regiment von Faulenzern machen konnte. Als die Mauren vertrieben waren, entarteten Fabriken und Künste oder gingen gänzlich verloren, und ungeheure Strecken kulturfähigen Landes blieben unbebaut. Einige der reichsten Gegenden von Valencia und Granada verfielen so, dass es an Mitteln fehlte, auch nur die dünne, noch übriggebliebene Bevölkerung zu ernähren. Ganze Bezirke wurden plötzlich wüst und sind bis auf den heutigen Tag nie wieder bevölkert worden. Die Wüsteneien boten eine Zuflucht für Diebe und Schmuggler, die Nachfolger der gewerbfleißigen Einwohner, die früher dort gelebt hatten; von der Vertreibung der Mauren schreiben sich die organisierten Räuberbanden her, die seit jener Zeit die Geißel Spaniens wurden und von keiner Regierung mehr völlig ausgerottet werden konnten.

Ähnliche Resultate wie in Spanien zeitigte die Weltpolitik des kapitalistischen Absolutismus in Portugal. Die beiden Länder waren ihre typischen Stätten, weil sie sich in ihnen rein ausleben konnte; der heutige Zustand Spaniens und Portugals ist ihr historisches Denkmal. Jedoch beschränkte sich ihre barbarische Wirksamkeit nicht auf die Iberische Halbinsel, sondern sie trat im 16. Jahrhundert überall auf, wo ihr die Möglichkeit der Entfaltung gegeben war; nur dass sie in andern Ländern sich langsamer entwickelte, und, ehe sie ihr Totenreich errichten konnte, von der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals abgelöst wurde, der zweiten historischen Phase der modernen Weltpolitik.

III. Die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals

Siebzehntes Jahrhundert

Das 17. und das 18. Jahrhundert gehörten der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals: Das 17. sah ihre klassischen Vertreter in den Niederlanden und in England, das 18. in England und in Frankreich.

Das „beidlebige" Volk, wie die Niederländer bei Goethe heißen, hatte sich in dem Verfalle des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation frisch und kraftvoll erhalten, dank seiner günstigen Lage zwischen Land und Wasser, dank dem Gedeihen seiner Städte, die sich schon im 13. Jahrhundert ihre Freiheitsbriefe erkämpft hatten und sie trotzig zu behaupten wussten. Der kapitalistische Absolutismus kam erst mit der spanischen Herrschaft über sie und wurde nur ertragen, weil Karl V. die Niederlande in jeder Weise begünstigte. Als dann aber Philipp II. die Anfänge bürgerlicher Kultur wie in Spanien, so auch in Holland vernichten wollte, war diese Kultur genugsam erstarkt, um sich trotz des ungeheuerlichen Missverhältnisses der Kräfte nicht nur siegreich zu behaupten, sondern auch in unaufhaltsamem Siegeszuge das Erbe der spanischen Weltpolitik anzutreten.

Im Anfange des gewaltigen Ringens machten sich noch sehr stark feudal-nationale Gegensätze geltend; Graf Egmont war alles andre eher als ein Freiheitsheld im bürgerlichen Sinne des Worts. Aber am Ende siegte der holländische Kaufmann über den spanischen Junker und Pfaffen, weil seine wirksamste, ja seine entscheidende Waffe jener einheimische Gewerbefleiß war, der in Spanien ebenso brutal zerstört, wie in Holland sorgsam behütet wurde. Während der Kampf auf Leben und Tod in seinen höchsten Wogen ging, durfte Philipp II. nicht wagen, den holländischen Schiffen die spanischen Häfen zu sperren; da er die spanische Produktion ausgerottet hatte, musste er jeden Anker, jedes Tau, jeden Nagel von seinen Todfeinden kaufen, versteht sich zu Preisen, die auf die Dauer alle seine Gold- und Silberminen erschöpften. Bei den Holländern aber entwickelte diese profitable Praxis den Geist der bürgerlichen Handelspolitik. „Der Handel muss frei sein, überall, bis in die Hölle; wenn Mynheer Satan gute Rimessen zahlt, soll er pünktlich bedient werden", wurde zum Kernwort ihrer Kaufleute, jener frommen Calvinisten, deren religiösen Glaubenseifer der ideologische Historiker andächtig bewundert.

Das bürgerliche Handelskapital war über die junkerliche und pfäffische Torheit hinaus, die sich einbildete, die Arbeit der eignen Nation könne vernichtet werden, wenn ihre herrschenden Klassen nur über die Schätze fremder Weltteile geböten. Indem die holländischen Kaufleute die spanischen und portugiesischen Kolonien an sich rissen, hörten sie nicht auf, die holländische Industrie zu fördern, die Wollfabriken von Leyden, die Linnenbleichen von Haarlem, die mannigfachen Gewerbe, deren der Schiffsbau bedurfte, oder die nicht minder mannigfachen Gewerbe, die für die Verarbeitung der überseeischen Rohstoffe notwendig waren: Tabaks- und Drogenfabriken, Zuckersiedereien, Diamantschleifereien. Die fleißigen und intelligenten Arbeiter, die der kapitalistische Absolutismus aus andern Ländern vertrieb, fanden in Holland eine gastliche Stätte. Jeder Winkel des Landes summte wie ein fleißiger Bienenkorb; die Bodenkultur, die unzähligen Kanäle, die immer geschäftigen Mühlen, die endlosen Flotten von Barken, die großen und reichen Städte, die von unzähligen Masten starrenden Häfen machten aus Holland ein Land, das im 17. Jahrhundert seinesgleichen nicht hatte. Und mit dem bürgerlichen Gewerbefleiß hob sich mächtig die bürgerliche Wissenschaft; es sei nur an Spinoza erinnert oder an Hugo Grotius, der schon den Satz aussprach, dass die Arbeit der Rechtsgrund allen Eigentums sei.

Allein das bürgerliche Handelskapital findet seine historische Schranke darin, dass es die Arbeit der Nation zwar nicht mehr missachtet, aber in ihr doch noch nicht die alleinige Quelle des Völkerreichtums zu erblicken vermag. Die holländischen Kaufleute waren eben Kaufleute: Der Handelsprofit blieb der Moloch, dem sich schließlich alles beugen musste. Indem sie für sich freien Handel bis zur Hölle verlangten, kehrten sie gegen die übrigen Völker Europas einen engherzigen, krämerischen Monopolgeist hervor; alle andren Nationen „antasten", war auch einer ihrer Kernsprüche. Dadurch wurden sie gezwungen, eine ungeheure Land- und Seemacht zu unterhalten, die vollständig die Kräfte des kleinen Volks aufzehrte. Die Steuerlast wuchs so unerschwinglich an, dass sie die arbeitenden Klassen der Nation erdrückte; in jedem Gericht Fische, das in dem fischreichen Lande auf den Tisch des Handwerkers kam, steckten dreißig verschiedene Steuern. Und wie das Handelskapital durch seinen antagonistischen Charakter gezwungen wurde, den Reichtum des Landes zu vernichten, den zu fördern und zu schonen sein Interesse war, so zerstörte es sogar die Produkte der Kolonien um seines Profits willen; um die Preise der Kolonialwaren zu steigern, wurden ganze Schiffsladungen von Muskatnüssen in die Südersee geworfen und große Pflanzungen von Gewürzbäumen auf den Molukken verbrannt; diese verruchte Praxis, die später dem Sozialismus in Fourier einen seiner genialsten Denker erweckt hat, war den holländischen Kaufleuten schon eine liebe Gewohnheit. Unter ihrem entarteten Regiment sank Holland, noch ehe auf seinem Boden die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals ihre historische Expansionskraft ganz entfaltet hatte.

Wie die spanisch-portugiesische Kolonialpolitik durch Junker und Pfaffen, so wurde die holländische durch Kaufleute geleitet. Der Ostindischen Kompanie fiel seit 1601 die Ausbeutung der asiatischen, der Westindischen seit 1621 die Ausbeutung der amerikanischen Küsten zu. Jedoch nur die Ostindische Kompanie vermochte die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals typisch auszugestalten; ihre Aufgabe war, die Märkte kulturell hochstehender Völkerschaften zu erobern und zu monopolisieren; sie brachte nicht nur die indischen Produkte nach Holland, sondern auch die holländischen Produkte nach Indien. In Amerika dagegen, wo arme und unkultivierte Bevölkerungen auf ungeheuren Länderstrecken hausten, kam das kleine und schnell einem hart beschränkten Kaufmannsregiment verfallene Volk der Niederlande nicht einmal immer gegen die spanischen und portugiesischen Niederlassungen auf, die in feudaler Weise auf der Zwangsarbeit versklavter Eingeborner organisiert waren, geschweige denn, dass es durch die freie Arbeit von Ansiedlern aus dem Mutterlande zu kolonisieren verstand. Die Westindische Kompanie lebte wesentlich von Seeraub und Schmuggel, der primitivsten Form der handelskapitalistischen Weltpolitik. Darin leistete sie zwar Erkleckliches; innerhalb zwölf Jahren sandte sie achthundert Kaperschiffe in die amerikanischen Meere, aber als ihr 1635 durch einen Glückszufall Brasilien zufiel, ließ sie sich bald wieder durch die Portugiesen hinausjagen, und in Nordamerika verkümmerten ihre Niederlassungen an den Mündungen des Hudson und des Delaware. Neu-Amsterdam gedieh erst, als es umgetauft wurde in Neuyork.

Erst in England gelangte die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals auf ihre volle Höhe. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts begann England die Niederlande zu überflügeln, und von der Schnelligkeit dieser Entwicklung gibt es nur ein ungefähres Bild, wenn sich der holländische Handel 1650 zum englischen verhielt wie 5:1,1750 aber wie 6:7. Holland gebot noch lange über das größere Geldkapital und auch die günstigere geographische Lage, die reichere Küstengliederung Englands erklärt nicht so sehr viel. Ungleich entscheidender war, dass, als England seine Weltpolitik begann, die nationale Arbeit, Ackerbau, Handwerk, Manufaktur, schon viel zu tiefe Wurzeln geschlagen hatte, um jenes hypertrophische Aufschießen des Großhandels zuzulassen, das in Holland einen so glänzenden Aufschwung und einen so schnellen Verfall herbeigeführt hatte; ein zahlreicheres Volk stand auf festerem, fruchtbarerem, geräumigerem Boden, in dessen Schoße mächtige Eisen- und Kohlenlager einer Zukunft entgegen reiften, vor deren Reichtümern alle Schätze fremder Weltteile verbleichen sollten. Die holländische Weltpolitik begann damit, dass waghalsige Kaufleute das Joch eines fremden Despoten zerbrachen, um dann die eigene Nation auszuwuchern, die englische aber damit, dass kräftige Landsassen und Handwerker das Joch eines heimischen Despoten zerbrachen und die trotz alledem unzerstörbaren Grundmauern der bürgerlichen Freiheit errichteten.

