Franz Mehring 18980921 Die Rache des Vasallen

Franz Mehring: Die Rache des Vasallen

21. September 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 283-287]

Ehe noch Bismarcks Leiche in dem Gruftgewölbe bei Friedrichsruh beigesetzt ist, nimmt der tote Säkularmensch seine Genugtuung an „diesen Hohenzollern", die ihn vor der Zeit kaltgestellt haben. „Büschchen", sein Lieblingstintenkuli, veröffentlicht gleichzeitig in Leipzig und in Paris und in London Indiskretionen über Indiskretionen Bismarcks, worin die Lehnsherren des „kurbrandenburgischen Vasallen" eine sehr absonderliche und nichts weniger als erbauliche Rolle spielen. Die patriotische Welt ist entsetzt, und die „Hamburger Nachrichten", das Organ der Familie Bismarck, verleugnen sogar den im gemeinsamen Stiefelputzen allezeit getreuen Kumpan.

Damit hätten sie aber nur ruhig zu Hause bleiben können. Herr Moritz Busch ist gewiss ein armseliger Skribifax, der sich früher redlich vom oberflächlichen Kompilieren oder auch, je nachdem es sich traf, unredlich vom heimlichen Plagiieren nährte, bis ihn Bismarck vor etwa dreißig Jahren zu seinem Leib- und Magenoffiziosus machte. Damit kam Busch aber in eine Sphäre, für die er durch seine Kompilier- und Plagiiertätigkeit gut vorbereitet war. Auf das Abhorchen und Ablauern jeder Äußerung, die von den Lippen seines Gebieters fiel, war er bald vortrefflich eingefuchst, wovon sich jedermann schon aus seinem vor zwanzig Jahren veröffentlichten Lakaienbuch über Bismarck und dessen Leute überzeugen konnte. So dachte und sprach Bismarck wirklich, wie Busch ihn hier denken und sprechen lässt, und Bismarck hat das auch bereitwillig anerkannt; er hat nie bestritten, was dieser Getreue ihm in den Mund legte, und bis an Bismarcks Lebensende blieb „Büschchen" ein willkommener Gast am Teetisch in Friedrichsruh. In diesem Sinne ist an der Echtheit der Bismärckischen Indiskretionen durchaus kein Zweifel möglich, und es ist nur die landesübliche Heuchelei der bürgerlichen Presse, womit sie sich jetzt an den Strohhalm klammert: So kann der große, der unsterbliche Bismarck nicht gesprochen haben, das hat alles sein elender Tintensklave erfunden.

Anders als um die subjektive Echtheit steht es natürlich um die objektive Wahrheit dieser Indiskretionen. Wenn Treitschke einmal sagt, „alle freimütigen Historiker" seien einig in dem Urteil, dass Metternich und Napoleon I. die beiden größten oder doch beinahe die größten Lügner des Jahrhunderts gewesen seien, so war es sehr klug, die Einschränkung des „beinahe" zu machen, denn Bismarck leistete in diesem Punkte noch ungleich mehr als Metternich oder Napoleon I. oder selbst als beide zusammen genommen. Beispielsweise hat er, nach den neuesten Veröffentlichungen von Busch, dem Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, durch die Behauptung eins anzuhängen versucht, dieser Prinz habe „Überfluss an Geld" gehabt, und es sei ihm nur um ein angenehmes Leben ohne großen Gedankenreichtum und Sorgen zu tun. Nun ist es landbekannt, dass der Kronprinz Friedrich, von seinem argwöhnischen und eifersüchtigen Vater überaus knapp gehalten, sein Lebtag in ewigen Geldsorgen schwebte. In diesem Falle lässt sich aber auch der Beweis führen, dass Bismarck wider besseres Wissen log. Denn ein anderer seiner Tintenkulis, der Edle v. Poschinger, veröffentlichte gerade vor zwei Jahren ein Pamphlet über die Damenpolitik am Berliner Hofe, worin er nach Bismarcks Diktaten die liberalen Velleitäten des Kaisers Friedrich darauf zurückführte, dass dieser durch seine finanziellen Nöte in die Gewalt liberaler Geldjuden gekommen sei, die ihm dann auch die bekannte Kundgebung gegen den Antisemitismus1 als die „Schmach des Jahrhunderts" abgezwackt hätten.

