Franz Mehring 19110728 Bismarcks Jugend

Franz Mehring: Bismarcks Jugend

28. Juli 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 601-608. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 263-272]

Erich Mareks, Bismarck. Eine Biographie. Erster Band. Bismarcks Jugend 1815 bis 1848. Mit zwei Bildnissen. Stuttgart und Berlin 1909, J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. 476 Seiten. Geheftet 7,50 Mark.

Diese neueste Biographie Bismarcks hat mit der ältesten, die gerade vierzig Jahre vor ihr erschienen ist, mit Hesekiels „Buche vom Grafen Bismarck", den Vorzug gemeinsam, dass sie aus den Archiven der Familie Bismarck schöpfen durfte. Sonst unterscheiden sich beide freilich, wie sich ein altmodischer „Kreuz-Zeitungs"-Poet von einem modernen Professor unterscheidet, der mit allen Wassern der historisch-seminaristischen Methode gewaschen ist.

Womit jedoch nicht gesagt sein soll, dass die geschichtliche Wahrheit bei Mareks immer besser fährt als bei Hesekiel. Ihrer offiziösen Biographenpflicht, Bismarck als patriarchalischen Vater seiner Hintersassen zu schildern – während er bekanntlich all sein Lebtag selbst nach ostelbischem Junkermaßstab ein überaus hartherziger Grundherr gewesen ist –, genügen beide mit gleichem Eifer, allein bei Hesekiel sieht man eher, wie und wo. Er gibt ganz ehrlich die überaus dürftigen Naturalien an, die die Taglöhner auf Bismarcks Gute Kniephof bezogen haben, und fügt hinzu, dass sich der Taglohn für den Mann auf 4, für die Frau auf 3, im Winter für jedes noch auf 1 Silbergroschen weniger belaufen habe, wobei noch 156 Mannstage und 26 Frauentage im Jahre hätten unentgeltlich getan werden müssen. Diese so sehr erleuchtenden Zahlen gleiten bei Herrn Mareks sachte unter den Tisch; indem er ganz im Vorbeigehen bemerkt, dass der bare Taglohn für Männer und Frauen nur gering gewesen sei und eine große Anzahl Tage ohne Entgelt hätte gearbeitet werden müssen, preist er die „patriarchalischen" Naturalien, die tatsächlich gerade hinreichten, Männer und Frauen vor dem nackten Verhungern zu bewahren.

Beide Biographen sind gleich entzückt von Bismarck als witzigem Briefschreiber. Hesekiel aber gestattet seinen Lesern ein selbständiges Urteil, indem er ihnen wörtliche Proben unterbreitet. So schrieb Bismarck am 9. April 1845 an seine beiläufig achtzehnjährige Schwester: „Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass in meinem Nebenfluss der Zampel ein Teerfahrer mit seinem Pferde ertrank. Außerdem sind in Gollnow mehrere Häuser eingestürzt, ein Sträfling im Zuchthaus hat sich wegen Prügel erhängt, und mein Nachbar, der Gutsbesitzer… in…, hat sich wegen Futtermangel erschossen; drei Witwen und ein unmündiges Kind trauern in tränenlosem Schmerz an der blutigen Bahre des Selbstmörders." Bei Herrn Mareks aber lesen wir: „Empfindliche Gemüter mochten vieles bei dem für möglich halten, dessen sarkastischer Witz und ablehnende Sicherheit ihnen unbequem und unbehaglich waren. Er war einmal voll sprühender Weltlichkeit und selbstverständlicher Souveränität; nicht jedem durfte er so ungestraft wie seiner Schwester schreiben: Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass in meinem Nebenfluss der Zampel ein Teerfahrer mit seinem Pferde ertrank – und Schlimmeres folgt." Was er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.