Karl I. von England war auf die Laune des kapitalistischen Despotismus verfallen, zugleich eine Flotte und ein Heer ersten Ranges zu unterhalten. Da der in gesetzmäßigen Formen versuchte Widerstand der Bevölkerung durch seine verbrecherischen Handlungen vereitelt wurde, so schlugen die Engländer in gerechter Notwehr dem Despoten den unbelehrbaren Kopf ab und sicherten sich für alle Zukunft dagegen, dass je wieder ein englischer König gegen den Willen des Parlaments eine Flotte oder ein Heer rüsten könne. Eine souveräne Volksvertretung, so schlecht sie sonst sein mag, und in England ist sie oft schlecht genug gewesen, kann nie darauf verfallen, das Volk mit Molochs Doppelgeißel zu Land und zu Wasser zu züchtigen. Die Engländer begnügten sich fortan, wie es der insularen Natur ihres Landes entsprach, mit einer Flotte ersten Ranges, die ein mächtiges Werkzeug ihrer Weltpolitik geworden ist, aber nicht minder dem Schutze ihrer bürgerlichen Freiheit gedient hat, was noch dem Heere keiner kontinentalen Militärmacht hat nachgesagt werden können. Nicht aber ihrer Flotte, sondern ihrer bürgerlich freien Verfassung verdankten die Engländer, dass sie den Schlussstein in die Weltpolitik des kapitalistischen Handelskapitals fügen, dass sie nicht bloß Handels-, sondern auch Ackerbaukolonien gründen konnten, dass ihre Kolonien nicht nur von zehrender Ausbeutung, sondern auch von schaffender Arbeit lebten. Mit der Besiedlung des nördlichen Amerika vollbrachten sie die für die menschliche Gesittung folgen- und segensreichste Tat, die von der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals überhaupt vollbracht worden ist.

Gibt es eine Tatsache, die durch eine kapitalistische Kolonialpolitik von vier Jahrhunderten unwiderleglich bewiesen wird und die, ehe es eine deutsche Kolonialpolitik gab, auch von allen bürgerlichen Historikern übereinstimmend anerkannt wurde, so ist es die, dass ein Staat mit bürgerlich unfreier Verfassung keine Ackerbaukolonien gründen kann. Die Ursachen davon hat Treitschke, der offizielle Historiker des preußisch-deutschen Reichs, ebenso einleuchtend wie kurz auseinandergesetzt, indem er ausführte, aristokratische Regierungen könnten keine Ackerbaukolonien gründen, einerseits, weil alle Lebensformen solcher Kolonien auf die politische und soziale Freiheit drängten, andererseits, weil der Geist des Mutterlandes sich stets in den Kolonien zur Einseitigkeit steigere; wer werde denn die Heimat verlassen, um mit der Axt die Wildnis zu roden, wenn er draußen den Druck, dem er entfliehen wolle, nur noch verstärkt wiederfinde? Hier ist der „Prophet des Reichs" allerdings ein Prophet gewesen; wer möchte wohl dem Deutschland der Puttkamer, Koller, Recke, Rheinbaben den Rücken kehren, um als Ackerbauer unter die Fuchtel der Leist, Wehlan, Peters, Arenberg zu geraten? Also die Tatsache, dass bürgerlich unfreie Staaten niemals Ackerbaukolonien gründen können, ist von der bürgerlichen Gelehrsamkeit stets anerkannt und namentlich mit dem englischen Beispiele nach der positiven, mit dem französischen nach der negativen Seite beleuchtet worden. Ehe wir jedoch die französische Kolonialpolitik betrachten, sei eine kurze Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Fanfarenbläsern der deutschen Weltpolitik gestattet.

Da sie einsehen, dass mit den paar Sand- oder Sumpfwüsten, die das deutsche Kolonialreich so glorreich repräsentieren, nicht viel Staat zu machen ist, so reden sie ein langes und breites von der Übervölkerung des Deutschen Reichs, wodurch die Gründung von Ackerbaukolonien notwendig werde. Wir sehen nun ganz ab von dem malthusianischen Gespenst der Übervölkerung, das, von der Wissenschaft längst verscheucht, dennoch oder gerade deshalb an deutschen Hochschulen herum spukt. Wir sehen auch davon ab, dass auf der Erde kein Raum mehr ist für Ackerbaukolonien, wo deutsche Bauern arbeiten könnten; vielleicht setzen sich die Herren Wagner, Sombart und Wenckstern – ein neuer Kolumbus und neue Gebrüder Pinzons – auf drei Karavellen und entdecken neue Erdteile; was wäre dem verzehrenden Tatendrange dieser Wasserpatrioten nicht alles zuzutrauen! Aber nach Erledigung dieser Vorfrage bliebe immer noch die betrübende, aber entscheidende Tatsache übrig, dass jener, um mit Marx zu sprechen, „mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“2, den das preußisch-deutsche Reich darstellt, überhaupt keine Ackerbaukolonien gründen kann.

Wo die Arbeiter mit dem Gerede über solche Kolonien behelligt werden, sollten sie antworten: „Schön, gehen wir gleich ans Werk und schaffen wir die Vorbedingung, die ihr selbst in euren gelehrten Werken hundertmal als ganz unerlässlich hingestellt habt. Helft uns – aber nicht bloß mit Redensarten! –, den zweiten Teil des Erfurter Programms3 ausführen, oder, wenn euch das zu viel ist, die deutsche Krone in die englische Krone und den deutschen Reichstag ins englische Parlament verwandeln. Dann lohnt sich ja erst eine sachliche Unterhaltung über Ackerbaukolonien, gleichviel, was dabei herauskommen wird." Gehen die Schwärmer für Ackerbaukolonien auf diesen ganz selbstverständlichen Vorschlag nicht ein, so können die Arbeiter ihnen ruhig den Rücken kehren als demagogischen Schwätzern, die das Proletariat aus schnöden Gründen und für schnöde Zwecke zu prellen beabsichtigen.

IV. Die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals

Achtzehntes Jahrhundert

Anders als in Holland und England gestaltete sich die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals in Frankreich. In diesem an natürlichen Hilfsquellen so reichen Lande hatte das Königtum mit Hilfe einer verhältnismäßig stark entwickelten Bourgeoisie die feudalen Stände niedergeworfen, und der schwere Kampf, den es mit dem spanischen Weltdespoten führen musste, hatte es gezwungen, seine wirtschaftliche Politik nach dem Satze Colberts einzurichten, dass im Staate nichts Köstlicheres sei als die Arbeit der Menschen.

Jedoch dies Blatt wandte sich, als die Hegemonie über den europäischen Kontinent um die Mitte des 17. Jahrhunderts von Spanien auf Frankreich übergegangen war. Im Vollgefühle seiner neuen Machtstellung wurde der junge König Ludwig XIV. vom Weltmachtskitzel erfasst; unfähig, wie dergleichen Leute sind, die historisch treibenden Kräfte des nationalen Lebens zu erkennen, versöhnte er sich mit den feudalen Ständen, die nun gern zu Hofe gingen, um den Preis, dass ihnen die arbeitenden Klassen des Volks zur beliebigen Ausbeutung überlassen wurden. Die Schmarotzer des Hofadels zerstörten für die unsinnigsten Verschwendungszwecke den erarbeiteten Wohlstand der Nation, unterstützt von den Schmarotzern des Hofpfaffentums, auf dessen Betrieb Ludwig XIV. die gewerbfleißigsten Bewohner des Landes, die Hugenotten, vertrieb, ganz wie Philipp II. die Mauren vertrieben hatte. Der Despot selbst gaukelte derweil auf dem Welttheater als Weltpolitiker. Obgleich er die stärkste Landmacht besaß, wollte er natürlich auch die stärkste Flotte haben. Liebedienerische Dichter und Gelehrte priesen diesen heroischen Entschluss über den Schellendaus. So langatmig ihre Litaneien, so kurz war die Geschichte dieser Flotte. Im Jahr 1663 besaß Ludwig einige wenige Kriegsfahrzeuge, im Jahr 1673 aber schon 60 Linienschiffe und 40 Fregatten, im Jahr 1683 hatten sich diese Ziffern verdoppelt, und im Jahr 1693 wurde die ganze Herrlichkeit von den vereinigten Engländern und Holländern in der Seeschlacht von La Hogue zerstört. Es war der erste, nie mehr verwundene Stoß, den Ludwig XIV. Weltmachtspolitik erhielt; es ging nun unzweifelhaft mit ihm bergab, und als er im Jahre 1715 starb, hinterließ er, wie Philipp II., einen entehrten Namen und ein bettelarmes Land.

Leider wird die Befriedigung, die man heute noch über dies Walten einer raschen Nemesis empfinden mag, gar sehr getrübt durch die Erinnerung an die furchtbaren Leiden, womit die arbeitenden Klassen Frankreichs die Abenteuer des „Königs-Sonne" büßen mussten. Aus den unzähligen Zeugnissen, die darüber vorliegen, seien nur zwei angezogen, nicht die krassesten, aber die glaubwürdigsten. Der berühmte Sittenschilderer La Bruyere, der Lehrer eines bourbonischen Prinzen, schreibt: „Man sieht gewisse wilde Tiere, männliche und weibliche, auf den Feldern zerstreut, schwarz oder braun, nackt und ganz verbrannt von der Sonne. Sie sind auf die Erde niedergebeugt und graben und wühlen sie um mit unermüdlicher Hartnäckigkeit. Sie haben etwas wie eine artikulierte Stimme, und wenn sie sich erheben, so zeigen sie ein menschliches Gesicht. Und in der Tat, es sind Menschen. Des Nachts ziehen sie sich in Höhlen zurück und leben dort von schwarzem Brot, Wasser und Wurzeln." Und einer von Ludwigs eignen Marschällen, der berühmte Festungsbaumeister Vauban, richtete am Vorabend seines Todes einen erschütternden, natürlich mit dem schnödesten Undank belohnten Warnungsruf an den König. Es heißt in seiner Denkschrift: „Das kleine Volk ist in solchem Elend, dass es oft seinen Topf bloß zur Hälfte und oft gar nicht salzt, weil das Salz zu teuer ist… Seit mehreren Jahren habe ich mich bemüht, nachzuforschen, und habe dabei sehr wohl bemerkt, dass in der gegenwärtigen Zeit fast der zehnte Teil des Volks auf den Bettel angewiesen ist und wirklich bettelt. Von den neun übrigen Teilen sind fünf nicht in der Lage, jenen Almosen zu geben, weil sie selbst fast in die gleich unglückliche Stellung geraten sind. Von den andern vier Teilen sind drei in sehr schlechter Lage, mit Schulden und Prozessen belastet. Zum letzten Zehntel rechne ich den Adel und die Geistlichkeit, die Militär- und Zivilbeamten, die Kaufleute und die Bürger, die von ihren Renten oder sonst in guten Verhältnissen leben. Dies sind nicht hunderttausend Bürger, und ich glaube nicht zu lügen, dass es nicht zehntausend große oder kleine Familien gibt, von denen man sagen kann, dass sie sich in guten Verhältnissen befinden …

Die französische Kolonialpolitik kam natürlich nie auf einen grünen Zweig. Die ebenso beschränkten wie hochnäsigen Junkersprösslinge, die in den fetten Sinekuren der Kolonialverwaltung ihre gewohnte Tagedieberei fortsetzten, wurden in Asien von den englischen und holländischen Kaufleuten übers Ohr, in Amerika von den englischen Kolonisten auf die Nase gehauen. Die hungernde Masse der Bevölkerung konnte nicht auswandern, und wenn sie es ja konnte, so dachte sie nicht daran, das schimpfliche Junkerregiment in Frankreich mit dem noch schimpflicheren Junkerregiment in den französischen Kolonien zu vertauschen. Die neuen ungeheuren Opfer, die dem Lande auferlegt wurden, um mit Kriegsheeren und Kriegsschiffen die amerikanischen Kolonien zu schützen, führten nur zu neuen schmachvollen Niederlagen. „Dem Ackersmann gehört die Welt, nicht dem Kanonier", sagt der englische Historiker Carlyle darüber. In den englisch-französischen Kriegen um das nordamerikanische Festland griff übrigens auch der preußische Staat in die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals ein, zum ersten Male, wenn wir, wie billig, von einem komischen Spielzeug des sogenannten Großen Kurfürsten absehen. Es muss nun unsere Wasserpatrioten aufrichtig betrüben, dass der alte Fritz bei der ersten Probe weltpolitischer Genialität ganz auf die falsche Seite geriet; freilich werden sie den Unglücklichen damit entschuldigen, dass er noch keine Gelegenheit hatte, ein Kolleg bei den heutigen Flottenprofessoren zu belegen.

