Franz Mehring 18981130 Bismarcks Denkwürdigkeiten

Franz Mehring: Bismarcks Denkwürdigkeiten

30. November 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Elster Band, S. 321-324. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 288-292]

Die umfangreichen Auszüge aus Bismarcks Memoiren, womit die Cottasche Buchhandlung in Stuttgart seit acht Tagen die gutgesinnte Presse überschwemmt hat, haben sofort einen lebhaften Kampf der Meinungen hervorgerufen. Auf der einen Seite wurde das Werk als eine unerschöpfliche Quelle genialer Weisheit gefeiert, woraus die deutsche Nation ihren Durst nach Erkenntnis für Jahrhunderte löschen könne, auf der anderen Seite wurde unter nachdrücklichem Hinweis auf die groben Schnitzer, die sich schon in den Auszügen fanden, überhaupt jeder historische Wert der postumen Veröffentlichung bestritten.

Nachdem wir das Buch selbst gelesen haben, vermögen wir weder dieser noch jener Seite zuzustimmen. Unseres Erachtens ist es weder so gut, wie von hüben, noch so schlecht, wie von drüben behauptet wird. Als politisch-staatsmännisches Brevier für den patriotischen Deutschen kann es schon deshalb nicht gelten, weil Bismarck sich sehr wenig darauf einlässt, allgemeine Weisheitssätze zu formulieren, die als Ariadnefaden in dem Labyrinth des politischen Wandels und Wechsels dienen können. Er schreibt als praktischer Politiker, der seine praktische Politik zu rechtfertigen und zu verteidigen sucht. Aber wenn er dabei oft gegen die historische Wahrheit verstößt, so wie sie heute bereits als gesichert betrachtet werden darf, so ist damit nicht schon die historische Wertlosigkeit seiner Aufzeichnungen festgestellt. Persönliche Denkwürdigkeiten haben nicht den Zweck, abschließende Geschichtswerke zu sein; ihre Verfasser wollen die Dinge nicht schildern, wie die Dinge tatsächlich gewesen sind, sondern wie sie selbst die Dinge angesehen haben, und diese subjektive Auffassung kann, sobald sie in die historische Entwicklung eingegriffen hat, von historischer Bedeutung sein, auch wenn sie mit der tatsächlichen Wirklichkeit noch so sehr kollidiert.

So viel muss freilich dabei vorausgesetzt werden, dass der Memoirenschreiber seine subjektive Auffassung ehrlich wiederzugeben sucht. Hieran lassen es aber Bismarcks Memoiren im Ganzen und Großen nicht fehlen. Es gibt wohl einzelne Stellen darin, wo man unabweislich den Verdacht schöpfen muss, dass sich Bismarck wider besseres Wissen über peinliche Geständnisse hinwegzuhelfen sucht. Die auffälligste dieser Stellen ist die Darstellung der Ereignisse, die den Deutsch-Französischen Krieg herbeigeführt haben; zu dem ehrlichen Eingeständnis, dass die spanische Thronkandidatur des Prinzen von Hohenzollern eine Falle gewesen sei, in die Bonaparte gelockt werden sollte und sich auch wirklich locken ließ, mag sich Bismarck nicht bequemen; er dreht und wendet sich, um so weit als möglich die ihrer Zeit mit tausend teuren Eiden beschworene Fabel aufrechtzuerhalten, dass er das unschuldige, urplötzlich vom Wolfe überfallene Lamm gewesen sei. Aber das sind immerhin nur einzelne Stellen; von ihnen abgesehen, kann nicht wohl bestritten werden, dass Bismarck die in seinen letzten Zeiten oft so unangenehm hervortretende Sucht zu prahlerischen Übertreibungen in diesen Denkwürdigkeiten zu bändigen gewusst hat.