Oder ein ander Beispiel! Vor einem Jahre veröffentlichte die „Zukunft" aus Bismarcks Munde die zur Verdächtigung der Kaiserin Augusta bestimmte Behauptung, der liberale Schwätzer Vincke habe nach der Revolution von 1848 „im Landtag" den Antrag stellen wollen, den damaligen König Friedrich Wilhelm IV. zur Abdankung zu zwingen und mit Übergehung des Thronfolgers, des späteren Kaisers Wilhelm, dessen Frau zur Regentin für ihren noch unmündigen Sohn, den späteren Kaiser Friedrich, zu ernennen. Der Plan sei aber daran gescheitert, dass Bismarck als Vertreter der konservativen Partei gedroht habe, einen Antragsteller, der mit solchem Antrag hervorkäme, als Hochverräter verhaften zu lassen. Als freisinnige Blätter mit Recht dies Märchen beim richtigen Namen nannten, holte sich die „Zukunft" nochmals Auskunft bei Bismarck und schwor darauf, die Geschichte sei wahr und wahrhaftig im Jahre 1848 passiert. Hätte sich der Tintenkuli, dem Bismarck den Humbug aufband, nun auch nur die Mühe genommen, in das Mitgliederverzeichnis der preußischen Nationalversammlung von 1848 – einen „Landtag" gab es damals überhaupt nicht – einen flüchtigen Blick zu werfen, so würde er gefunden haben, dass weder Vincke noch Bismarck in dieser Versammlung saßen. Bismarcks „konservative Partei" war in ihr allenfalls durch ein paar komische Käuze vertreten, die durch die Drohung, eine Maus, geschweige denn einen Menschen wegen „Hochverrats" verhaften zu wollen, noch viel komischer geworden wären. Das liberale Schwätzertum vom Schlage Vinckes war allerdings reichlich – und allzu reichlich – in der Nationalversammlung vertreten, aber es dachte so wenig an die Abdankung des Königs und die Übergehung des Prinzen von Preußen, dass es sich vielmehr „schützend vor den Thron stellte" und den Prinzen von Preußen, den die gerechte Empörung der proletarischen Massen aus dem Lande gejagt hatte, feierlich wieder zurückholte, um sein Thronfolgerecht sicherzustellen. Die ganze Räubergeschichte der „Zukunft" hatte sich Bismarck einfach aus den Fingern gesogen, um eine tote Frau zu verdächtigen.

