Franz Mehring 19030204 Ein altpreußischer Bürokrat

Franz Mehring: Ein altpreußischer Bürokrat

4. Februar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 577-581. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 322-326]

Männer machen die Geschichte – hinter dieses Schlagwort, das Treitschke zuerst geprägt hat, flüchten sich die bürgerlichen Historiker desto eifriger, je unwiderstehlicher sich die materialistische Geschichtsauffassung ausbreitet. Es ist nicht in dem Sinne gemeint, worin auch der historische Materialismus anerkennt, dass die Menschen ihre Geschichte machen, nämlich unter bestimmten historischen Voraussetzungen, sondern vielmehr in dem Sinne, dass die großen Männer die historischen Voraussetzungen schaffen, unter denen sich der geschichtliche Verlauf der Dinge entwickelt.

Eigentümlich wird diese Auffassung dadurch beleuchtet, dass selbst in der populären Vorstellung, rein unbewusst, ihre großen Männer sich trollen müssen. Nehmen wir einmal die Führer des friderizianischen Zeitalters, den alten Fritz selbst und seinen Vater, den alten Dessauer, den Feldmarschall Schwerin, die Generale Seydlitz, Zieten, Winterfeldt, jeder ist heute noch in der populären Vorstellung eine wirkliche Individualität, eine scharf umrissene Gestalt, die sich mit der anderen gar nicht verwechseln lässt. Ganz ähnlich steht es mit den Führern der sogenannten Befreiungskriege, den Stein, Hardenberg, Blücher, Gneisenau, Yorck und wie sie sonst noch heißen. Man braucht nur einen dieser Namen zu nennen, und der Mann steht sofort anschaulich vor einem.

Nun nehme man aber einmal die Führer des Deutsch-Französischen Krieges von 1870. Wir wollen dem alten Fritz nicht erst das Unrecht antun, den farblosen Drillmeister Wilhelm mit ihm zu vergleichen, aber wenn die Schwerin und Seydlitz und Zieten, die Blücher und Yorck und Gneisenau heute noch in der populären Vorstellung lebendig sind, so sind es die Blumenthal und die Göben und die Werder ganz gewiss nicht. Sie sind für die populäre Vorstellung nichts als Namen. Einer oder der andere dieser Männer, wie Manteuffel oder Steinmetz, mag durch diese oder jene Schnurre, die von ihm erzählt wird, etwas kenntlicher sein, jedoch gerade an dem größten Strategen des Deutsch-Französischen Krieges ist die populäre Vorstellung so gänzlich irre geworden, dass sie ihn nur als den „Schlachtendenker" zu kennzeichnen weiß, was ein reiner Unsinn ist. Klagte doch bei Moltkes hundertstem Geburtstag selbst ein Kriegshistoriker, und nicht der schlechteste seiner Zunft, beweglich darüber, dass es so schwer sei, eine Biographie Moltkes zu schreiben. Die einzige wirkliche Ausnahme von der Regel, dass die Führer von 1870 der populären Vorstellung gänzlich entschwunden sind, bildet Bismarck; je schneller ihr alle anderen Gestalten aus jener Zeit unter den Händen zerrinnen, um so krampfhafter häuft die historische Legende alle möglichen und unmöglichen Ehrenqualitäten auf den Scheitel ihres Säkularmenschen.

Wie nun erklärt sich diese Erscheinung? Es wäre vollkommen verkehrt zu sagen, dass die Männer von 1870 den Männern von 1813 oder den Männern von 1740 an geistiger Bedeutung irgendwie nachgestanden hätten. Die Generale des alten Fritz waren, mit einer oder zwei Ausnahmen, ganz ungebildete Haudegen, und wenn es um die Generale und Minister der sogenannten Befreiungskriege etwas besser stand, so genügt doch schon der eine Name Blüchers, um zu zeigen, dass mit ihm historisch auch noch nicht allzu viel Staat zu machen war. Verglichen mit einem Blücher oder Zieten ragt Moltke wie ein Riese empor, an Bildung und Charakter und Qualität der historischen Leistung. Vielmehr wenn jene in der populären Vorstellung als plastische Gestalten fortleben und dieser höchstens als schiefe Phrase, so liegt das an dem Wechsel, der sich in dem Augenmaß der populären Vorstellung vollzogen hat.