Als nämlich vorm Ausbruch des Siebenjährigen Krieges die französische Regierung um die preußische Waffenhilfe gegen England warb und als Preis die westindische Insel Tobago bot, ein herrliches Kleinod, etwa wie Kamerun oder Togo, antwortete der alte Fritz, wie er selbst in seinen Memoiren erzählt: „Na, ihr meint wohl die Insel Barataria, wo ich den Sancho Pansa spielen soll?" Er schloss vielmehr mit England ab, und obgleich er nicht den armseligsten Kahn besaß, hat die Art, wie er die französischen Junker bei dem thüringischen Dorf Roßbach auf die Hosen klopfte, einen wesentlichen und vielleicht den wesentlichsten Anteil daran, dass Frankreich von dem nordamerikanischen Kontinente gefegt wurde. Beim Abschluss des Friedens war, wie Herr Koser, der gegenwärtige Direktor der preußischen Staatsarchive, in seiner Biographie des Königs Friedrich schreibt, „Frankreichs Kriegsmarine vollständig vernichtet, sein überseeisches Gebiet zum allergrößten Teil verloren, seine Kriegführung zu Lande so untüchtig, dass Choiseul im Geist den Feind schon auf französischem Boden sah". Wenn Frankreich gleichwohl nicht seinen gesamten Kolonialbesitz verlor, sondern Bruchstücke davon zurückerhielt, so war das teils dem Umstände geschuldet, dass England, wie Koser sagt, „den entscheidenden Wert auf die Begründung seiner Alleinherrschaft in Nordamerika legte", teils aber auch der Unfähigkeit des englischen Ministeriums Bute; die französischen Minister gestanden selbst, dass sie aus Pitts harter Hand den Frieden nimmermehr zu verhältnismäßig so glimpflichen Bedingungen erhalten hätten.

Mit der englischen „Alleinherrschaft in Nordamerika" hatte es nun aber auch seinen eigenen Haken. Die Ackerbau- oder Arbeitskolonien, so sehr sie in jeder Beziehung über den Handels- oder Ausbeutungskolonien stehen mögen, leiden doch auch an einem sonderbaren Dilemma. Entweder gedeihen sie nicht, und dann ist überhaupt Hopfen und Malz an ihnen verloren, oder sie gedeihen, und dann ist ihr erstes Beginnen, dem Mutterlande Konkurrenz zu machen. Heute wissen das die Engländer sehr gut; deshalb lassen sie ihren Ackerbaukolonien die vollkommenste Selbstverwaltung und gestatten ihnen selbst den Zollkrieg gegen das Mutterland. Aber ehe das Kind das Feuer scheuen lernte, musste es sich erst verbrennen. Kaum hatten die nordamerikanischen Kolonien der englischen Regierung geholfen, das französische Junkerpack ins Meer zu werfen, als sie kalkulierten, dass gar keine Oberherrschaft noch viel besser sei als eine noch so milde Oberherrschaft; sie machten ihren Unabhängigkeitskrieg und gründeten die Vereinigten Staaten.

Dieser Krieg gab dann das Signal zur großen französischen Revolution. Die französische Bourgeoisie warf endlich das Despoten- und Junkerjoch ab, aber nun hatte sie es sofort zu tun mit der Handelseifersucht der englischen Bourgeoisie, die keinen Augenblick zögerte, in dem uns schon bekannten Geiste Mynheer Satan pünktlich zu bedienen, wenn er gute Rimessen zahlte, oder, mit andern Worten, den feudalen Kontinent mit Gold zu überschwemmen, wenn er gegen das revolutionäre Frankreich mobil machte, wozu er natürlich schon von sich selbst aus alle Neigung hatte. Um sich vor der erdrückenden Übermacht zu retten, schmiedete sich die französische Bourgeoisie ein scharfes Schwert in der militärischen Diktatur Napoleons. Es kam die Zeit, wo zwo gewaltige Nationen rangen um der Welt alleinigen Besitz, wo der Franke seinen ehernen Degen in die Waage der Gerechtigkeit warf und der Brite seine Kriegsflotten um den Erdball streckte. Man wird verstehen, dass wir als gute Patrioten gleich nach der heute modischen Art unsren Dichter verbessern; Schiller spricht nämlich nicht von Kriegs-, sondern von Handelsflotten; es ging dem armen Kerl wie dem alten Fritz, er konnte auch noch nicht die Vorlesungen unserer Flottenprofessoren hören, und so lebte er in dem unseligen Wahne, dass die englische Macht in der Handels-, nicht aber in der Kriegsflotte beruhe.

Und nun begegnet uns gleich noch ein dritter dummer Teufel in der Person des ersten Napoleon. Der Kriegsminister v. Goßler belehrte vor einiger Zeit den Reichstag, Napoleon sei am Mangel einer großen Flotte umgekommen. Hätte er im Krieg mit Spanien die Küste blockieren können, so hätten die Engländer nicht ungehindert Material und Mannschaften nach Spanien geworfen, und ebenso hätte Napoleon im Besitze einer Flotte den Kampf gegen Russland auf einer ganz anderen Operationsbasis beginnen können. Jawohl, hätte! Als ob ihm bei Abukir niemals eine sogar überlegene Flotte von der englischen Flotte vernichtet, als ob ihm damit nicht eine drei Weltteile umspannende Kombination, wie der preußische Historiker v. Sybel sagt, in ein waghalsiges und misslungenes Abenteuer verwandelt worden wäre. Als ob ihm bei Trafalgar nicht abermals eine große Flotte zerschmettert worden wäre, worüber der preußenfreundliche Historiker Häusser sagt: „Es gab auf ein Menschenalter hinaus keine französische Seemacht mehr; die Flotte, die England sollte erobern helfen, schwamm in Trümmern um die andalusische Küste, und die britische Herrschaft auf den Meeren hatte in der alten Welt keinen Rivalen mehr." Dies ist der historische Sachverhalt, wie er ehedem, als es noch keine deutsche Flotten- und Kolonialpolitik gab, sogar von preußischen Professoren und in preußischen Schulen gelehrt wurde. Napoleon hat nicht das Flottenbauen vergessen, sondern im Flottenbau mehr als ein dickes Haar gefunden. Deshalb gab er es auf und suchte England durch die Absperrung des Kontinents gegen englische Waren auszuhungern, was sogar preußische Kriegsminister wissen könnten, da das die Kontinentalsperre verhängende Dekret Napoleons aus Berlin datiert ist. Nachdem Napoleon die zerschmetternde Kraft der Französischen Revolution gegen den kontinentalen Feudalismus gekehrt und namentlich uns Deutschen die gar nicht genug zu schätzende Wohltat erwiesen hatte, bei Jena das preußische Junkertum kurz und klein zu schlagen, ist er nicht daran gescheitert, dass er eine große Flotte zu bauen vergaß, sondern umgekehrt daran, dass er ein Weltreich gründen wollte wie Philipp II. und Ludwig XIV. So hat der geniale Erbe der Französischen Revolution ein nicht minder trauriges Ende gefunden als diese verächtlichen Toren von Despoten.

Aus den Kriegen um der Welt alleinigen Besitz ging die englische Nation siegreich hervor, als Beherrscherin der Meere, aus keinem anderen Grunde, als weil sie die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals in allen ihren historischen Möglichkeiten am konsequentesten und rationellsten auszubilden verstanden hatte. Allein dieselben historischen Umstände, die ihr diesen Erfolg ermöglicht hatten, trieben auch über das nunmehr erreichte Ziel hinaus, und in England selbst erwuchs aus der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals die Weltpolitik der großen Industrie, die höchste und reinste Form der kapitalistischen Weltpolitik.

V. Die Weltpolitik der großen Industrie

Hatte die englische Nation die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals auf den Gipfel zu führen verstanden, weil sie die nationale Arbeitskraft am besten zu schätzen und [zu] schonen wusste, so entfaltete sich aus ihrer geschätzten und geschonten Arbeitskraft die große Industrie. Diesen historischen Prozess im Einzelnen darzustellen ist hier um so überflüssiger, als er den klassenbewussten Arbeitern längst aus den Schriften von Marx und Engels bekannt ist. Es genügt, den eigentümlichen Unterschied zwischen der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals und der Weltpolitik der großen Industrie hervorzuheben.

In noch schwankender, aber doch bezeichnender Weise ist dieser Unterschied von einem englischen Schriftsteller gekennzeichnet worden, den Marx im „Kapital" zitiert, und zwar wie folgt: „Kapital flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel."4 In diesen Zeilen ist der Unterschied zwischen Handels- und Industriekapital nicht hinlänglich klar ausgedrückt; das großindustrielle Kapital ist auch nicht blöde, um eines Profits willen, der noch lange keine hundert Prozent zu betragen braucht, alle menschlichen Gesetze mit Füßen zu treten, wofür allein schon die Geschichte der Frauen- und Kinderarbeit im 19. Jahrhundert die überwältigendsten Beweise liefert. Aber richtig ist allerdings: Das großindustrielle Kapital flieht Tumult und Streit, während das bürgerliche Handelskapital Tumult und Streit encouragiert. Ganz mit Recht haben bürgerliche Historiker das 17. und 18. Jahrhundert als das Zeitalter der Handelskriege bezeichnet; das Handelskapital ist kriegerisch und bedarf großer militärischer Machtmittel; wären unsere Flottenschwärmer nur so ehrlich, offen zu gestehen, dass sie Deutschland nach Art der französischen Ludwige ruinieren wollten, so könnten wir ihnen das Lob historisch-logischer Konsequenz nicht versagen.

Dagegen ist leicht einzusehen, weshalb das industrielle Kapital ängstlicher Natur ist, weshalb es Tumult und Streit flieht. Es ist endlich hinter die einfache Wahrheit gekommen, dass die Arbeit die einzige und unerschöpfliche Quelle dauernden Reichtums ist, die Arbeit, die durch Tumult und Streit nur verwüstet wird; es produziert unter so günstigen Bedingungen, dass ihm unendlich viel mehr daran liegt, in andern Nationen Käufer seiner Waren zu finden, als ihnen den Schädel einzuschlagen, in andern Erdteilen die Eingeborenen konsumfähig zu machen, statt sie mit Gewalt oder List um ihre Naturprodukte zu prellen. Führt es ja noch Kriege, so nicht um Eroberungen zu machen, sondern um die Schranken des freien Handels niederzubrechen. Freihandel und Frieden schreibt es auf seine Fahne. Gleich sein erster Theoretiker, Adam Smith, spricht ebenso geringschätzig über Kolonien, wie er die Arbeit als die Quelle des Völkerreichtums feiert. Ganz in demselben Sinne sagte der englische Minister Disraeli, der bekannte imperialistische Sozialist, also nicht einmal ein schwärmerischer Freihändler: „Die Kolonien sind Mühlsteine um unseren Hals." Die drei Kriege, die England 1840,1856 und 1860 siegreich gegen China führte, hatten nur den Zweck, das chinesische Reich dem Handel aller Nationen zu öffnen; einzig im ersten wurde noch ein Hafenplatz erworben, die beiden andern, in denen Frankreich der Bundesgenosse Englands war, begnügten sich mit der Sicherung freien Handels in gewissen Plätzen. Wie aus diesem Hand-in-Hand-Gehen der alten Nebenbuhler schon von selbst einleuchtet, brach die Weltpolitik der großen Industrie sich überall Bahn, wo sich die große Industrie entwickelte; die letzte Kolonialgründung alten Stils war das Testament, das die französischen Ludwige im Augenblick, wo sie für immer verjagt wurden, noch der französischen Nation aufhalsten, jenes Algier, das dem französischen Staate seit 1830 fünf Milliarden gekostet hat, andrer schweren Schäden nicht erst zu gedenken.