Nicht am wenigsten rechnen wir es ihm zum Guten, dass er es gänzlich unterlässt, sich mit dem berüchtigten Schlagworte seiner Bewunderer auf den „Ödipus" hinauszuspielen, der die soziale Frage als die Frage des Jahrhunderts zu lösen gewusst habe. Von der Arbeiterbewegung, die ihn im Leben so viel gepeinigt und gequält hat, spricht er so gut wie gar nicht; nirgends eine Andeutung seiner Verhandlungen mit Lassalle, kaum eine gelegentliche Erwähnung des Sozialistengesetzes, dazwischen wohl einmal ein kleines Kompliment an „sozialdemokratische Verrücktheiten", aber dann auch wieder völliges Schweigen über die Arbeiterversicherungsgesetze, dieser bei seinen Lebzeiten und nicht zuletzt von ihm selbst so überschwänglich gepriesenen Blüte aller historischen Sozialreformen. Über das allgemeine Wahlrecht handelt er auf ein paar Seiten, jedoch auch hier in anerkennenswerter Weise darauf verzichtend, die Verleihung dieses Rechts in dem Lichte einer anderen Absicht darzustellen, als er tatsächlich gehabt hat. Bismarck sagt ganz richtig, er habe das allgemeine Wahlrecht, „die damals stärkste aller freiheitlichen Künste", als Waffe in seinen auswärtigen Kämpfen betrachtet, in seinen Kämpfen mit Österreich, als eine Drohung mit letzten Mitteln im Kampfe gegen auswärtige Koalitionen. Sobald diese Waffe ihre Dienste getan habe, sei es ihm nicht darauf angekommen, sie wieder zu zerbrechen. Praktisch halte er das allgemeine Wahlrecht nur insoweit für richtig, als es mit öffentlicher Abstimmung verbunden sei. „Die Einflüsse und Abhängigkeiten, die das praktische Leben der Menschen mit sich bringt, sind gottgegebene Realitäten, die man nicht ignorieren kann und soll." Das klingt gewiss sehr skurril. Die Hungerpeitsche des Land- und Schlotjunkers als „gottgegebene Realität" über den politischen Rechten der arbeitenden Klassen schwebend! Gleichwohl begreifen wir die Empörung nicht, die sich gegen diese Offenbarung Bismarcks gekehrt hat. Ohne Zweifel hat er so bei dem Erlass des allgemeinen Wahlrechts gedacht, das ist von kundiger Seite ja auch stets behauptet worden; wir können doch nur froh sein, dass er seine hinterhältigen Gedanken ehrlich bekennt und der immerhin bedenklichen Legende, als hätten die deutschen Arbeiter dem „sozialen Königtum" die Verleihung des allgemeinen Wahlrechts zu danken, ein für allemal den Genickfang gibt.

Möglich, dass wir den Tag vor dem Abend loben, wenn wir Bismarcks gänzliches Schweigen über seine „Weltgeschichtlichen Taten" auf sozialpolitischem Gebiet als einen Beweis von Ehrlichkeit einschätzen; vielleicht hat er sich darüber doch noch verbreitet in dem dritten Bande, den die Verlagshandlung einstweilen nicht herausgegeben haben soll. Dagegen spricht aber doch, dass Bismarck in den beiden veröffentlichten Bänden sich ganz überwiegend mit seiner diplomatischen Tätigkeit beschäftigt. Das war von ihm klug, denn auf diesem Gebiet lag wirklich, was er von historischer Stärke besaß, und es ist für seine Leser erfreulich, denn wie man sonst über die diplomatische Tätigkeit denken mag, so wird man allemal gern einen Autor über ein Metier sprechen hören, das er wirklich versteht, namentlich wenn er verhältnismäßig so frei von aller Ruhmredigkeit ist, wie Bismarck in diesen Abschnitten seiner Memoiren. Manches, wie das Kapitel über Nikolsburg, lässt sich sogar nicht ohne einen gewissen menschlichen Anteil lesen; man begreift, dass Bismarck gelegentlich das Bedürfnis hatte, sich vier Treppen hoch aus dem Fenster zu stürzen, wenn man hört, wie ihm nach dem Siege bei Königgrätz alle errungenen Erfolge durch die Torheit und den Unverstand im eigenen Lager aus den Händen zu gleiten drohen, wie dieselbe Beschränktheit und Feigheit, die er nach jahrelangem zähem Kampfe endlich über sich selbst hinaus zu treiben vermocht hatte, in ihrer überhitzten Überhitzung nun ihn selbst zu begraben droht. Es ließe sich wohl sagen: Das war seine gerechte Strafe, aber wenigstens der deutsche Bürgersmann hat das Recht dazu nicht, denn sonst hätte er selbst noch ganz anders dafür gestraft werden müssen, dass er die ihm gebührende historische Rolle dem Junker Bismarck überließ.

