Franz Mehring 18980810 Bismarck und das historische Urteil

Franz Mehring: Bismarck und das historische Urteil

10. August 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 641-644. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 278-282]

In den zehn Tagen, die seit Bismarcks Tode verflossen sind, haben unzählige Aufsätze sich historisch mit dem toten Manne abzufinden gesucht. Die meisten davon und geradezu alle, die in der bürgerlichen Presse das Licht der Welt erblickt haben, waren mehr oder minder kritiklose Überschwänglichkeiten, die der Tag verschlungen hat, wie sie der Tag gebar. Anders steht es mit dem Urteil der sozialdemokratischen Presse, die sich redlich abgemüht hat, festzustellen, worin die historische Bedeutung Bismarcks bestanden habe. Dabei ist dann eine mannigfach schattierte Auffassung herausgekommen, von dem drastischen mortuum flagellave1 des „Hamburger Echo" bis zu einer gewissen Annäherung an die bürgerlichen Überschwänglichkeiten, unter Berufung auf das sine ira et studio des Tacitus, dessen eigentümliche Bedeutung als Geschichtsschreiber beiläufig darin besteht, dass er niemals ohne, sondern immer mit Eifer und Zorn geurteilt hat.

Zum Teile beruht diese Verschiedenheit der Auffassung auf Unterschieden des Temperaments, über die sich nicht rechten lässt. Wenn wir es mit dem mortuum flagellave des Hamburger Parteiblatts halten, wenn wir nicht wissen, wo wir gefühlvolle Anwandlungen beziehen sollen am Grabe eines Mannes, der sich bis in die Schatten des Todes hinein an der wollüstigen Henkersphantasie berauschte, das klassenbewusste Proletariat nieder zu kartätschen, so mag das an einem beklagenswerten Mangel menschlichen Edelmuts liegen, der uns mehr veranlassen sollte, im stillen Kämmerlein zu trauern, als über feinere und weichere Naturen abzusprechen. Insoweit darf dem persönlichen Temperament aller mögliche Spielraum eingeräumt werden. Aber eine gewisse Grenze muss hier doch auch innegehalten werden: Das persönliche Temperament lässt sich nicht einfach mit dem historischen Urteil verwechseln. Und es fordert unseres Erachtens entschiedenen Protest heraus, wenn dies Parteiblatt den toten Bismarck einen „revolutionären Geist" nennt, oder jenes Parteiblatt meint, erst nach Jahrzehnten werde ein historisches Urteil über Bismarck möglich sein, bis dahin schwanke sein Charakter in der Geschichte, von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, wobei denn auch noch die materialistische Geschichtsauffassung in jener missverständlich verwaschenen Anwendung herhalten muss, die den einzelnen von jeder historischen Verantwortung auf Kosten der allgemeinen Zustände entlasten möchte.

In seinen bestimmenden Grundzügen steht das historische Urteil über Bismarck heute so fest, wie es nach hundert oder fünfhundert Jahren nur immer feststehen mag, wenigstens für denjenigen, der sich auf dem Boden wissenschaftlicher, die historische Entwicklung nach dem immanenten Spiel ihrer Kräfte beurteilender Auffassung bewegt. Wer freilich noch an das Märchen der großen Männer glaubt, die aus den Wolken schneien, um bald fördernd, bald hemmend in die menschliche Entwicklung einzugreifen, mag nicht wissen, was es mit dem historischen Bismarck auf sich hat, aber der würde es, falls er so lange leben könnte, nach hundert oder fünfhundert Jahren auch noch nicht wissen. Die historische Rolle, die Bismarck gespielt hat, war durch die Klassenkämpfe bestimmt, in denen er lebte und wirkte, und die Klassenkämpfe in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts liegen so durchsichtig und klar vor, dass wirklich nicht abzusehen ist, auf welche Offenbarungen noch gewartet werden soll, um das historische Urteil über Bismarck zu finden.