Die Weltpolitik der großen Industrie hat zum ersten Mal enthüllt, welche ungeahnten Kräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummern: Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervor gestampfte Bevölkerungen – man lese nur die beredte Schilderung des Kommunistischen Manifestes5! Freilich nannte sich die Theorie dieser Weltpolitik – Manchestertum. Allein so verrufen das Schlagwort bei den deutschen Arbeitern sein mag, sowenig ist es die Art der deutschen Arbeiter, sich durch Schlagworte ins Bockshorn jagen zu lassen. Als ihnen vor zwanzig Jahren ihre Abneigung gegen das Manchestertum zum Narrenseil gedreht werden sollte, sagte der Züricher „Sozialdemokrat" den Bismärckischen Schlaumeiern kurz und treffend: Ist's euch solch Gräuel, uns Schulter an Schulter mit dem Manchestertum zu erblicken, nun zum Teufel, so treibt nicht eine Reaktionspolitik, die noch um ganze Menschenalter hinter das Manchestertum zurückgeht. Das Kraftwort ist heute wieder sehr am Platze gegenüber den patriotischen Weltpolitikern.

Es ist unbillig, das Manchestertum nach den deutschen Manchesterleuten zu beurteilen. Sie waren immer, auch in ihrer verhältnismäßig frischesten Zeit, verwaschene Kopien nicht einmal des englischen Originals, sondern der auch schon verwaschenen französischen Kopie. Wer das Manchestertum in der ihm eigentümlichen historischen Bedeutung kennenlernen will, der lese sein bedeutendstes Geschichtswerk, Buckles „Geschichte der Zivilisation in England". Soviel sich vom Standpunkt des historischen Materialismus fast gegen jede Seite dieser historischen Darstellung einwenden lässt, so glänzend sticht sie ab von der landläufigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, die, wie Buckle selbst sagt, „über den unbedeutenden Geschichten von Königen, Höfen, Diplomaten, Schlachten und Belagerungen" die für die menschliche Kultur entscheidenden Tatsachen der Geschichte vergisst. Es ist sehr leicht, in dem monumentalen Bau verwitternde Steine auszuspüren, es ist noch viel leichter, den praktischen Manchesterleuten, etwa einem Cobden, diesen oder jenen Widerspruch, diesen oder jenen Rückfall in überlebte Anschauungen nachzuweisen – trotz alledem bleibt es dabei, dass, wer das Manchestertum überwinden will, sich zunächst einmal mit dem durchdringen muss, was es historisch geleistet hat.

Gerade ihre Größe ist der Weltpolitik der großen Industrie zum Verhängnis geworden. Indem sie kolossalere und massenhaftere Produktivkräfte schuf als alle vergangenen Menschengeschlechter zusammengenommen, rüttelte sie ungebärdig an den Schranken der bürgerlichen Gesellschaft, rief sie die Epidemie der Überproduktion hervor, worin diese Gesellschaft verkommt, weil sie zu viel Zivilisation, zu viel Lebensmittel, zu viel Industrie, zu viel Handel besitzt, führte sie den antagonistischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise auf seinen einfachsten und klarsten Ausdruck zurück, auf den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der nur enden kann, sei es mit dem Siege des Proletariats oder mit der Rückbildung der Zivilisation in die Barbarei. Sobald die europäische Bourgeoisie diese Lage der Dinge erkannte, zögerte sie keinen Augenblick, ihre Wahl zu treffen. Sie gab die Parole aus: Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! Sie löschte auf ihrer Fahne den Freihandel und den Frieden, sie schrieb darauf das Monopol und den Krieg. Die Weltpolitik der großen Industrie schlug um in die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus.

Es hieße den deutschen Arbeitern schmeicheln, wenn man es besonders an ihnen rühmen wollte, dass sie auf diesen faulen Zauber niemals hineingefallen sind, dass sie immer die Vogelsteller ausgelacht haben, die ihnen einreden wollen, um des Proletariats willen habe die europäische Bourgeoisie mit dem Manchestertum gebrochen. Sie wussten ganz genau, dass die Sache umgekehrt lag. Die Weltpolitik der großen Industrie, eben weil sie die letzten Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise zog und eine Fülle von Produktivkräften auslöste, die nur in einer höheren Form der gesellschaftlichen Organisation sich entfalten können, bot den günstigsten Boden für den Emanzipationskampf des Proletariats. Diesen Boden zu zertrümmern war und ist der stärkste Anstoß zur Weltpolitik des krachenden Kapitalismus. Reichstag und Flotte wie Bruder und Schwester nebeneinanderzustellen, mag beliebiges Feuilletongerede sein; nach ihren historischen Taufscheinen sind Flottenvorlage, Getreidezölle, Sozialistengesetz echte Geschwister.

Nichts törichter auch, als England für die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus verantwortlich zu machen. England hat seinen voll bemessenen Anteil an allen Gräueln der kapitalistischen Produktionsweise, aber es hat nicht freiwillig und nicht zuerst das Signal zum Rückzug von der Zivilisation zur Barbarei gegeben. Englands Arbeiterschutzgesetzgebung beschämt noch immer jedes andere Land mit kapitalistischer Produktionsweise; die für den Emanzipationskampf des Proletariats unentbehrlichen Waffen, wie Freizügigkeit, Koalitionsrecht, Press- und Vereinsfreiheit, die alle in Deutschland noch jeden Tag von frechen Händen angetastet werden, sind in England vor jedem Attentat sichergestellt. Auch an der Freihandels- und Friedenspolitik der großen Industrie hat England am längsten festgehalten, trotz alledem, auch trotz des Burenkriegs. Es sind noch nicht dreißig Jahre her, als Treitschke höhnte: „Wo einst England lag, da klafft heute eine ungeheure Lücke im Völkerleben … Vielleicht versammelt sich einst noch ein mitleidiger europäischer Kongress, der das Inselreich wie Belgien und die Schweiz für neutral erklärt und der Meerkönigin ermöglicht, das nutzlose Spielzeug ihrer Kriegsflotte an den Meistbietenden zu verkaufen." Und heute verlangen die mordspatriotischen Nachbeter Treitschkes, dass die deutsche Arbeiterklasse weißgeblutet werden soll, um eine Riesenflotte gegen die ewige Bedrohung Deutschlands durch die englische Riesenflotte zu bauen!

Jedoch der ganze Umfang dieses Widersinns lässt sich erst erkennen, wenn wir die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus auf ihren Ursprung und ihr Wesen näher geprüft haben werden.

VI. Die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus

Wir sahen: Als die Weltpolitik der großen Industrie die letzten Konsequenzen der kapitalistischen Produktionsweise zog und sie zum rettenden Sprung in die sozialistische Produktionsweise drängte, erfand sich der krachende Kapitalismus seine eigene Weltpolitik. Der aber diesen Wechselbalg aus der Taufe hob, war nicht der bürgerlich freieste Staat Europas, sondern der Hort der europäischen Reaktion, war nicht England, sondern Russland.

Wie so viele, noch so geheiligten Überlieferungen der Politik, ist auch das Testament Peters des Großen durch die großindustrielle Entwicklung zerrissen worden. Ob nun erfunden oder nicht, so war die berüchtigte Urkunde in jedem Fall die richtige Kodifikation der russischen Politik, wie sie seit Peter und selbst schon seit Iwan dem Schrecklichen getrieben worden ist, der Politik nämlich, Europa einem asiatischen Despotismus zu unterwerfen, der die Waffen der europäischen Zivilisation seinen Eroberungszwecken dienstbar zu machen wusste. So große Erfolge damit erreicht wurden, so sehr versagte diese Politik, als die große Industrie sich im westlichen Europa durchgesetzt hatte. Mit dieser revolutionierenden Waffe war weiter kein Spaß zu treiben; an ihr zerschellten alle despotischen Raubgelüste, und im eigenen Lande drohte sie Kräfte zu entfesseln, die zuallererst dem Zarismus selbst an Kopf und Kragen gingen.

Somit musste er sich auf die Eroberungs- und Protektionspolitik beschränken, die den vorindustriellen Stadien der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlich war. Abgeschreckt von Europa, erinnerte er sich seines asiatischen Ursprungs und richtete sein Auge von Konstantinopel auf Indien. Indem er erobernd der englischen Weltmacht an ihrer kitzligsten Stelle auf den Leib rückte und den Weltkrieg um die kolossale Beute immer drohender beschwor, sperrte er zugleich die russischen Grenzen, um die revolutionär gärenden Kräfte im eigenen Lande zu beschwichtigen. Er rechnete ganz richtig mit der Kurzsichtigkeit der Bourgeoisie, die über der augenblicklichen Befriedigung ihres Profithungers gern die dauernden Interessen der kapitalistischen Produktion vergisst; die russische Industrie, die über den inneren Markt herausgewachsen, aber noch nicht zur Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte herangewachsen ist, war ganz einverstanden mit der Eroberung neuer Märkte und ihrer strengen Abschließung gegen die konkurrierende Industrie fremder Nationen. Insofern hat die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus in Russland einen gewissen Sinn und Zusammenhang.

Schwieriger schon ist dieser Sinn und Zusammenhang bei ihrem zweiten Paten zu entdecken, bei Frankreich, doch ist er hier immerhin auch noch zu finden. In Frankreich hat sich, aus denselben historischen Gründen, die eine starke Bauern- und Handwerkerklasse erhalten haben, die große Industrie nie so kräftig entwickelt wie in England. Nach dem Siege der französischen Bourgeoisie im Jahre 1830 kam nicht ihre großindustrielle, sondern ihre großfinanzielle Schicht ans Ruder, um in achtzehnjähriger Misswirtschaft das Land zu ruinieren und nicht zuletzt auch die großindustrielle Entwicklung zu hemmen. Als die französische Nation dann 1848 das unerträglich gewordene Joch abschüttelte, gelang der Bourgeoisie die Übertölpelung des Proletariats nicht mehr so glatt wie im Jahre 1830; sie erstickte deshalb die berechtigten Ansprüche der Arbeiterklasse in den Blutströmen der Junitage und ebnete dadurch dem Bonapartismus seinen schmutzigen Weg. Er hielt sich am Ruder, indem er bald die Bourgeoisie, bald das Proletariat bald liebkoste, bald neckte, oder selbst auch ihre gemeinsamen Interessen gegen die chauvinistischen und protektionistischen Überlieferungen der reaktionären Klassen wahrte. Dies geschah namentlich in dem englisch-französischen Handelsvertrage von 1860, den Napoleon III., nach dem Erstarken der französischen Industrie in den fünfziger Jahren, mit dem englischen Freihändler Cobden abschloss. Die „staatsmännische Einsicht", die der Abenteurer dabei bewiesen haben sollte, war natürlich nicht weit her; wenn er den revolutionären Klassen durch eine Konzession den Mund zu stopfen suchte, so musste er den reaktionären Klassen durch zehn andere Konzessionen den Mund stopfen, worüber er dann endlich bei Sedan strandete. Der schmachvolle Sturz seiner Herrschaft brachte aber die reaktionären Klassen empor, die in ihrer Gesamtheit der großen Industrie überlegen waren, zumal nachdem sie den heldenmütigen Widerstand der Pariser Kommune in den Gräueln der Maiwoche von 1871 niedergeschlagen hatten.