Das sind gewiss Kleinigkeiten, aber anders als an Kleinigkeiten lässt sich die Methode des Herrn Mareks nicht aufzeigen, und indem sich diese Kleinigkeiten von Seite zu Seite häufen, kommt schließlich eine erkleckliche Masse von Schönfärberei heraus. Schon durch seine Biographie des Kaisers Wilhelm hat Herr Mareks bewiesen, dass er wie geschaffen ist, die Größen der neureichsdeutschen Herrlichkeit historisch zu verewigen. Er ist im allgemeinen vorsichtig genug, unliebsame Dinge nicht völlig totzuschweigen; es muss schon ganz arg kommen, ehe er sich dazu entschließt, wie er zum Beispiel in seiner Biographie des alten Wilhelm nichts von den Standgerichten in Baden weiß, die seinem Helden den Namen des „Kartätschenprinzen" eingetragen haben. Aber er weiß alles, was ihm nicht in seinen loyalen Kram passt, so gesprächig in belletristische Redensarten und psychologische Deuteleien einzuwickeln, dass, wer die Dinge sonst nicht kennt, dadurch leicht geblendet werden kann. Zudem wird die Darstellung des Herrn Mareks auf diese Weise ungemein weitschweifig; was er über Bismarcks Jugend auf nahezu 500 Seiten zu erzählen weiß, ließe sich bequem auf dem vierten oder fünften Teile dieses Raumes unterbringen, soweit es sich um wissenswerte Dinge handelt; schließlich leidet auch sein Held mehr, als dass er gewinnt durch die ermüdende Manier des Biographen, ängstlich mit halben und vieldeutigen Worten um die Tatsachen selbst herum zu trippeln.

Als Bismarck am 1. April 1815 geboren wurde, war seine Familie seit bald einem halben Jahrtausend erst auf einigen altmärkischen und dann auch auf einigen hinterpommerschen Gütern angesiedelt. Sie gehörte zu dem „schlossgesessenen" Adel der Altmark, der nur aus sieben Familien bestand und einige Ehrenvorrechte vor dem Zaunjunkertum voraus hatte, aber sie stand ganz im Banne dieses Junkertums: in schroffem Gegensatz zu der benachbarten Familie Schulenburg, die im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Menge Generäle und Marschälle, Bischöfe und Minister und sogar der Republik Venedig einen berühmten Feldherrn stellte. Auch als Reisläufer1 in französischen oder holländischen Diensten blieben die Bismarcke ganz im Dunkeln. Ihr versteckter und verstockter Trotz gegen die moderne Monarchie – wenn man dies allzu schmeichelhafte Wort auf das hohenzollernsche Königtum anwenden darf – erklärt doch nicht die hinsiechende Nichtigkeit ihres Daseins; denn diesen Trotz teilten sie mehr oder minder mit dem gesamten Junkertum. Friedrich Wilhelm I., der einzige Hohenzoller, der ernsthaft mit dem ständischen Adel anzubinden wagte, empfahl in seinem Testament „seinem lieben Sukzessor" die Schulenburg ebenso wie die Bismarck als „schlimme ungehorsame Leute", denen der Daumen aufs Auge gedrückt werden müsse, allein die Schulenburg und andere Junkerfamilien verstanden den Spieß umzukehren und dem Königtum den Daumen aufs Auge zu drücken, wozu es bei den Bismarck niemals langte.

In Bismarcks Vater hatte die geistige Minderwertigkeit der Familie einen Tiefstand erreicht, der nicht wohl mehr überboten werden konnte, aber dieser ungewöhnlich beschränkte Junker hatte als schon älterer Mann ein blutjunges Mädchen heimgeführt, dessen Schönheit es ihm angetan hatte: die verwaiste Tochter des Kabinettsrats Mencken, der namentlich in den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms III. eine einflussreiche Stellung bekleidet und im Sinne der bürgerlichen Aufklärung gewirkt hatte, jedoch an dem altpreußischen System gescheitert war, das nicht gebessert, sondern nur noch zertrümmert werden konnte. Der Freiherr v. Stein, dessen ätzende Kritik der Kabinettswirtschaft bekannt genug ist, hat diesen Großvater Bismarcks dennoch als einen liberal denkenden, gebildeten, feinfühlenden, wohlwollenden Mann von den edelsten Absichten und Gesinnungen geschildert. Mencken selbst stammte aus einer bekannten Gelehrtenfamilie, und in der mütterlichen Ahnenreihe Bismarcks ist die geistige Potenz ebenso stark, wie sie in seiner väterlichen Ahnenreihe gänzlich fehlt.