Nicht als ob damit gesagt sein soll, dass der historische Materialismus als wissenschaftliche Theorie bereits auf die populäre Vorstellung zurückwirke! Soweit mögen wir noch nicht sein und sind wir sogar gewiss noch nicht. Aber der historische Materialismus ist nicht von einzelnen Geistern ausgeheckt worden, sondern er ist die geschichtliche Auffassung, die sich im Zeitalter der großen Industrie aus den Dingen selbst entwickelt hat. Gestaltete sie sich in hervorragenden Geistern zu einer wissenschaftlichen Theorie, so wirkt sie instinktiv auch schon in der populären Vorstellung, die sich nun nicht mehr einbildet, dass nach dem Worte Treitschkes und seiner Nachbeter Männer die Geschichte machen. Solange sie daran festhielt, hatte sie natürlich das lebhafteste Interesse an den Männern, die Geschichte machen; deshalb wurden die Blücher und Zieten zu greifbaren Gestalten. Nun ist der populären Vorstellung aber längst, und sei es noch so unbewusst, die Ahnung aufgedämmert, dass die Menschen nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen ihre Geschichte machen und dass, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, die damit gestellte historische Aufgabe auch gelöst wird, sei es nun von diesem oder von jenem. Deshalb haben die Göben und Blumenthal und Moltke im Punkte der Volkstümlichkeit ein so viel ungünstigeres Los gezogen als die Blücher und Yorck und Zieten. Sagte die populäre Vorstellung sich früher: Ohne den Blücher oder den Yorck oder den Zieten wären wir im Sumpfe steckengeblieben, so sagt sie sich heute: Hätte uns Göben nicht aus dem Sumpfe geholfen, so hätte es Blumenthal getan, und hätte Blumenthal es nicht vollbringen können, so hätte es Moltke vollbracht, und wären alle drei daran gescheitert, so wären Krause, Müller und Schmidt auch noch dagewesen, eine historische Aufgabe zu lösen, die nach den einmal gegebenen historischen Voraussetzungen gelöst werden musste.

Diese Betrachtungen werden nahegelegt durch den Tod des Ministers Rudolf Delbrück, nach den bürgerlichen Zeitungsphrasen des „Letzten aus der Schar der großen Männer", die das Deutsche Reich gegründet haben. Delbrück war schon bei lebendigem Leibe seit ein paar Jahrzehnten verschollen, und es ist nicht ohne Interesse zu verfolgen, wie die bürgerlichen Blätter sich abquälen, dem nunmehr toten Manne mit Hilfe des Konversationslexikons einen Nekrolog von ein- oder zweihundert Zeilen zurecht zu schneidern. Im Allgemeinen werden die trockenen Daten seiner amtlichen Laufbahn aufgezählt, und darüber wird eine Brühe von wohlwollenden Redensarten gegossen. Die guten Leute wissen gar nicht, was sie mit Delbrück anfangen sollen; sie können nicht das flüchtigste Bild seiner historischen Persönlichkeit entwerfen, und wir sind die letzten, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen.

Ohne Zweifel hat Delbrück in der preußisch-deutschen Geschichte eine sehr bedeutende Rolle gespielt (eine Redefigur beiläufig, in der sich die Theorie von den Männern, die nach Treitschke und Genossen die Geschichte machen, von jeher selbst persifliert hat, denn dies Geschichtemachen ist tatsächlich immer nur ein Rollenspielen gewesen), eine sehr viel bedeutendere Rolle als einige Dutzend berühmter Generale und Diplomaten zusammen. Delbrück hat in den fünfziger Jahren das von der preußischen Diplomatie und Generalität verschuldete militärisch-politische Olmütz wieder repariert, indem er durch seine Geschicklichkeit die Sprengung des Zollvereins nicht nur zu verhindern, sondern den Zollverein noch beträchtlich zu erweitern und damit die preußische Hegemonie über Deutschland noch sicherer als vor Olmütz zu begründen wusste. Dann hat Delbrück in dem Jahrzehnt von 1866 bis 1876 mit den feudal-zünftlerischen Trümmern auf deutschem Boden aufzuräumen gewusst, wenn auch nicht entfernt so gründlich, wie vom modern-industriellen Standpunkt aus zu wünschen gewesen wäre, so doch viel gründlicher als, den Unterschied der Zeiten mit eingerechnet, ehedem die Stein und die Hardenberg. In dieser Tätigkeit war Delbrück auch nicht so unbedingt die „rechte Hand" Bismarcks, wie er nach einer anderen bürgerlichen Zeitungsphrase genannt zu werden pflegt. Hatte Bismarck im allgemeinen die liebenswürdige Gewohnheit, seine eigenen Dummheiten nachträglich seinen Mitarbeitern in die Schuhe zu schieben, so hatte er im besonderen nicht so ganz unrecht, wenn er später bei seiner reuigen Rückkehr in die Arme des Junkertums zu sagen pflegte, dass er an der vernünftigen, an der historisch-fortschrittlichen Seite der Delbrückschen Gesetzgebung eigentlich keinen Anteil gehabt habe und dass sie mehr oder weniger unter seinem geheimen Widerwillen durchgesetzt worden sei.