Auf der andern Seite wurden die chauvinistischen und protektionistischen Überlieferungen der französischen Ludwige wieder aufgefrischt durch die Annexion Elsass-Lothringens an das Deutsche Reich, eine jener ausgesuchten historischen Torheiten, bei denen die Besiegten wie die Sieger gleichmäßig in die Tinte kommen. Frankreich verlor damit ein paar seiner industriellsten Provinzen und einen beträchtlichen Teil seines inneren Markts. Um so größere Chancen hatte nunmehr die Kolonial- und Schutzzollpolitik, zu der die reaktionären Klassen, an der Spitze die hohe Finanz, die Bürokratie, der Militarismus, drängten: die hohe Finanz aus unstillbarer Sehnsucht nach jenen exotischen Spekulationen, bei denen sich die Dummen am leichtesten das Fell über die Ohren ziehen lassen, die Bürokratie aus Sehnsucht nach fetten Posten, der Militarismus aus Sehnsucht nach neuen Lorbeeren, über denen die Niederlagen des Deutsch-Französischen Krieges vergessen werden sollten. Die französischen Professoren fehlten allerdings, wenn wir uns recht erinnern, in diesem reaktionären Klüngel, vermutlich weil ihnen die Hauptflause der deutschen Flottenprofessoren, wonach die angebliche Übervölkerung Deutschlands die Gründung von Kolonien notwendig machen soll, durch die tatsächliche Unterbevölkerung Frankreichs abgeschnitten war. Genug, die französische Republik taumelte nach Tunis, nach Tongking, nach Madagaskar; sie begann die Besetzung und Absperrung überseeischer Landstriche im Großen zu betreiben, was die französische Nation mit sehr viel Blut und sehr viel Gut bezahlen musste, ohne selbst nur ein bisschen Flitter von militärischer Glorie zu gewinnen, was ja im tiefsten Grunde die Ursache jener nationalen Zerrüttung geworden ist, die sich im Falle Dreyfus so beschämend offenbart hat. Die französischen Kolonien entkräften das Mutterland noch viel stärker als – bisher – die deutschen, womit der Vorzug, dass sie nicht ganz so ruppig sind wie Kamerun, Togo und so weiter, etwas teuer erkauft ist.

Indem nun aber Russland und Frankreich sich aus allen Kräften bemühten, den Weltmarkt um ihre Gebiete zu verengern, wurde auch England gezwungen, die Weltpolitik der großen Industrie, wenn nicht aufzugeben, so doch einzuschränken. Je mehr seinem Handel vom Weltmarkt entzogen wurde, um so fester musste es halten, was es davon besaß, um so mehr musste es darauf bedacht sein, diesen Besitz zu erweitern. Das ist der einfache historische Zusammenhang, den nur bedauerliche Unkenntnis oder gehässige Leidenschaft verkennen kann. Wir werden uns von dem unsinnigen Engländerhass unserer Patrioten nicht in das entgegengesetzte Extrem treiben lassen, etwa in jene Schwärmerei für England, die ehedem unter den deutschen Liberalen im Schwange ging; dazu fehlt uns jeder Anlass. Wir rühmen der englischen Bourgeoisie nichts, gar nichts anderes nach, als dass sie von ihrem großindustriellen Standpunkt aus gut zu rechnen versteht, dass ihr demgemäß bei den unerschöpflichen Produktivkräften ihrer Industrie der freie Handel in allen Ländern profitabler erscheint als ein auf England und seine noch so ausgedehnten Kolonien beschränkter Handel. Die Rechnung ist in ihrer Richtigkeit so einfach, dass sie jeder Schulknabe, der die Geheimnisse des Einmaleins bewältigt hat, nachprüfen kann, und sie ist also gewiss kein besonderer Ruhmestitel.

Wurden nun aber einmal die Raubtierinstinkte, die in allem Kapitalismus stecken, in dem englischen Kapitalismus gewaltsam geweckt, so darf man nicht die Hände überm Kopf zusammenschlagen, weil sie sich in den gewaltigen Dimensionen dieses Kapitalismus ausrecken. Nur diejenigen haben ein Recht zur sittlichen Empörung über den Krieg der Engländer gegen die Buren, die den Kapitalismus mitsamt all seinen Raubtierinstinkten ausrotten wollen; gar keinen Grund zum Schelten über den Burenkrieg haben dagegen die deutschen Flottenpatrioten, die früher über die wohlbedachte Friedenspolitik Englands mit abgeschmackt-großmäuligen Spöttereien herfielen und an ihrem Teile die nunmehrige Angriffspolitik Englands mit verschuldet haben.

Es gibt nämlich einen großen Staat in Europa, der durch alle seine nationalen Interessen – das Wort in rein bürgerlichem Sinn genommen – verpflichtet gewesen wäre, den Widerstand Englands gegen die französisch-russische Eroberungs- und Protektionspolitik zu unterstützen. Dieser Staat ist das Deutsche Reich. Deutschland hat der Weltpolitik der großen Industrie nächst England den kolossalsten Aufschwung zu danken, ja relativ genommen noch einen weit kolossaleren Aufschwung als England. In der Mitte der dreißiger Jahre begann die industrielle Entwicklung in Deutschland mit der Gründung des Zollvereins und dem Bau der Eisenbahnen; in der Mitte der siebziger Jahre stand der deutsche Gesamthandel auf dem Weltmarkt nur noch dem englischen nach. Er belief sich 1874 (Ausfuhr und Einfuhr addiert) in Millionen Mark: Großbritannien 13 380, Deutschland 9300, Frankreich 6800, Vereinigte Staaten 4980; zur gleichen Zeit hatte Deutschland in Industrie und Transport mehr Dampfkraft im Betriebe als irgendein anderer Staat des Festlands. Diese ungeheuren Erfolge waren erreicht ohne eine einzige Kolonie, fast ohne jedes Kriegsschiff, wesentlich nach freihändlerischen Grundsätzen. Was also hätte näher gelegen, als dass Deutschland Schulter an Schulter mit England die Weltpolitik der großen Industrie verteidigt hätte! Statt dessen sehen wir das Deutsche Reich an der Seite Frankreichs und Russlands, mit denen es dieselbe Kolonial- und Schutzpolitik treibt, mit denen es gegen den Frieden von Schimonoseki intervenierte, mit denen es die Aufteilung Chinas beginnt, in schroffem Gegensatz zu jener englischen Politik, der immer nur an der Öffnung Chinas für den freien Handel aller Nationen gelegen war.

Es ist betrübend, aber unvermeidlich, dass, wer die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus in ihrer klassischen, das will sagen in ihrer historisch sinnlosesten und für die menschheitliche Kulturentwicklung gemeingefährlichsten Form kennenlernen will, im Lande der Eichen und Linden, beim Volke der Denker und Dichter einkehren muss.

VII. Die Weltpolitik des Deutschen Reichs

Die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus wurde im Deutschen Reiche durch das Sozialistengesetz eingeläutet. Damit trat klarer und unverhüllter als irgendwo sonst ihre mächtigste Triebfeder hervor und auch ihr eigentlicher historischer Stempel. Man konnte die gewerbfleißigsten Bewohner des Landes nicht mehr vertreiben, wie Philipp II. die Mauren und Ludwig XIV. die Hugenotten vertrieben hatten, denn weder ließ sich der Ausfall der nationalen Arbeit durch exotische Schätze ersetzen, noch war die Maschine der großen Industrie ohne die kräftigen Arme der Arbeiter im Gange zu erhalten. Aber man stopfte ihnen einen Knebel in den Mund, um sie zu willenlosen Werkzeugen zu machen; war der Biene erst ihr Stachel genommen, so konnten die Drohnen sich mästen.

Die große Industrie, verkracht durch den Schwindelgeist ihrer Unternehmer, machte gemeinsame Sache mit den reaktionären Klassen. Dafür erhielt sie ihre Industriezölle, wie das historisch und ökonomisch verkommene Junkertum durch die Agrarzölle und Liebesgaben künstlich am Leben erhalten wurde und der militärische Absolutismus durch Finanzzölle sich von der bei aller Schwachmütigkeit der bürgerlichen Reichstagsparteien doch immer lästigen parlamentarischen Kontrolle befreite. Eins griff ins andere bei dieser protektionistisch-reaktionären Politik, wie es denn überhaupt keinen heilloseren Irrtum auf politischem Gebiete gibt als die Annahme, man könne nach Belieben, zur ergötzlichen Abwechslung oder um irgendwelcher „praktischer" Rücksichten willen heute ein paar reaktionäre Sprünge machen und morgen sich anstellen, als sei nichts geschehen. Diese Vorstellung ist nirgends so verbreitet wie in Deutschland, weil sie sich der Feigheit des deutschen Philisters einschmeichelt, die jeden ernsten Kampf scheut und wohl mit dem lieben Gott auf gutem Fuße stehen möchte, aber mit dem Gottseibeiuns auch. Wie verkehrt diese Politik ist, zeigt sich selbst an dem Schicksal eines Mannes, der in seiner Art reichlich die Konsequenz und den Mut besaß, die dem deutschen Philister fehlen.

Nämlich wenn Bismarck die Protektionspolitik wollte, so wollte er deshalb noch nicht die Eroberungspolitik. Er war gewiss kein staatsmännisches Genie: Ein Genie kommandiert die Industrie des eigenen Landes nicht rechtsumkehrt, wenn sie eben einen gipfelnden Höhepunkt erreicht hat, ein Genie macht auch nicht solche – klugen Streiche wie die Annexion Elsass-Lothringens. Aber Bismarck war in seiner Weise wirklich ein hartgesottener Realpolitiker, und deshalb kein Flotten- und Kolonialpatriot wie die heutigen „Realpolitiker". Er wusste sich zu sagen, dass, wenn er durch die Annexion Elsass-Lothringens das neue Deutsche Reich „in drangvoll fürchterliche Enge" zwischen Frankreich und Russland „keilte", das deutsche Landheer viel zu mächtig werden musste, um noch viel für die Flotte übrig zu lassen. Er besaß auch geschichtliche Kenntnisse genug, um zu wissen, dass Deutschland, nachdem es die historische Zeit der Kolonialpolitik in seinem damaligen Verfall hatte verschlafen müssen, nun als großer Industriestaat nicht mehr auf einem Gebiete zu krebsen brauchte, wo nichts mehr zu holen war. Als ihm im Frühjahr 1871 von französischer Seite nahegelegt wurde, sich die Kriegsentschädigung in französischen Kolonien zahlen zu lassen, antwortete er verächtlich: „Ich will gar keine Kolonien. Die sind bloß zu Versorgungsposten gut. Für uns in Deutschland – diese Koloniegeschichte wäre für uns genauso wie der seidene Zobelpelz in polnischen Adelsfamilien, die kein Hemd haben." Dem Sinne nach war es dieselbe Antwort, die der alte Fritz auf dieselbe Zumutung gegeben hatte.