Er selbst aber stellte die Mencken immer hinter die Bismarck; diese hat er oft gelobt und gepriesen, jene kaum jemals beiläufig erwähnt. Selbst in seinem Verhältnis zu seinen Eltern zeigt sich die gleiche Erscheinung: Von seinem Vater spricht und schreibt er mit großer Liebe, und wenn er in vertraulichen Briefen an seine Schwester gelegentlich über die Schrullen und Wunderlichkeiten des alten Herrn spottet, so immer nur in der Form harmlosen Scherzes; in seinen Urteilen über die Mutter, von der er doch allein den Verstand geerbt hatte, den ihm der Vater unmöglich vererben konnte, bricht immer ein scharfer Grundton durch, auch wenn er sie lobt. Das hat auf seine loyalen Biographen abgefärbt, und bei Herrn Mareks erscheint die Frau beinahe schon als der böse Dämon des Hauses und namentlich ihres berühmten Sohnes.

Es ist zu wenig von ihr bekannt, um ihr erschöpfendes Charakterbild zu entwerfen; sicher ist jedoch, dass, was an ihr bekrittelt wird, ihr überwiegend zur Ehre gereicht. Unbestritten war sie eine energische und gescheite Frau, in den Anschauungen der bürgerlichen Aufklärung aufgewachsen, sei es auch nur nach preußisch-deutschem Zuschnitt, und es war vielleicht ihr Verhängnis, aber doch nicht ihre Schuld, wenn ihr geistes- und willensschwacher Mann sich durch sie bedrückt fühlte. Sie musste, wohl oder übel, das Hausregiment führen; hat sie durch die „Neuerungen", die sie im Betrieb der Familiengüter einführte, den Vermögensverfall der Familie beschleunigen helfen, so ist diese Klage der Ihrigen nicht unbefangen, und als verdächtig muss sie schon deshalb erscheinen, weil die Klagen derselben Seite über andere „Neuerungen" der Frau durchaus hinfällig sind.

Mütterlicher Ehrgeiz war die Leidenschaft, die sie ganz und gar beherrschte; das Ziel ihres Lebens sah sie darin, aus ihren beiden Söhnen bessere und kräftigere Männer zu machen, als der Vater dieser Söhne war. „Sie wollte", wie Bismarck nach ihrem Tode schrieb, „dass ich viel lernen und werden sollte, und es schien mir oft, dass sie hart, kalt gegen mich sei." Diese „Härte" und „Kälte" erläutert sich dadurch, dass die Mutter ihre beiden Söhne nicht nach Junkersitte auf einer hinterpommerschen Klitsche, unter der Aufsicht des schwachköpfigen Vaters und unter der Leitung eines abhängigen Hofmeisters erziehen ließ, sondern sie frühzeitig in eine Berliner Erziehungsanstalt schickte, die nach den Grundsätzen Pestalozzis geleitet wurde. Das hat ihr Bismarck nie vergessen und auch nie vergeben.

Ihrem älteren Sohne schrieb sie, als er ihre Hoffnungen zu enttäuschen begann: „Es war das höchste Ziel meines Lebens, und ich dachte es mir als das größte Glück für mich, das ich erreichen könnte, einen erwachsenen Sohn zu haben, der, unter meinen Augen gebildet, mit mir übereinstimmen würde, der als Mann berufen wäre, viel weiter in das Reich des Geistes einzudringen, als es mir als Frau vergönnt ist." Sie wollte ihren Söhnen vererben, was sie als das höchste Gut des Lebens erachtete: „den Sinn und die Richtung zur höheren geistigen Bildung, die uns allein das Göttliche in unserer Natur offenbaren kann und, wie ich glaube, uns auch allein wahrhaft zu Gott führen kann". Darin sah sie die eigentliche Kunst zu leben in höherem Sinne; „wer nicht mit dem Geiste lebt, wie soll der den Geist vervollkommnen?" Die so schrieb, kann keine gewöhnliche Frau gewesen sein, aber freilich waren ihre Gesinnungen ein frevelhaftes Attentat auf die alten Überlieferungen des Hauses Bismarck.

Und mit diesen Überlieferungen wurde die bürgerliche Frau, die in die junkerliche Familie geschneit war, auf die Dauer doch nicht fertig. Ihre Söhne blieben Junker, nicht nur der ältere, wenig begabte, sondern auch der jüngere, der spätere Reichskanzler, den die Mutter gern in die diplomatische Laufbahn ihres Vaters bugsiert hätte. Auf den Universitäten Göttingen und Berlin bekundete er nichts von geistigen und wissenschaftlichen Interessen; im nichtigen Treiben des aristokratischen Korpslebens vertrödelte er die Zeit und ließ sich für die Examina notdürftig nach Junkersitte durch einen verhungernden „Repetitor" einpauken. Für eine seiner schriftlichen Examensarbeiten hat er auch einmal einen Blick in ein volkswirtschaftliches Werk getan – das einzige vermutlich, das er je gelesen hat, und man begreift die kuriosen Ansichten, die er noch im Alter in volkswirtschaftlichen Angelegenheiten bekundete, wenn man durch Herrn Mareks erfährt, dass es J. B. Says „Traité d'economie politique" gewesen ist.