Seit dem sechzehnten Jahrhundert waren Fürsten- und Junkertum die herrschenden Klassen in Deutschland. Das Bürgertum entwickelte sich unendlich viel langsamer als in England und Frankreich, und sobald es kräftig genug war, um den Tanz mit seinen Unterdrückern zu beginnen, saß ihm schon sein historischer Erbe, das Proletariat, im Nacken. Lieber wollte es mit den Fürsten und Junkern kompromittieren2 als mit den Arbeitern gemeinsam die absolutistisch-feudale Wirtschaft stürzen. Aber die Fürsten und Junker fürchteten die Bourgeoisie nicht weniger, als die Bourgeoisie das Proletariat fürchtete; ihnen begreiflich zu machen, dass sie immer noch am klügsten daran täten, mit der Bourgeoisie auf Kosten des Proletariats zu paktieren, war Bismarcks historischer Beruf. Hätte die deutsche Bourgeoisie im Jahre 1848 ihre historische Aufgabe so gründlich erfüllt wie die französische Bourgeoisie im Jahre 1789 und die englische Bourgeoisie noch hundert Jahre früher, so wäre Bismarck sein Lebtag nicht über die Rolle des barock-geistreichen Spaßmachers hinausgekommen, die er auf dem Vereinigten Landtag von 1847 spielte.

Er war damals ein halb bankrotter Junker mit sehr gutem und sehr hungrigem Magen, mit vielem Talente für Geschäfte, energisch, rücksichtslos, aber noch feudal vom Scheitel bis zur Sohle, wie männiglich sich aus seinen damaligen Briefen und Reden unterrichten kann, eine überragende Erscheinung höchstens in dem engen Kreise des märkischen Junkertums. Er nahm willig den anrüchigen Posten des preußischen Gesandten am wiederhergestellten Bundestage an; erst in dem reichen Schachermarkte Frankfurt schmarutzte er seine Lehrjahre durch, lernte er, dass gute Geschäfte nur mit der Bourgeoisie zu machen seien; die würdevolle Grazie, womit heute die Frankfurter Börsendemokratie vor seinem Sarge „grüßend den Degen senkt", hat bei aller unwiderstehlichen Komik doch ihren triftigen Sinn. Auch war Frankfurt eine gute Warte, um zu studieren, wie sich gute Geschäfte mit der Bourgeoisie machen ließen. Bismarck wandte sich von der bankrotten Staatskunst der Habsburger ab und dem Wundermanne an der Seine zu, der die politischen Ansprüche der Bourgeoisie niederzuhalten und doch ihre materiellen Produktivkräfte zu entfalten verstand. Der preußische Junker wurde ein Schüler Bonapartes und ist es all sein Lebtag geblieben, plumper und geistloser noch, aber ebendeshalb auch erfolgreicher als sein Lehrer. Bonaparte war viel zu tief in den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat eingeweiht, um nicht bei all seinen Schwarzkünsteleien von des Gedankens Blässe angekränkelt zu werden; Bismarck war altmärkisch-junkerlicher Naturbursche genug, um sich einzubilden, dass er leicht die Bourgeoisie prellen könne und noch leichter das Proletariat. Deshalb ging er entschlossener und tatkräftiger vor als sein Vorbild, natürlich nur solange es überhaupt ging.

Vorläufig fand er mit seinem fröhlichen Selbstvertrauen weder bei den Fürsten und Junkern noch bei der Bourgeoisie wohlwollendes Gehör. Erst als sich die streitenden Teile in dem preußischen Verfassungskonflikte so verheddert hatten, dass keiner von beiden mehr ein noch aus wusste, als weder der König einen Staatsstreich noch die Fortschrittspartei eine Revolution wagen wollte, schlug Bismarcks Stunde. Die neun Jahre von 1862 bis 1871 sind seine eigentlich historische Zeit. Damals hat er viel geleistet, nicht als schöpferischer Geist, der über den Dingen waltete, nicht als Staatsmann, der die historischen Triebkräfte zu erkennen und dadurch zu beherrschen verstand, aber als geschickter Diplomat, der die längst zur historischen Notwendigkeit gewordene Einheit soweit zurecht flickte, wie sie den Interessen der herrschenden Klassen entsprach. Dass er dabei mit den althergebrachten Mitteln der Diplomatie arbeiten musste, verstand sich am Rande; es ist ebenso ungerecht, ihm aus der Fälschung der Emser Depesche und dergleichen mehr ein persönliches Verbrechen zu machen, wie es ungerecht ist zu sagen, dass er in revolutionärem Entschlüsse den nationalen Drang nach Einheit befriedigt habe. Das hat er nicht getan und auch niemals tun wollen. Was er leisten konnte und was er nicht leisten konnte, spiegelt sich vielleicht am treffendsten in dem Worte, das er den liberal-demokratischen Einheitspolitikern so oft zugerufen hat: Ihr wollt ja dasselbe wie ich, aber ihr wollt es immer so, wie es nicht geht. Der bürgerlich-moderne Kulturstaat, wie er in England und Frankreich besteht, lag so ganz außerhalb seines Gesichtskreises, dass er ihn einfach für unmöglich erklärte. Und freilich war es sein historisches Glück, dass es der Unfähigkeit der deutschen Bourgeoisie unmöglich war, ihren Beruf zu erfüllen und einen solchen Staat herzustellen.