Die Verlogenheit Bismarcks erklärt es übrigens auch, weshalb er in der Auswahl seiner Tintenkulis auf die Busch und Poschinger, und wie sie sonst heißen, beschränkt war. Er selbst klagte ja darüber, dass „anständige Leute" für ihn nicht schreiben, aber die Aufgabe, seine ewigen Schwindeleien mit eherner Stirn durch dick und dünn zu verteidigen, war so entwürdigend, dass selbst einigermaßen talentvolle Tintenkulis davor zurückschreckten. Der einzige Mann von literarischer Bildung und Fähigkeit, der jemals in Bismarcks Nähe ausgehalten hat, nämlich Lothar Bucher, hat sich darüber zu Busch in folgender drastischer Weise ausgelassen: „Danken Sie Ihren Sternen, dass Sie nicht bei diesen Memoiren (nämlich bei Bismarcks Memoiren, bei deren Abfassung Bucher half) an meiner Stelle sind. Nicht allein, dass Bismarcks Gedächtnis fehlerhaft ist und sowenig Interesse für das zeigt, was er getan hat, er fängt auch an, sogar einfache und feststellende Tatsachen und Begebenheiten absichtlich falsch darzustellen. Er will an nichts, was fehlschlug, seinen eigenen Anteil eingestehen, und will nicht einräumen, dass irgend jemand neben ihm irgendwelche Wirkung hinterlassen hat, den alten Kaiser vielleicht ausgenommen, dem er, als Gegenfolie zum jungen Kaiser, eine viel höhere Stellung gibt, als ihm gerechterweise zukommt… Er besteht darauf, dass er keineswegs für den Kulturkampf2 verantwortlich war, dass er nichts tat, um den Ansichten Pius des Neunten über die Unfehlbarkeit zu opponieren, und ebenso wenig gegen Arnims verderblichen Ehrgeiz, obgleich jeder Mensch das Gegenteil weiß. Selbst in Fällen, wo seine Politik glänzend erfolgreich war, will er nichts anerkannt wissen. Er leugnete den Brief an Prim, bis ich ihn daran erinnerte, dass ich selbst ihn dem General in Madrid eingehändigt hätte. Die ganze Kandidatur des Prinzen von Hohenzollern wird jetzt von Bismarck so dargestellt, als sei es eine ganz private Hofangelegenheit gewesen, eine reine Familienangelegenheit." Ob Busch diese Äußerung Buchers ganz sinn- und wortgetreu wiedergegeben hat, mag nicht zweifelsfrei sein; Pressknechten, wie ihm und seinesgleichen, kommt es in erster Reihe immer auf ein gutes, auf ein rasend gutes Geschäft an, und vor diesem entscheidenden Gesichtspunkt muss selbst ihre Bismarckanbetung weichen; Busch sucht die Memoiren Bismarcks im Voraus möglichst schlechtzumachen, da er ihre Konkurrenz für seine Schmöker fürchtet. Aber Buchers Äußerung stimmt zu sehr mit anderweitig sichergestellten Tatsachen überein, als dass sie nicht im Wesentlichen so getan sein sollten. Die Urheberschaft des Kulturkampfes hat Bismarck auch sonst den schreiendsten Tatsachen zum Trotz abgeleugnet, und die von ihm im Sommer 1870 so feierlich und so oft proklamierte Lüge, dass die spanische Thronkandidatur des Prinzen von Hohenzollern nicht eine von ihm selbst betriebene politische Intrige, sondern eine rein private Angelegenheit gewesen sei, mag ihm so in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass er schließlich selbst daran geglaubt hat.

Am unzurechnungsfähigsten schwindelt Bismarck ins Blaue hinein, wenn er sich seinem Hass gegen die „Unterröcke", die Kaiserinnen Augusta und Viktoria, rücksichtslos überlässt. Es ist der Hass des ostelbischen Junkertums gegen bürgerliche Kultur. Die Kaiserin Augusta war unter Goethes Leitung erzogen worden, und ihre Briefe zeigen, dass sie in ihren kräftigen Jahren auf der Höhe der zeitgenössischen Bildung stand. Sie wurde deshalb nach ihrer Heirat mit Abneigung und Misstrauen von dem preußischen Hofe empfangen, von dem Alexander v. Humboldt damals sagte, es gäbe keinen Ort in Europa mehr, wo der Hof und die vornehme Gesellschaft so völlig geistlos, roh und unwissend sei und es sein wolle wie in Berlin. Und ganz ebenso ging es einige Jahrzehnte später der Kaiserin Viktoria, als sie aus englischen Verhältnissen in die ostelbische Rückständigkeit kam. Sämtliche Hoflakaien, Kammerherren und Säbelrassler schlugen vor Entsetzen über die „Engländerin" lang hin, als die junge Kronprinzessin zur Zeit des preußischen Verfassungsstreits meinte, die Lösung des Konflikts sei doch sehr einfach, der König habe seine Minister aus der oppositionellen Mehrheit des Abgeordnetenhauses zu wählen. Wenn die Kaiserin Augusta und die Kronprinzessin Viktoria die Fortsetzung des Krieges nach Sedan und die brutale Gendarmenpolitik des Kulturkampfs verurteilten, so waren sie in der Tat, um mit Humboldt zu reden, nicht „so völlig geistlos, roh und unwissend" wie der ostelbische Junker Bismarck.