In Bismarcks praktischer Tätigkeit erst bei der Regierung in Aachen, dann bei der Regierung in Potsdam trat sofort der alte Junkerhass gegen die staatliche Bürokratie hervor. Sie war in Potsdam verzopft genug, um einen aufgeweckten Kopf abzuschrecken, aber in Aachen stand an der Spitze der Regierung der Graf Arnim-Boitzenburg, der immerhin kein landläufiger Bürokrat war. Bismarck selbst hat später von ihm gesagt, dass er zwar die generelle Staatsperücke, aber keinen geistigen Zopf getragen habe. Vor allem konnte Bismarck in Aachen die rheinischen Zustände kennenlernen, um seinen junkerlichen Horizont zu erweitern, allein selbst Herr Mareks gesteht, dass ihm dafür jedes Interesse gefehlt habe.

Beschleunigt wurde sein unausbleiblicher Bruch mit der Bürokratie durch die tödliche Erkrankung der Mutter und den drohenden Bankrott der Familie. Der Sterbenden hat er gestanden, welchen Ekel ihm die bürokratische Tätigkeit verursache, die ihn niemals glücklich machen würde, und sie hat sich damit abfinden müssen, dass ihre Söhne Landjunker wurden. Nach ihrem Tode übernahmen Bismarck und sein Bruder im Jahre 1839 die gefährdeten hinterpommerschen Güter der Familie in gemeinschaftlichen Besitz, während sich der Vater auf das altmärkische Stammgut Schönhausen zurückzog.

In Kniephof, wo er seine Kinderjahre verlebt hatte, hat dann Bismarck bis in sein dreißigstes Lebensjahr als einfacher Landjunker gehaust. Er hat sich hier den Ruf des „tollen Bismarck" erworben, was Herrn Mareks wahre Stilkrämpfe verursacht; namentlich regt sich dieser treffliche Historiker darüber auf, dass es sich keinesfalls bei jenem Rufe um „niedere Liebesgeschichten" gehandelt haben könne, obgleich er selbst einige Dutzend Seiten vorher aus dem Briefe eines dem jungen Bismarck sehr nahestehenden Grafen Keyserling zitiert hat, dass Bismarck „in der Liebe dem Naturtrieb ohne große Skrupel folgte". Sieht man die Dinge nicht mit philisterhaft-professoralen Augen an, so erscheint das wilde Leben, das Bismarck in dieser Zeit geführt hat, doch nur als ein Zeugnis dafür, dass ihm das dumpfe und stumpfe Dasein seiner Altvordern nicht mehr als der Güter höchstes erschien, dass die Saat, die seine Mutter in seinen Geist zu säen versucht hatte, doch nicht ganz auf steinigen Boden gefallen war.

Nicht zwar als ob er über den ostelbischen Junkerhorizont hinausgewachsen wäre! Sowenig wie ehedem die rheinischen Verhältnisse, machten die englischen und französischen Zustände einen tieferen Eindruck auf ihn, als er sich, von der Leere seines Daseins angeekelt, auf eine längere Reise begab. Das gibt auch Herr Mareks zu, indem er an die Reise erinnert, die Camillo Cavour etwa zur selben Zeit nach England und Frankreich unternahm: „Er tat es lernend, als der Sohn und Zögling des neuen bürgerlich-liberalen Zeitalters in Wirtschaft und Staat, Bismarck sicherlich nur als Tourist, dem diese Fremde Fremde blieb, ein Gegenstand seiner Beobachtung, aber nicht seiner Studien." Ein erneuter Versuch, bei der Regierung in Potsdam „auf eine Ministerstelle" hinzuarbeiten, scheiterte noch schneller als der frühere, nicht nach ein paar Monaten, sondern schon nach ein paar Wochen. Der Hass des Landjunkers gegen den modernen Staat blieb ganz derselbe, selbst wenn dieser Staat nur das vormärzliche Preußen war.