Sein historisches Unglück aber war, für die selbstischen Herrschaftszwecke der unterdrückenden Klassen Geister wachgerufen zu haben, die er nicht bändigen konnte. Die Dinge wuchsen ihm über den Kopf, als er der historischen Entwicklung, die er selbst in gewissem Sinne und bis zu einer gewissen Grenze gefördert hatte, ein gebieterisches Halt zurufen wollte. Seit dem Frühjahr 1871 hat er wesentlich nur Unfug getrieben, ganz ähnlich wie die beiden anderen Nationalhelden des deutschen Philisters, wie Luther und der alte Fritz, in ihren letzten Jahrzehnten. In dem erstarkenden Klassenbewusstsein des Proletariats stieß dann Bismarck auf eine für ihn unüberwindliche Macht; je heftiger er dagegen anrannte, um so mehr zerbrach er sich den Kopf, bis ihm die Sozialdemokratie triumphierend den Fuß in den Nacken setzte. Ein „revolutionärer Geist" ist er nie gewesen; will man ihn einen Revolutionär nennen, so war er ein Revolutionär wider Willen, der durch seine ungewöhnlich beschränkte und verblendete Arbeiterpolitik die revolutionäre Arbeiterbewegung mächtig gefördert hat. Und nun gar den Mann, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu sagen pflegte, das klassenbewusste Proletariat trachte nach dem Schlüssel des Geldschranks und müsse mit Kartätschen zusammengeschmissen werden, einen „Staatsmann" nennen, heißt den denkbar gröbsten Missbrauch mit diesem viel missbrauchten Worte treiben.

Da Bismarck ein Diplomat der alten Schule war, die am liebsten hinter den Kulissen machenschaftete, so ist es nicht nur möglich oder wahrscheinlich, sondern sogar gewiss, dass noch viele Enthüllungen über seine einzelnen Handlungen ans Tageslicht kommen werden, wie solche Enthüllungen namentlich seit seiner Entlassung schon vielfach aufgetaucht sind. Und selbstverständlich kann dadurch das historische Urteil über ihn im Einzelnen modifiziert werden. Aber vollständig unmöglich ist ein Umsturz dieses Urteils in seinen bestimmenden Grundzügen. Es mag durch neue Enthüllungen festgestellt werden, dass Bismarck bei dieser oder jener Gelegenheit etwas geschickter oder moralischer gehandelt hat, als bisher angenommen wurde, obgleich bei den bisherigen Enthüllungen seine Geschicklichkeit und Moralität gewöhnlich tiefer als vordem in die Brüche gekommen sind. Jedoch schlechterdings durch keine Enthüllung mehr wird die Tatsache aus der Welt geschafft werden, dass Bismarck ein Diplomat der alten Schule war, dem die Rückständigkeit der deutschen Zustände vor mehr als einem Menschenalter einen tiefgreifenden Einfluss auf die deutsche Entwicklung gestattete, aber dem seit zwanzig Jahren die Sozialdemokratie in einem opferreichen Kriege sein eigensüchtiges und die Interessen der deutschen Nation schwer schädigendes Handwerk immer gründlicher und nachdrücklicher gelegt hat.

Wir verstehen recht gut, wenn die herrschenden Klassen um ihren „Heros" jammern, dessengleichen sie nimmer wieder sehen werden; weniger verständlich ist, dass in einzelnen Arbeiterblättern, sei es auch gewiss ohne böse Absicht, ein durchaus klarer und für die Arbeiterklasse überaus ehrenvoller Tatbestand durch die triviale Redewendung verdunkelt wird, ein historisches Urteil über Bismarck lasse sich erst in ferner Zukunft fällen.

1 mortuum flagellave (lat.) – einen Toten schlagen (geißeln).

2 Muss heißen „kompromisseln".

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