Als Beiträge zur Zeitgeschichte stehen Bismarcks Indiskretionen aus dem Grabe unendlich tief unter Varnhagens Tagebüchern, über deren angeblichen und teilweise ja auch wirklichen Klatsch die patriotischen Historiker heute noch außer sich sind. Historischen Wert haben sie nur, soweit sie sich durch unzweifelhafte Tatsachen und Zeugnisse kontrollieren lassen. Aber um so charakteristischer sind sie für ihren Urheber. In gewissem Sinne wurzeln Bismarcks Erfolge ebenso wie seine Misserfolge darin, dass er im Grunde immer der alte feudale Junker blieb. Das machte ihn völlig blind für die wirklich treibenden Kräfte des Jahrhunderts, aber das gab ihm auch gegenüber dem preußischen Königtum eine Festigkeit und Sicherheit des Auftretens, die sich der Liberalismus niemals zu erwerben vermocht hat. Bismarck betrachtete sich als „kurbrandenburgischen Vasallen", der als solcher dem Könige als Lehnsherrn innerhalb bestimmter Grenzen verpflichtet war, wie übrigens der König auch ihm, aber der sonst als freier Mann handelte, die Könige „nackt" sah und sie als einfache Ziffern in seine politische Rechnung stellte. Das war sein historisches Recht, wie es sein historischer Erfolg war, und selbst wenn Bismarck gegenüber der bürgerlichen Roture oder gar gegenüber der proletarischen Kanaille das mystische Recht des Königtums von Gottes Gnaden hochhielt, so leistete er nicht mehr an politischer Heuchelei, als von der feudalen Weltanschauung überhaupt unzertrennlich ist.

Allein wenn Bismarck jetzt aus dem Grabe, getrieben von kläglicher Eitelkeit und Eigenliebe, der bürgerlichen Roture und selbst der proletarischen Kanaille die „Nacktheit" der Könige offenbart, wenn er mit Kot nach den Altären wirft, vor denen er mit gläubig gefalteter Miene all sein Lebtag geopfert hat, so spricht er sich selbst das vernichtendste Urteil, so bekennt er, dass ihm gefehlt hat, was noch den ärgsten Despoten und den schlimmsten Reaktionär zu adeln vermag: der gute Glaube an eine schlechte Sache. Diese Rache des Vasallen krönt würdig das Lebenswerk eines Mannes, der nach einem bekannten und treffenden Worte nie eine Spur edelmütiger Gesinnung verraten hat, und wir beneiden die wundersam konstruierten Augen nicht, die Bismarcks Charakterbild, noch von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, in der Geschichte schwanken sehen.

1 Gemeint ist der Passus im Erlass des Kaisers „An den Reichskanzler" vom 12. März 1888, in dem es heißt: „Ich will, dass der seit Jahrhunderten in Meinem Hause heilig gehaltene Grundsatz religiöser Duldung auch ferner allen Meinen Unterthanen, welcher Religionsgemeinschaft und welchem Bekenntnisse sie auch angehören, zum Schutze gereiche. Ein jeglicher unter ihnen steht Meinem Herzen gleich nahe – haben doch alle gleichmäßig in den Tagen der Gefahr ihre volle Hingebung gewährt." (Briefe, Reden und Erlasse des Kaisers und Königs Friedrich III. Hrsg. von G. Schuster. 2. Aufl. Berlin 1907, S. 342.)

2 „Kulturkampf" ist nach einem Schlagwort Rudolf Virchows die Bezeichnung für Bismarcks Kampf gegen die partikularistischen und antipreußischen Tendenzen vorgeblich besonders der katholischen Geistlichkeit und Kirche 1872-1878, der durch die sogenannten Maigesetze von 1873 (staatliche Anzeigepflicht über Vorbildung und Anstellung von Geistlichen, Einsetzung eines königlichen Gerichtshofes über die kirchliche Disziplinargewalt, Begrenzung der kirchlichen Straf- und Zuchtmittel, staatliche Regelung über den Austritt aus der Kirche) und weitere bis 1875 (Expatriierungsgesetz gegen widersetzliche Geistliche, Auflösung aller Orden und Kongregationen außer denen zur Krankenpflege, Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für Bistümer und Geistliche, Gesetz über die obligatorische Zivilehe) seinen Höhepunkt erlebte. Ein Hauptgrund für den sogenannten Kulturkampf war auch die „Germanisierungspolitik" Preußen-Deutschlands gegen das (katholische) Polen, für die Ausnahmemaßregeln und Gesetze geschaffen wurden.

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