Aber mit der zeitgenössischen Literatur und Philosophie ist Bismarck damals in einige Berührung gekommen, und was er von moderner Bildung besaß, hat er sich in dieser Zeit erworben. Er las von Philosophen David Strauß, Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach, von Historikern Louis Blanc, wohl die Geschichte der zehn Jahre, von Dichtern neben Shakespeare, den er immer sehr geliebt hat, in jener Zeit namentlich Byron, dann auch Georges Sand und Vigny, von deutschen Dichtern Anastasius Grün, Lenau, Sallet, Herwegh, Freiligrath. Auch Heine hat er offenbar fleißig gelesen, obgleich Herr Mareks zur Beruhigung seiner patriotischen Leser versichert: „Auf Heine scheint mir nichts hinzuweisen." In seinen damaligen Briefen heinisiert Bismarck oft genug, manchmal mit Glück, manchmal auch mit Ungeschick, wie in jenem Beispiel von dem ertrunkenen Teerfahrer und dem Selbstmörder mit den drei Witwen. Im Ganzen aber hat er diesen Kursus in moderner Literatur mit Erfolg durchschmarutzt, denn ein feiner Stilist ist er all sein Lebtag gewesen.

Nicht auf politischem und sozialem, aber auf religiösem Gebiet hatte er sich zu emanzipieren gewusst, und das ist ihm um so höher anzurechnen, als er in seiner Kniephofer Zeit mitten in jener widerlichsten Schicht des Junkertums lebte, die alles, was ihr noch an feudalen Vorrechten übrig war, die Patrimonialgerichtsbarkeit, die gutsherrliche Polizei, die Jagdgerechtigkeit, das Kirchenpatronat usw., mit einem widerlichen Pietismus überkleisterte, um es ihren geplagten Hintersassen als Gottes Ordnung von Anbeginn erscheinen zu lassen. Bismarcks nächste Gutsnachbarn, Thadden-Trieglaff und dessen Schwiegersohn, Moritz v. Blanckenburg, waren Hauptvertreter dieser Richtung; durch die Brüder v. Gerlach, mit deren einem Thadden verschwägert war, reichten ihre Beziehungen bis zum Berliner Hofe; im Belgarder Kreise hielt ihnen Kleist-Retzow die Stange und im hintersten Hinterpommern ein Herr v. Puttkamer in Reinfeld. Natürlich arbeiteten sie mit aller Kraft daran, auch Bismarck in ihre Netze zu ziehen, dessen geistige Überlegenheit sie alle mehr oder weniger erkannten; sie „bebeteten" ihn, wie sie sich in ihrem muckerischen Kauderwelsch ausdrückten, auf dass er wieder beten lerne, und namentlich Blanckenburg scheute selbst nicht vor den undelikatesten Mitteln zurück, um die verlorene Seele dem Teufel zu entreißen.

Herr Mareks behandelt die für jedes gesunde Gefühl abstoßende Geschichte mit feierlichem Ernste und bietet seine ganze Pseudopsychologie auf, um zu beweisen, dass Bismarck endlich diesem Missionswerk erlegen sei. Dadurch verdirbt er aber ganz den Eindruck der menschlich vielleicht anziehendsten Episode in dem ganzen Leben Bismarcks. Muckerische Anlagen besaß Bismarck durchaus nicht, und mit dem lieben Gott hat er immer auf einem sehr kühlen Fuße gestanden. Schon in seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er das abendliche Kindergebet aufgegeben: unter der ganz plausiblen Begründung, entweder wirke Gott wirklich alles und führe also in dem Betenden nur ein Selbstgespräch, oder es sei eine Vermessenheit des Betenden, durch eine menschliche Bitte an der Vollkommenheit des göttlichen Ratschlusses zu zweifeln. Bismarck hat denn auch jahrelang dem „Bebeten" seiner Mitjunker einen stoischen Widerstand entgegengesetzt, und wenn er dennoch in ihren Kreisen „fast eine Heimat" fand, so wurde er durch den irdischen Zauber einer Frau gefesselt, die Tochter Thaddens und Gattin Blanckenburgs.