Allerdings sind die wirklich spannenden Kapitel in den beiden Bänden ziemlich dünn gesät. Als Bismarck die Denkwürdigkeiten zu entwerfen begann, war er schon über die Mitte der siebziger Jahre hinaus, und Bucher, der ihm dabei zur Hand ging, war nicht viel jünger; die sonst zugezogenen Hilfskräfte aber scheinen ganz untergeordneter Art gewesen zu sein. Die Anordnung und Verteilung des Stoffes, der oft sehr eingewickelte und holperige Stil, die fast unglaubliche Leichtfertigkeit, womit ganze Massen längst gedruckten und selbst schon mehrfach gedruckten Materials mitten in die Darstellung geschleudert werden, unbekannt aus welchen Gründen und unbekannt nach welchen Gesichtspunkten, erinnern allzu häufig daran, dass Bismarck bei der Auswahl seiner literarischen Gehilfen immer ein eigentümliches Unglück oder ein eigentümliches Ungeschick hat. Vieles andere, was wir aufgetischt bekommen, ist schon von Busch, Hahn, Harden, Hesekiel, Poschinger und anderen erzählt worden. Wer die historische Literatur über Bismarck kennt, wird so sehr viel Neues aus dem Buche nicht erfahren.

Wer sie aber nicht kennt, würde freilich sehr in die Brüche geraten, wenn er an jedem Satze mit naiver Gläubigkeit hinge. Es gibt schwerlich auch nur eine Seite in dem Buche, die nicht der kritischen Kontrolle durch andere historische Zeugnisse bedürfte, abgesehen natürlich von den mitunter ermüdend weiten Strecken, wo nur Urkunden abgedruckt werden. Die Darstellung ist auch viel zu unvollständig, um irgendein noch so notdürftiges Bild von dem historischen Leben im Deutschland der letzten Jahrzehnte zu geben; selbst als Autobiographie Bismarcks enthält sie breite Lücken. Eine angenehme und leichte Lektüre ist das Buch nicht, eine schwere Lektüre freilich auch nicht in dem Sinne, dass die Mühe des Durcharbeitens entsprechend gelohnt wird. Ebenso wenig dient es, was wir ihm selbstverständlich als einen Vorzug anrechnen, irgendeinem Skandalbedürfnis der Bourgeoisie. Die Antipathien und Sympathien Bismarcks sind wohl erkennbar, wie sie denn, soweit sie hervortreten, schon längst bekannt waren; was Bismarck über seine Beziehungen zum Kaiser Wilhelm sagt, wird das Bild nicht wesentlich verändern, das man sich nach anderen Quellen davon gemacht hat; nur über die Kaiserin Augusta urteilt er mit einer Schärfe, der man ein beträchtliches Maß persönlichen Hasses anmerkt.

Eine bemerkenswerte politische Wirkung dürften Bismarcks Memoiren demnach nicht haben. Ihr Inhalt mag wohl einige Zeit lang von der patriotischen Presse ausgeschlachtet werden, aber dann wird das Buch einer schnellen Vergessenheit anheimfallen. Nach Form und Inhalt, nach seinen besseren und seinen schlechteren Seiten ist es gleich wenig dazu angetan, ein patriotischer Katechismus des biederen Bourgeoispublikums zu werden. Für die Fragen, welche die Gegenwart und die nächste Zukunft bewegen, ist sehr wenig darin zu finden.

Um seinen Wert für die historische Wissenschaft genau festzustellen, wäre eine sehr ins Einzelne gehende Untersuchung notwendig. Schon deshalb, weil es sich dabei nur um Einzelheiten handeln kann. Irgendwelche den bisher sicher festgestellten Tatbestand umwälzende Enthüllungen finden sich nirgends in dem Werke, und die historischen Betrachtungen, die Bismarck gelegentlich einflicht, sind ohne besondere Bedeutung. Er legt sich die Dinge nach seinen praktisch-politischen Bedürfnissen zurecht, was von seinem Standpunkt aus ganz erklärlich war, aber mit einer objektiv-wissenschaftlichen Würdigung der historischen Entwicklung natürlich nichts zu tun hat.

Wohl aber wollen wir nicht verhehlen, dass sich Bismarcks persönliches Bild in diesen Denkwürdigkeiten heller abspiegelt als irgendwo anders seit dreißig Jahren. Man kann ihm, wie er nun einmal war, gerechter werden, weil er auf die wilden Ausfälle gegen die modernen Kulturbewegungen verzichtete, die sonst zu seinem täglichen Brote gehörten.

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