Allein da Bismarck von dem heilen Hemde der Sozialpolitik nichts wissen wollte, so musste auch er schon zu dem seidenen Zobelpelze der Kolonialpolitik greifen. Immerhin geschah es erst, als er vor dem Bankrott seiner inneren Politik stand und nur noch durch waghalsige Plebiszitschläge nach bonapartistischem Muster sein wurmstichiges Hausmeiertum von einer Reichstagswahl zur andern hinfristen konnte. Diese Anfänge der deutschen Kolonialpolitik waren bereits ein äußerst kostspieliges und ganz zweckloses Vergnügen, aber Bismarck dachte vermutlich, solche Raritäten von „Genies", wie er eins sei, könnten von den Völkern gar nicht teuer genug bezahlt werden, und wie scharf man vom moralischen Standpunkt seine frivole Kolonialpolitik beurteilen mag, so hat er in diesem Punkte doch wenigstens sein politisches Renommee zu wahren gesucht und noch kurz vor seinem Sturz im Reichstag erklärt, dass er „von Hause aus kein Kolonialmensch" sei.

Als dann Bismarcks System unter den kräftigen Schlägen der Sozialdemokratie zusammengebrochen war, zeigte sich eben hierdurch die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus in ihrer Wurzel verfault, und ihre bisher gezüchteten Früchte waren bitter genug, um auch im Schoße der Regierung den Gedanken zu erwecken, ob nicht eine Umkehr auf diesem Wege geboten sei. Allerlei Anläufe zu solcher Umkehr machten die Ära Caprivi aus, allein so schwächlich diese Anläufe waren, so stießen sie bereits auf den erbitterten und unversöhnlichen Widerstand der reaktionären Klassen, die von der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus leben. Diese Klassen suchten ganz logischerweise das System Caprivi durch einen neuen Sozialistenschrecken zu stürzen, und als es ihnen gelang, haben sie im Großen und Kleinen von der Umsturz- bis zur Zuchthausvorlage die Arbeiterklasse niederzuschlagen gesucht. Diese Versuche sind bisher an der Entschlossenheit und Umsicht des Proletariats gescheitert, aber sie werden nicht aufhören, bis die deutschen Arbeiter der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus ein gebieterisches Halt zugerufen haben.

Wie diese Politik seit dem Sturz Caprivis und dem Beginn des Zickzackkurses einen neuen Aufschwung genommen und nunmehr das Reich in die Krisis des Flottenrumors gestürzt hat, braucht hier nicht ausführlich dargelegt zu werden. Nur ist ein Wort der Kritik nötig über die weitverbreitete Anschauung, als ob ein einzelner Wille die Haupttriebfeder der ins Übermaß gesteigerten Flotten- und Kolonialpolitik sei. Das ist an sich nicht unrichtig, jedoch darf man diesen einzelnen Willen nicht im Sinn einer subjektiven Laune auffassen, die heute kommt und morgen vielleicht geht. Es ist klar, dass, wenn der Kapitalismus in seinen Todesängsten auf die Eroberungs- und Protektionspolitik seiner absolutistischen Anfänge retiriert, damit auch der Absolutismus obenauf kommt, und es ist nicht minder klar, dass dieser Absolutismus, wie er das Produkt einer geschichtlichen Entwicklung ist, so auch wieder von der geschichtlichen Entwicklung beeinflusst wird. Man darf sich nicht der Tatsache verschließen, dass die deutsche Kolonialpolitik in der Mitte der neunziger Jahre ein ander Ding wurde, als sie in der Mitte der achtziger Jahre war; begann Bismarck sie mit einigen afrikanischen Sand- und Sumpfwüsten, deren gesamter Handel für die Dimensionen des Weltmarktes ein ganz gleichgültiger winziger Posten ist, so war sie zehn Jahre später vor das chinesische Problem gestellt, vor die Erschließung des letzten großen Absatzmarktes, der auf der Erde für die Erzeugnisse der modernen Industrieländer noch zu finden ist und der zugleich in seinem Innern alle Bedingungen für eine eigne großartige industrielle Entwicklung besitzt.

Sucht man so die Dinge nach ihrem historischen Schwergewicht zu erfassen, so wird man sich auch durch die unsäglich flache und inhaltlose Begründung der Flottenvorlage nicht in trügerische Sicherheit einlullen lassen. Es ist wahr, dass es nicht leicht etwas Trivialeres geben mag als diese Redensarten, die dann von den Flottenschwärmern vollends zu einem widerlichen Phrasenbrei verarbeitet worden sind, aber es ist nicht minder wahr, dass Herr Tirpitz, wenn er nur wollte, die Flottenvorlage ebenso bündig wie kurz begründen könnte. Er würde dann sagen: „Ja, meine Herren, wer mit dem A begonnen hat, muss sich auch bis zum Z durchbuchstabieren, wer mit der Protektionspolitik anfängt, muss mit der Eroberungspolitik enden. Freilich gibt es eine Politik, die sich auf dem neueröffneten chinesischen Markt freien Ellbogenraum schaffen und die heimische Industrie gleichwohl gegen den verhängnisvollen Rückschlag der chinesischen Industrie schützen kann, die sich treibhausmäßig entwickeln wird: Das ist die Weltpolitik der großen Industrie, wie sie von den Engländern und den Amerikanern betrieben wird, oder doch, solange sie freie Hand hatten, betrieben wurde, das ist die Politik, die den nationalen Produktivkräften freie Entfaltung gewährt und ganz besonders der hervorragendsten nationalen Produktivkraft, der Arbeiterklasse. Aber mit dieser Politik haben Sie, meine Herren, ja seit mehr als zwanzig Jahren gebrochen, soweit Sie überhaupt schon mit ihr begonnen hatten; Sie haben seitdem die umgekehrte Politik getrieben, die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus, die Politik der Lebensmittelzölle, der Schutzzölle, der Liebesgaben für Schnapsbrenner und Zuckersieder, der fiskalischen Staatswirtschaft, der Zunftmisere, der Attentate auf Freizügigkeit und Gewerbefreiheit und Koalitionsfreiheit, der Ausschließung der arbeitenden Klassen vom gemeinen Recht der Nation. Wollen Sie nun auf alles das verzichten? Nein, meine Herren, das wollen Sie nicht, denn sonst müssten die reaktionären Klassen, denen diese Politik in dem hochindustriellen Deutschland das Heft in die Hand gegeben hat, freiwillig abdanken, und das tun reaktionäre Klassen niemals. Also muss das Deutsche Reich nicht mit den Engländern und Amerikanern die Erschließung, sondern mit den Franzosen und den Russen die Aufteilung Chinas verlangen; nicht durch Arbeit und in Frieden, sondern durch Eroberung und mit Gewalt müssen wir vom chinesischen Markt soviel an uns reißen, wie wir können, und dazu brauchen wir Kriegsschiffe, sehr viel Kriegsschiffe, noch unendlich viel mehr Kriegsschiffe, als wir augenblicklich fordern. Das heißt gewiss den Weltmarkt erobern auf Gefahr des Weltkrachs, das ist gewiss eine Schraube ohne Ende, an der die modernen Kulturvölker unaufhaltsam verbluten, es sei denn, dass sie ihr Ende findet in einer gewaltsamen Zertrümmerung der modernen Kulturwelt, gegen die der Dreißigjährige Krieg noch als harmlose Idylle erscheinen mag. Aber kann man die Weltpolitik der französischen Ludwige treiben ohne ihr Trostsprüchlein: Nach uns die Sündflut? Nein, nehmen wir als praktische Staatsmänner unsern Platz an der Sonne, mag krachen, was da krachen will; umsonst trägt ja die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus nicht ihren schönen Namen." So hat Herr Tirpitz freilich nicht gesprochen, und so wird er auch nicht sprechen, aber so spricht die eiserne Logik der Dinge, die in der Flottenvorlage steckt.

Deshalb darf man sich auch durch die noch so schlagende Abfertigung der öden Redensarten, womit die Flottenvorlage offiziell begründet wird, ebenso wenig in trügerische Sicherheit wiegen lassen, wie durch die Öde dieser Redensarten selbst. Für reaktionäre Klassen, die sich mit Nägeln und Zähnen an ihre Macht klammern, hat die gewichtigste Logik, Vernunft und Wissenschaft noch nicht das Gewicht einer Federflocke. Wäre dem anders, so hätte die deutsche Bourgeoisie ebenso oft über das ostelbische Junkertum gesiegt, wie sie von ihm besiegt worden ist. Die deutsche Bourgeoisie hat nie begriffen, dass, wie im Kriege, so auch in der Politik, die Defensive unterliegen muss, wenn sie sich nicht zur rechten Zeit in die Offensive zu verwandeln weiß, und sie begreift es heute, wo sie von der chinesischen Beute hypnotisiert ist, weniger als je. Um so mehr ist es die historische Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse, der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus ihre eigene Weltpolitik entgegenzusetzen, deren Sieg um so gewisser ist, als in dieser Politik alle Lebensinteressen des Proletariats vollständig zusammenfallen mit allen Lebensinteressen der gesamten Nation.

VIII. Die Weltpolitik des deutschen Proletariats

Lässt sich die reaktionäre Weltpolitik des Deutschen Reichs zusammenfassen in die Worte: Eroberung und Protektion, Krieg und Monopol, so die revolutionäre Weltpolitik des deutschen Proletariats in die Worte: Freiheit und Frieden. Wenn ein ostelbischer Junker neulich im Reichstag schnarrte: Die Zeiten Cobdens und Brights sind vorüber, so antwortet ihm die Arbeiterklasse: Ganz recht, aber nicht in eurem, sondern in unserm Sinne; wir marschieren nicht hinter Cobden und Bright zurück, sondern über sie hinaus.

Es sind vornehmlich zwei Köder, womit die deutschen Arbeiter verlockt werden sollen, auf die Leimruten der Flottenschwärmer zu gehen. Erstens sagt man, die Arbeiter hätten das größte Interesse an der möglichst kräftigen Entwicklung der Industrie, und zweitens sagt man, mit der Annahme der Flottenvorlage würde einigen Zehntausenden von Arbeitern auf eine Reihe von Jahren lohnende Beschäftigung gesichert sein. Wir lassen hier alles beiseite, was sich sonst gegen diese Rechnung einwenden ließe und schon eingewandt worden ist: so die Frage, ob nicht auch dieser Bruchteil der Arbeiterklasse bei dem ihm vorgeschlagenen Geschäft sehr schlecht abschneiden würde, so auch die Komik der Vorstellung, als könne die Arbeiterklasse jemals ihr großes Gesamtinteresse den vorübergehenden Vorteilen eines Bruchteils von ihr hintansetzen, als könne sie, um es noch einmal zu wiederholen, ihr Erstgeburtsrecht einem Linsengericht opfern, selbst wenn dies Linsengericht nicht auch nur eine Phantasmagorie wäre, wie sie es tatsächlich ist. Wir nehmen vielmehr die Diskussion gern an, wie sie geboten wird; man kann den Flottenschwärmern getrost neun Zehntel ihres Unsinns schenken, und mit dem letzten Zehntel schlägt man sie noch zehnmal in die Flucht.