Pietistisch erzogen, betete sie zwar auch mit für Bismarcks Seelenheil, aber da sie von Natur ein heiteres und schönes Weltkind war, so wurde ihr lebhaftes Temperament niemals völlig verschüttet unter dem muckerischen Aschenregen, der erst im Hause ihres Vaters und dann im Hause ihres Gatten auf sie niederstäubte. Bismarck hatte sie erst kennengelernt, als sie bereits mit Blanckenburg verlobt war, und beide haben diese Schranke geachtet. Sie lasen zusammen Byron und Georges Sand, Freiligrath und Lenau, unbekümmert um alle bösen Mäuler; auch Dante gehörte zu ihrer Lektüre, aber dessen berühmter Vers: An diesem Tage lasen sie nicht weiter, hat sich nie an ihnen erfüllt. Es war ein Verhältnis, das einen besseren Darsteller verdient hätte als den Religionsforscher Mareks: auf seiner Seite eine echte, aber durchaus verhaltene Leidenschaft, auf ihrer Seite ein ganz klein wenig weibliche Genugtuung, den „wilden Junker" gezähmt zu haben, in der Hauptsache jedoch ein ehrliches Bestreben, ihn ihrer liebsten Freundin zuzuwenden, dem weder klugen noch schönen, aber sehr frommen Fräulein Johanna v. Puttkamer in Reinfeld.

Auf einer gemeinsamen Harzreise im Sommer 1846 knotete sie mit feinen Fingern die ersten Fäden, aber schon im Herbste desselben Jahres brach in Pommern eine verheerende Seuche aus, die erst ihren Bruder und dann ihre Mutter dahinraffte. Darauf ergriff die Krankheit ihren blühenden Körper, der durch die aufopfernde Pflege am Bette der Mutter geschwächt war; nach einem Krankenlager von einigen Wochen schied auch sie dahin. Bismarck, der eben nach Schönhausen übergesiedelt war, das ihm durch den Tod des Vaters zugefallen war, wurde durch die Nachricht von ihrer schweren Erkrankung aufs tiefste erschüttert, und ein Gebet um die Erhaltung ihres Lebens rang sich von seinem Herzen los. Er eilte an ihr Krankenlager; in ihren Phantasien begrüßte sie ihn: Wie freue ich mich, dass du auch gekommen bist; in den Stunden klaren Bewusstseins ließ sie ihm sagen, dass er sich jetzt bekehren möge, es sei die höchste Zeit. Er aber rief, als sie gestorben war: „Dies ist das erste Herz, das ich verliere, von dem ich weiß, dass es warm für mich schlug. Jetzt glaube ich an eine Ewigkeit – oder es hat auch Gott nicht die Welt geschaffen." Ganz vergessen hat er sie nie; als ihm in seinem hohen Alter eine Nichte der Verstorbenen vorgestellt wurde, rief er wehmütig: Was alles schaut aus diesen Augen mich an!

Wenige Wochen nach dem Tode der Freundin erfüllte Bismarck ihren Willen und schrieb an Herrn v. Puttkamer in Reinfeld den vielberühmten Brautbrief, worin er bekennt, nun aus der Sackgasse der Zweifel befreit zu sein, in die ihn Strauß, Bauer und Feuerbach gelockt hätten. Als Ausdruck seiner augenblicklichen Stimmung ist der Brief nicht unwahr, zumal wenn man, wie billig, erwägt, dass er auf einen alten, verbiesterten Pietisten wirken sollte. Die Antwort, die Bismarck bekam, schien ihm eine Absage zu sein, so wenig war er noch an den Muckerstil gewöhnt; erst der kundigere Blanckenburg belehrte ihn, dass sie, ins Menschliche übersetzt, eine Zusage sei. Immerhin hatten sich die Alten auf ein langwieriges theologisches Examen gerüstet, als Bismarck nach Reinfeld kam; er verblüffte sie aber zu sprachlosem Erstaunen, als er ohne alle Präliminarien das Mädchen beim Kopfe nahm und abküsste. Ein halbes Jahr darauf, im Sommer 1847, wurde sie seine Frau, zur selben Zeit, wo er im Vereinigten Landtag zuerst als Politiker an die Öffentlichkeit trat.