Gleichwohl ist es vollkommen erklärlich und eben ein erfreuliches Zeichen dafür, dass die historische Erkenntnis auch in der bürgerlichen Welt sich nicht mehr aufhalten lässt, wenn dieselben Patrioten, deren Herzen bei dem bloßen Namen Steins oder Hardenbergs in Wonnen scheuer Ehrfurcht erbeben, über den toten Delbrück nur einige nichtssagende Phrasen aufzubieten wissen. Er war wirklich kein Held der Nation, sondern eine durchaus farb- und geistlose Natur, ein altpreußischer Bürokrat aus der Schule des Zollvereins. Der Zollverein erwuchs als eine ökonomische Notwendigkeit, der sich die deutschen Despoten und Despötlein zähneknirschend beugen mussten, und aus dem Zollverein entstand die Zollvereinsbürokratie, die einsichtigste und klarste Schicht der altpreußischen Bürokratie, nicht weil sie von vornherein aus den erlesensten Elementen dieser Bürokratie rekrutiert wurde, sondern weil die Tätigkeit im Zollverein ihren Blick erweiterte und über die bornierte Interessenwirtschaft des ostelbischen Junkertums hinaus auf die Kulturinteressen der modernen Welt lenkte. Es ist diese Bürokratie, die den preußischen Staat auf seinen „deutschen Beruf" vorbereitet hat, und es war schon etwas Wahres daran, wenn sie sich in echt bürokratischer Selbstgefälligkeit viel darauf zugute tat, dass sie die eigentliche Elite des Borussentums sei. In einem Nekrolog, den ein Bewunderer Bismarcks über Delbrück schreibt, wird spöttisch angeführt, nach dem Jahre 1866 hätten die Geheimen Finanzräte der Zollvereinsbürokratie gemeint, Bismarck sei ja ein ganz geistreicher und munterer Herr, aber von dem, worauf es historisch ankäme, hätte er doch kaum eine blasse Ahnung. Das mag sehr paradox klingen, allein Bismarcks oft wiederholte Klagen darüber, dass er von Delbrücks wirtschaftlicher Gesetzgebung aufs Glatteis geführt worden sei, sagt im Grunde dasselbe, sintemalen es gerade die historisch-fortschrittliche Seite dieser Gesetzgebung war, woran Bismarck sich stieß.

Ein Glied der altpreußischen Zollvereinsbürokratie ist Delbrück gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Als solches hat er seine Sache leidlich gut gemacht, womit nicht gesagt ist, dass ein anderer Bürokrat gleichen Ursprungs, wenn er auf Delbrücks Stuhl gesessen hätte, sie nicht ebenso gut oder noch besser gemacht haben würde. In jedem Falle ist Delbrück über die Grenze dieser Bürokratie nie hinausgekommen, und nur innerhalb ihrer Grenze verstand er die realen Kräfte des modernen Völkerlebens. Unvergessen ist die Szene, wo er der harrenden Nation feierlich verkünden sollte, dass ihr ein Kaiser wieder geboren sei, und dabei die neue Krone nach einem Worte des damaligen Kronprinzen aus der Hosentasche zog, um sie auf den Tisch des Norddeutschen Reichstags niederzulegen, mit bedenklichem Blick, als wisse er noch nicht, in welche Rubrik des Zolltarifs die gleißende Warenprobe gehöre. Unvergessen ist aber auch die andere Szene, wo Delbrück dem deutschen Reichstag das moderne Bild von Sais mit dem glorreichen Worte entschleierte: „Es ist das Geheimnis unserer Zeit, keine Zinsen zu verlieren." Eine Arbeiterfrage gab es für diesen prinzipiellen Freihändler nicht. Er hat der Arbeiterklasse nichts Gutes und nichts Böses getan, weil sie als solche für ihn gar nicht existierte.

Eins aber besaß dieser altpreußische Bürokrat, was auch die Arbeiterklasse an ihm achten darf, um so mehr, je weniger sie durch die Kleber und Streber der neupreußischen Bürokratie verwöhnt ist. Delbrück war ein Mann von Charakter und Überzeugung. Sobald er auch nur witterte, dass Bismarck sich wirtschaftlich rückwärts zu konzentrieren beginne, sagte er ihm auf und schritt gelassen aus einer doch immer mächtigen Stellung in völlige Dunkelheit. Delbrück hat sich von Bismarck nicht missbrauchen lassen, um die Nation zu täuschen. Bismarck schwindelte damals das Blaue vom Himmel herunter, um zu verhehlen, dass Delbrück gegangen war, weil die wirtschaftliche Reaktion schon an die Tür klopfte; mit solchem Lug und Trug hat sich Delbrück niemals befleckt.

Er opferte sich selbst, um ein lautes Signal zu geben von dem, was kommen musste, und wie kritisch man seiner historischen Wirksamkeit gegenüberstehen mag, so muss man anerkennen, dass er sie in historischen Ehren beschlossen hat.

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