Nichts kann die deutsche Arbeiterklasse so bereitwillig zugeben, als dass sie das größte Interesse an der möglichst kräftigen Entwicklung der deutschen Industrie hat. Sie will vorwärts, und vorwärts geht es nur auf den Wegen der großen Industrie. Wie sollte auch nicht eine Mutter die zärtlichste Vorliebe für ihr Kind haben! Es gibt zwar allerhand „arbeiterfreundliche" Demagogen, die den Arbeitern einreden möchten, die „genialen Unternehmer und die königlichen Kaufleute" seien die eigentlichen Macher und ohne sie ginge der Karren nicht, allein wer auch nur einigermaßen die Geschichte der deutschen Industrie kennt, der ist hinlänglich darüber unterrichtet, dass die „Genialen" und die „Königlichen" jahrzehntelang auf dem Weltmarkte verrufen gewesen sind, weil sie die internationale Konkurrenz teils durch Hungerlöhne, teils durch Schundware zu unterlaufen suchten. Wenn darin ein Wandel eingetreten und die deutsche Industrie durch den Wert ihrer Produkte auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig geworden ist, so hat die Intelligenz und Tatkraft des deutschen Proletariats daran das größte Verdienst, und die Entwicklung dieser Intelligenz und Tatkraft ist in erster Reihe der sozialdemokratischen Agitation geschuldet. Bürgerliche Sozialpolitiker, denen es nicht um demagogische Spiegelfechterei, sondern um die historische Wahrheit zu tun war, haben das auch oft bereitwillig anerkannt; so Rudolf Meyer, der nicht müde wurde, seine Klassengenossen warnend darauf hinzuweisen, dass sie die deutsche Industrie erschlagen würden, wenn sie die deutsche Sozialdemokratie erschlagen könnten.

Gerade aber weil die deutsche Arbeiterklasse die deutsche Industrie so kräftig als möglich entwickeln will, muss sie der Flottenvorlage in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Sie kann sich nun und nimmer mit der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus anfreunden, die ja eben die großindustrielle Entwicklung an dem Punkt aufhalten will, wo sie mit den Interessen der reaktionären Klassen zusammenstößt, und die demgemäß vor allem darauf bedacht ist, die Emanzipation des Proletariats als den wichtigsten Hebel der großindustriellen Entwicklung auszuschalten. Wer für die Flottenvorlage stimmt, der stimmt auch dafür, die deutsche Arbeiterklasse in Elend, Not und Unwissenheit zu erhalten, sie wieder herabzudrücken von der Kulturstufe, die sie durch ihre eigene Kraft erreicht hat. Dabei macht es vielleicht moralisch, aber ganz gewiss politisch keinen Unterschied, ob die einzelnen Flottenschwärmer sich dieser Konsequenz bewusst sind oder nicht: Ehrliche Konfusion ist politisch sogar noch gefährlicher als böser Wille, weil sie schwerer zu kontrollieren ist und deshalb größeres Unheil anrichten kann. Die klassenbewussten Arbeiter aber kennen den Zusammenhang zwischen Arbeitertrutz und Flottenvorlage; deshalb ist es der demosthenischen Beredsamkeit sämtlicher Flottenschwärmer und einer Demagogie, die mit seltener Unbefangenheit auch um das schlechteste Mittel nicht verlegen ist, noch nicht gelungen, auch nur einen Sozialdemokraten auf ihre Seite zu ziehen. Wie sollte denn das auch möglich sein, nachdem das klassenbewusste Proletariat schon in den schweren Jahren des Sozialistengesetzes weder durch Peitsche noch durch Zuckerbrot zu bewegen gewesen ist, der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen?

Heute wie damals vertreten die deutschen Arbeiter in ihrem eigenen Interesse zugleich die Interessen der Nation, indem sie sagen: Je entwickelter, je intelligenter, je wohlständiger die Arbeiterklasse, um so blühender die nationale Industrie und um so kräftiger ihre Stellung auf dem Weltmarkt; die durchgreifendste Sozialpolitik ist allemal die erfolgreichste Weltpolitik.

Damit ist auch schon der zweite Köder beseitigt, womit die Arbeiter von den Flottenschwärmern verlockt werden sollen. Sind die herrschenden Klassen so zärtlich darum besorgt, für sechzig- oder siebzigtausend Arbeiter ein paar Jahrzehnte lang lohnende Arbeitsgelegenheit zu schaffen, weshalb wollen sie dann diese Fülle kostbarer Produktivkraft so nutzlos verschwenden wie in dem Bau von Panzerschiffen, von denen die ersten schon als altes Eisen auf den Trödel wandern werden, ehe die letzten auch nur auf den Stapel gelegt sind? Da lägen für diese Staatsmänner doch hundert andere Dinge unendlich viel näher. Würde beispielsweise in den sogenannten Musteranstalten von Staatsbetrieben die Arbeitszeit von einer unmenschlichen auf eine menschenwürdige Dauer herabgesetzt, also eine sozialreformatorische Aufgabe gelöst, so wäre für eine vermutlich ebenso große Zahl von Arbeitern wie beim Bau der Panzerflotte dauernde Arbeit geschaffen. Und für zehnmal so viele Arbeiter wäre für ihr ganzes Leben reichlich gesorgt, wenn auch nur die dringendsten der Kulturaufgaben, die im Deutschen Reich zur Schande des deutschen Namens so schmählich daniederliegen, endlich praktisch angefasst würden. Bebel hat im Reichstage schon eine kleine Rechnung darüber aufgemacht, was in dieser Beziehung an Bodenmeliorationen, Verkehrsmitteln, Bau von Schulen und Hospitälern, Unterstützung für Kunst und Wissenschaft etc. zu leisten notwendig wäre. Damit würde die deutsche Industrie einen großen Aufschwung gewinnen, aber freilich – die Herrschaft der reaktionären Klassen, die das Deutsche Reich regieren, wäre dann in der Wurzel bedroht.

Man könnte nun noch sagen, und wenn nicht den Worten, so doch dem Sinn nach sagen es die Flottenschwärmer: Ja, das ist alles recht gut und schön, aber wenn England, Frankreich und Russland mit Panzerschiffen um den Weltmarkt streiten, so muss Deutschland mittun, wenn es nicht vom Weltmarkt ausgeschlossen sein will. Hiergegen wäre nun zunächst zu erinnern, dass die offizielle Politik des Deutschen Reichs durchaus nicht das gezwungen zur Schlachtbank geschleppte Kalb, sondern viel eher das Karnickel ist, das angefangen hat: Das deutsche Sozialistengesetz ist das klassische Brandmal für die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus. Die reaktionären Klassen in Deutschland sind dabei frivoler vorgegangen als ihresgleichen in Frankreich, England und selbst in Russland. Die russische Industrie ist noch nicht konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt, die französische war durch den Verlust Elsass-Lothringens empfindlich geschwächt, und die englische Weltpolitik ist überhaupt erst in der Notwehr rückwärts marschiert. Die deutsche Regierung aber hat nach einer Reihe glücklicher Kriege, und nachdem die deutsche Industrie ihre vollkommene Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt erwiesen hatte, die weltpolitische Reaktion begonnen. Hier hat ein bankrottes Junkertum, eine unfähige Bürokratie und leider auch eine beschränkt-feige Bourgeoisie einen beschämenden Sieg davongetragen über das Interesse der deutschen Nation und der europäischen Kultur, und der den unsinnigen Tanz voran getanzt hat, könnte und sollte ihn auch zuerst beenden.

Im Übrigen fällt jene Argumentation in sich selbst zusammen. Wäre sie richtig, so könnte Deutschland überhaupt einpacken; wäre der Weltmarkt nur mit Panzerschiffen zu behaupten, so käme Deutschland nicht einmal gegen Frankreich oder Russland, geschweige denn gegen England auf. Aber so großes Unheil die Weltpolitik des krachenden Kapitalismus anrichten kann, so vermag sie doch nicht den Weltmarkt der großen Industrie in den Weltmarkt des bürgerlichen Handelskapitals zurück zu verwandeln. Auf dem Weltmarkt der großen Industrie bleibt es dabei, dass, wie Herr Eugen Richter im Reichstage sehr richtig in getreuem Anschluss an das Kommunistische Manifest ausgeführt hat, nicht die schweren Kanonen der Panzerschiffe, sondern die wohlfeilen Preise der Waren die chinesischen Mauern in den Grund schießen6, auf diesem Weltmarkt siegt schließlich die Nation, die alle Springquellen ihres nationalen Reichtums zu öffnen weiß, indem sie ihrer Arbeiterklasse die volle Entwicklung ihrer Arbeitskraft ermöglicht. Ergriffe heute die deutsche Regierung diese Initiative des historischen Fortschritts, wie sie vor zwanzig Jahren die Initiative des historischen Rückschritts ergriffen hat, so könnte sie die westeuropäischen Nationen sehr schnell von der Politik der Panzerschiffe kurieren, um so schneller, als England im Burenkrieg und Frankreich im Dreyfus-Handel schon recht heilsame Lektionen darüber bekommen haben, was schließlich bei der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus herauskommt.

Aber die deutsche Regierung wird niemals die Initiative eines historischen Fortschritts ergreifen, und die bürgerlichen Parteien, die etwa noch den Willen dazu hätten, haben längst nicht mehr die Kraft dazu. Das ist ausschließlich Sache der Arbeiterklasse geworden, die ihrer historischen Pflicht auch dann gerecht geworden ist, wenn sie, wie in den schweren Tagen des Sozialistengesetzes, in den Augen der „praktischen" Leute damit den Don Quichotte spielte. So verwickelt liegen die Dinge heute nun aber doch nicht, und es mag noch gezeigt werden, dass die deutsche Arbeiterklasse auch die für sie praktisch klügste Politik treibt, wenn sie die Flottenvorlage mit der ganzen Schärfe ihres historischen Prinzips bekämpft.

IX. Die Arbeiter und die Flottenfrage

Je weniger man sich darüber täuschen darf, dass die Flottenvorlage eine Konsequenz der reaktionären Weltpolitik ist, die vor mehr als zwei Jahrzehnten mit dem Erlass des Sozialistengesetzes über das Deutsche Reich hereinbrach, desto weniger darf man die tröstliche Kehrseite der Medaille übersehen, die Tatsache nämlich, dass diese Politik mit dieser Konsequenz in das Stadium tritt, wo sie sich selbst abzutun beginnt. Das Bumbum und Trara, womit die Flottenvorlage zuerst auftrat, weckte auf dem geduldigen Kalbfell einer mehr als zwanzigjährigen Tradition ein gewisses Echo, aber sobald man sich den Schaden besah, begann man sich auch in bürgerlich-patriotischen Kreisen hinter den Ohren zu kraulen, und die gewitzten Macher des Flottenrummels wissen recht gut, weshalb sie zur höchsten Eile mahnen, da „die Begeisterung zu verrauchen" beginne.