Das ebenso langweilige wie langwierige Gerede, das Herr Mareks im Text über Bismarcks „Bekehrung" vollführt, wird am besten beleuchtet durch einen Brief Bismarcks, den er im Anhange mitteilt. Darin meldet Bismarck seinem Bruder seine Verlobung und fügt hinzu: „In Glaubenssachen gehen wir, mehr zu ihrem als zu meinem Leidwesen, etwas auseinander, wenn auch nicht so sehr, wie Du meinesteils glauben magst, denn mancherlei innere und äußere Ereignisse haben in der letzten Zeit Veränderungen in mir hervorgebracht, durch die ich mich, was früher, wie Du weißt, nicht der Fall war, berechtigt halte, mich den Bekennern der christlichen Religion beizuzählen. Wenn ich auch in vielen Lehren, vielleicht in denen, die jene für die Hauptsache halten, soweit ich mir selbst klar bin, lange nicht auf gleichem Gesichtspunkte mit ihnen stehe, so ist doch stillschweigend eine Art von Passauer Vertrag2 zustande gekommen. Übrigens liebe ich den Pietismus an Frauen und verabscheue weibliche Lichtfreunde." Mit dieser „Bekehrung" war es wirklich nicht weit her.

Auf dem Fuße des „Passauer Vertrags" hat sich Bismarck denn auch mit den alten Betbrüdern Blanckenburg und Kleist-Retzow geeinigt. Da er immerhin nicht mehr der alte Gottesleugner war, aber sich schon auf dem Vereinigten Landtag als ein starrköpfiger Verfechter der junkerlichen Interessen erwies, so „bebeteten" sie ihn nicht weiter und sahen ihm, bis auf gelegentliche Stoßseufzer, seinen Mangel am rechten Glauben nach. Fuchsteufelswild wurden sie erst wieder, als es in der Mitte der siebziger Jahre einen Augenblick schien, Bismarck könne die Interessen des Junkertums den Interessen der Bourgeoisie opfern. Sie standen an der Spitze des Verleumdungsfeldzugs, den damals die Junker gegen Bismarcks persönliche Integrität richteten mit der Parole, der allgewaltige Reichskanzler müsse wieder so klein werden, dass er dem kleinsten pommerschen Junker aus der Hand fräße; von Blanckenburg speziell rührte die Behauptung her, dass Bismarcks Konto in Bleichröders Büchern mit einem unsauberen Börsengewinn besudelt sei. Als sich dann herausstellte, dass Bismarck gar nicht daran dachte, die junkerlichen Interessen zu verraten, suchte Blankkenburg ihn wieder reuig auf, aber Bismarck ließ dem alten Jugendfreunde durch seine Bedienten die Türe weisen, was ihm unter den obwaltenden Umständen auch gewiss nicht zu verdenken war.

Pfiffiger als Blanckenburg, verstand sich Kleist-Retzow darauf, wie man einen echten Junker versöhnen kann, auch wenn man einen tödlichen Streich nach seiner persönlichen Ehre geführt hat. In der ersten Lesung des Sozialistengesetzes erging sich Kleist-Retzow in so wütenden Schmähungen auf die Arbeiterbewegung, dass sich sogar der Präsident v. Forckenbeck zu der Erklärung veranlasst sah, er würde die Rede nicht zugelassen haben, wenn es sich nicht gerade um die Frage sozialdemokratischer Ausschreitungen gehandelt hätte. Während jedoch der mattherzige Liberale wenigstens einen sanften Rutenstreich auf den Nacken des Thersites fallen ließ, erhob sich Bismarck feierlich von der Estrade des Bundesrats und stieg in den Saal hinab, um der kleinen Giftkröte versöhnt die Hand zu reichen. Und im Zeichen des Sozialistengesetzes „bebeteten" sie einander, dass alle Teufel ihre höllische Freude daran hatten.

1 Einige Vertreter der Schönhausener Linie der Bismarcks haben als Offiziere in französischem und holländischem Sold gestanden.

Reisläufer – soviel wie Reisige; Kriegsknechte, die auf Geheiß ihres jeweiligen Herrn Kriegszüge (Reisen) unternahmen.

2 Gemeint ist der nach langen Verhandlungen auf dem Fürstentag zu Passau 1552 von Kaiser Karl V. und den evangelischen Fürsten unterzeichnete vorläufige Friedensvertrag zwischen katholischen und evangelischen Reichsständen. Er sicherte Freiheit für die Augsburgische Konfession und allen im Schmalkaldischen Krieg Geächteten Amnestie zu. Der Passauer Vertrag wurde mit einigen Modifikationen durch den Augsburger Religionsfrieden 1555 zum Reichsgesetz erhoben.

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