Die Flottenvorlage enthüllt in einer für ihre Urheber sehr unbequemen Weise, dass es ein ganz winziger Kreis ist, der von der reaktionären Weltpolitik wirklichen Nutzen zieht, ein Häuflein, das, wenn es durch einen unerforschlichen Ratschluss der Vorsehung von uns genommen und auf andere Weltkörper versetzt würde – unsertwegen in die Gefilde der Seligen –, nicht nur keine Lücke in dem Kulturleben der deutschen Nation hinterlassen, sondern es vielmehr von einem drückenden Alp befreien würde. Weder die agrarischen noch die industriellen Arbeiter, weder die Bauern noch die Handwerker, weder der Großgrundbesitz noch der Großhandel noch die Großindustrie haben ein Interesse an der Flottenvorlage. Von den meisten dieser Klassen wagen die Flottenschwärmer ja auch gar nicht, solch Interesse zu behaupten, sondern nur vom Großhandel und von der Großindustrie. Aber der Großhandel hat erst kürzlich durch den Mund eines seiner angesehensten Blätter der Welt verkünden lassen, dass ihm den Teufel an der Flotte gelegen sei; wollten die deutschen Steuerzahler sich den Luxus gönnen, so hätte er weiter nichts dagegen, aber er für sein Teil müsse sich bedanken, sein Konto mit dieser überflüssigen Ausgabe zu belasten. Das ist tatsächlich die allgemeine Auffassung in den Kreisen des Großhandels, der übrigens auch schon vor zwanzig Jahren, aus leicht begreiflichen Gründen, am schwersten zur reaktionären Weltpolitik zu bekehren war. In den Kreisen der Großindustrie sieht es nur insofern anders aus, als ein Teil von ihr nicht zwar an den etwaigen Heldentaten der neuen Flotte, aber allerdings an ihrem Bau interessiert ist, die Firmen Krupp und Stumm allein mit einem Riesenprofit von weit über hundert Millionen Mark. Außer diesem Teil der Großindustrie sind nur die unproduktivsten Schichten der Nation an der Flottenvorlage interessiert, wesentlich dieselben Elemente, die auch die französische Kolonialpolitik verschuldet haben und verschulden: Finanz, Bürokratie, Militär und dergleichen mehr, nicht zu vergessen die Flottenprofessoren, die ihr „ideales" Vorrecht wahren, immer voranzumarschieren, wenn der nationale Karren einmal recht gründlich verfahren werden soll.

Das war vor zwanzig Jahren ganz anders. Damals hatte die reaktionäre Weltpolitik wirklich einen sehr starken Resonanzboden. Der größte Teil des durch den furchtbaren Krach der siebziger Jahre verelendeten Proletariats war politisch noch nicht aufgeklärt, die durch das jähe Aufschießen der großen Industrie bedrohten oder auch vernichteten Bauern und Handwerker versprachen sich goldene Berge von der ökonomischen Reaktion; sobald der Sozialdemokratischen Partei als der rüstigen Vorkämpferin der gemisshandelten und unterdrückten Klassen der Knebel des Sozialistengesetzes in den Mund gestopft worden war, konnten die Massen sehr leicht über den Löffel barbiert werden. Diese ganze Sachlage hat sich nach und nach durch die traurige Unfähigkeit der reaktionären Weltpolitik sehr zu ihren Ungunsten verschoben, und die Flottenvorlage ist ein höchst wirksames Werkzeug, die Aufklärungsarbeit unter den Bauern und Handwerkern, unter dem agrarischen und, soweit es überhaupt noch nötig sein sollte, unter dem industriellen Proletariat zu krönen.

Vor allem aber war es vor zwanzig Jahren noch möglich, zwischen Bourgeoisie und Junkertum ein Kompromiss von leidlicher Festigkeit zu schließen. Fehlte ihm auch von vornherein die Bürgschaft der Dauer, war es unmöglich, die schneidenden Interessengegensätze zwischen einer siegreich auf dem Weltmarkt vordringenden Bourgeoisie und einem bankrotten, von Jahr zu Jahr mehr aus dem letzten Loche pfeifenden Junkertum auszugleichen, so ging es doch eine Weile, namentlich solange beide Teile in der Knebelung der Arbeiterklasse ein gemeinsames Interesse hatten, das ihnen gleichermaßen am Herzen lag. Seitdem aber das Proletariat seine Bande gesprengt hat, ist die Freundschaft zwischen Bourgeoisie und Junkertum immer mehr in die Brüche gegangen und die wachsende Unmöglichkeit, sie noch einmal unter einen Hut zu bringen, wird schlagend durch das ewige Fiasko der „Sammelpolitik" bewiesen, selbst wenn sie ein so höchst gewandter Mann wie Herr Miquel betreibt. In dies schon so sehr gestörte zarte Verhältnis ist nun die Flottenvorlage wie eine Bombe gefahren; die ostelbischen Junker schäumen vor Entrüstung, dass ein halbes Dutzend von Milliarden verpulvert werden soll, ohne dass ein Pfennig davon zu Liebesgaben für sie abfällt, und sie haben mit ihren Beschlüssen zum Fleischbeschaugesetze ihre geharnischte Erklärung dahin abgegeben, dass sie ihre „großen Mittel" haben wollen, wenn die Bourgeoisie die „grässliche Flotte" haben soll. Damit wird aber wieder die platonische Begeisterung der Bourgeoisie für die Flotte beträchtlich gedämpft werden; droht die Gefahr, dass die Geschichte für sie selbst, und nicht bloß für die Arbeiter kostspielig werden kann, dann wird bald der Augenblick kommen, wo sie die Flottenvorlage ins Pfefferland wünscht.

Bläst man in der Hexenküche, wo diese Vorlage zurecht gebraut werden soll, die dünne Asche der patriotischen Redensarten von den Kohlen, so schlagen sofort die hellen Flammen zum Dache heraus. Der bürgerlichen Opposition wäre jetzt eine glänzende Gelegenheit geboten, alte Scharten auszuwetzen, aber es rächt sich bitter an den Parteien dieser Opposition, dass sie längst verlernt haben, prinzipielle Politik zu treiben. Selbst die freisinnigen Nichts-als-Freihändler, die sich vor zwanzig Jahren noch der Weltpolitik des krachenden Kapitalismus widersetzten, sind jetzt teilweise zu ihr übergelaufen; was sie lockt, ist dieselbe Aussicht auf die chinesische Beute, die auch der Flottenvorlage das eigentliche Rückgrat gibt. Von den Ultramontanen ist nicht mehr zu sagen, als dass ihr Treiben in dieser ernsten Zeit einen verlocken könnte, noch nachträglich vor den nationalliberalen Mannesseelen der siebziger Jahre den Hut zu ziehen. Die fielen als „maßgebende Partei" zwar sehr oft, aber doch gegen sozusagen halbwegs anständige Trinkgelder um, gegen eine wirtschaftliche Gesetzgebung, die in ihrer Art ein historischer Fortschritt war. Die Ultramontanen aber werden nach unzähligen Umfallen abgelohnt mit der – lex Heinze7, einem der elendesten Machwerke, womit die deutsche Reichsgesetzgebung verunziert werden konnte, und selbst dieser schäbige Sündensold entgeht ihnen vielleicht noch. Einer Partei von solcher – sagen wir – Anspruchslosigkeit einen unerschütterlichen Widerstand gegen die Flottenvorlage zuzutrauen, hieße sehr leichtfertige Politik treiben.

Es ist klar, was sich aus alledem für die deutsche Sozialdemokratie ergibt. Für sie stehen sehr große Dinge auf dem Spiele, sehr große Verluste oder sehr große Gewinne. Es liegt allein in ihrer Hand, ob sich diese oder jene Schale der Waage senken soll. Nimmt sie die Dinge auf die leichte Schulter, verlässt sie sich allzu sehr auf die offensichtliche Hinfälligkeit der Gründe, womit die Flottenvorlage befürwortet wird, auf die tatsächliche Strohfeuernatur der ganzen Flottenschwärmerei und auf alle solche an sich ja sehr erfreuliche Zeichen des Überdrusses, den die große Mehrheit der Nation an der reaktionären Weltpolitik empfindet, so kann sie trotzdem die unangenehmsten Überraschungen erleben: Krupp und Stumm sind sehr mächtige Leute, die Freisinnigen und Ultramontanen sehr unsichere Kantonisten, und der deutsche Philister hat sich schwerlich schon zum letzten Mal ein X für ein U machen lassen. Wird aber die Flottenvorlage mit oder ohne Reichstagsauflösung angenommen, dann erhält die herrschende Reaktion eine unberechenbare Stärkung, und dann wird sie schon aus dem einfachsten Selbsterhaltungstrieb alle bisherigen Errungenschaften der Arbeiterklasse schwer gefährden.

Jedoch die Sozialdemokratie kann diese Möglichkeit nicht nur abwenden, sondern auch der reaktionären Weltpolitik einen noch ungleich empfindlicheren Stoß als einst durch ihren heroischen Widerstand gegen das Sozialistengesetz, ja den entscheidenden Stoß versetzen, wenn sie mit voller Kraft und Wucht gegen die Flottenvorlage mobilmacht, die Interessen der gesamten Nation gegen dies ungeheuerliche Attentat wachruft, alle widerstrebenden Elemente auslöst und um sich schart, genug, eine revolutionäre Expansivkraft entfaltet wie an jenem unvergesslichen 20. Februar, dessen zehnte Wiederkehr sie eben gefeiert hat8. Wir wollen damit nicht sagen, dass sie bisher zu wenig gegen das Flottengesetz agitiert habe. Aber wenn behauptet werden sollte, sie habe darin schon genug geleistet, so würden wir allerdings antworten, dass in diesem Punkte gar nicht genug getan werden kann.

Gegenüber der Auflösung und Verwirrung in allen bürgerlichen Parteien, gegenüber der Weltpolitik, die tatsächlich den Weltkrach beschwört, indem sie angeblich den Weltmarkt erobern will, gegenüber einer Desorganisation der Geister, die mit untrüglichen Prophetenzungen den nahenden Untergang der kapitalistischen Geschichtsperiode verkündet, gilt es, die alte prinzipielle Fahne der Partei zu entfalten, die einst Ferdinand Lassalle aufpflanzte. Damals begrüßten sie einige Hunderte, wie heute einige Millionen, aber der Kampf und Siegesruf ist derselbe, heute wie damals: Hier unser Banner, und dies unsere Ehre!

1 Die kastilischen Städte (Commidades) nutzten die europäischen dynastischen Wirren anlässlich der Wahl Karls V. zum römisch-deutschen Kaiser 1519 zum Kampf gegen die feudale Despotie. 1520 brach der bewaffnete Aufstand der verbündeten Städte (Communeros) unter Juan de Padilla aus. Letzter Anlass war die Unzufriedenheit über Karls niederländische Ratgeber. Die Erhebung wurde vom spanischen Adel im Stich gelassen, und das Söldnerheer Karls schlug die Communeros am 23. April 1521 entscheidend bei der Stadt Villalar.

3 Gemeint ist das auf dem Erfurter Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 1891 angenommene Parteiprogramm. (Siehe Friedrich Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 22, S. 225 bis 240.)

7 Lex Heinze wurde die am 25. Juni 1900 angenommene Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch genannt, die durch einen Prozess gegen einen Berliner Zuhälter namens Heinze angeregt wurde. Die Novelle ergänzte und verschärfte die gesetzlichen Bestimmungen gegen Kuppelei, Zuhälterei und gegen die Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das Zentrum und die Konservativen versuchten bei den Reichstagsdebatten auch Festlegungen in die Novelle einzufügen, die zur weitgehenden Beschränkung der noch bestehenden künstlerischen und literarischen Freiheit geführt hätten. Diese reaktionären Machenschaften wurden durch den Protest weiter Kreise der Bevölkerung, vor allem auch der Künstler und Schriftsteller, besonders aber durch den Kampf der Sozialdemokratie, vereitelt.

8 Am 20. Februar fand der erste Wahlgang der Reichstagswahlen 1890 statt. Die Sozialdemokratische Partei errang in diesem Wahlgang 20 Sitze, bei den Stichwahlen am 1. März weitere 15 und insgesamt 1.427.298 Stimmen. (Siehe auch Friedrich Engels: Die deutschen Wahlen 1890. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 22, S. 3-6.)

Kommentare