Franz Mehring 19030128 Ein altpreußischer Demokrat

Franz Mehring: Ein altpreußischer Demokrat

28. Januar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 545-550. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 305-311]

Die deutsche Sozialdemokratie beginnt zu ihren Jahren zu kommen; wenige Tage noch, und der hundertste Geburtstag des Mannes kehrt wieder, der ihren ersten Organisationsplan entworfen hat. Und wie schnell sie gewachsen ist, wie weit sie ihre geistigen Horizonte gespannt hat, zeigt sich in der Tatsache, dass es schwer, ja fast unmöglich ist, im engen Rahmen eines kurzen Aufsatzes den Lebenden das historische Wesen jenes Mannes verständlich zu machen.

Franz Ziegler wurde am 3. Februar 1803 geboren, in einem Dorfe der Provinz Brandenburg, als das dreizehnte Kind eines märkischen Hungerpastors. In schwerer Zeit wuchs er auf; von dem Weltgang, den die große französische Revolution mit und unter Napoleon antrat, erfuhren die altpreußischen Landesteile nichts anderes als die unbeschreiblich schweren Lasten des auf erschöpftem Boden hausenden Krieges. Die historischen Fortschritte der revolutionären Gesetzgebung sahen sie nur in dem blassen Widerschein der sogenannten Stein-Hardenbergischen Reformen, der ängstlichen, preußisch-monarchischen Verkrüpplung des großen Emanzipationswerkes, das die französische Nationalversammlung von 1789, auch sie nur unter einem unwiderstehlichen Drucke von außen, aber doch mit revolutionärer Gründlichkeit in einer unsterblichen Augustnacht geschaffen hatte. Jedoch nach dem Siege der europäischen Reaktion über den Erben der Revolution, als die feudale Wirtschaft sich überall auf unserem Kontinent noch einmal einzurichten, als namentlich auch das ostelbische Junkertum mit schimpflichem Erfolg die dürftigen Reformen niederzureißen suchte, die Stein und Hardenberg trotz alledem geschaffen hatten, da gewann der Kampf um diese Reformen eine Bedeutung, die im umgekehrten Verhältnis zu ihrem wirklichen Werte stand. In diesem Kampfe erwuchs die altpreußische Demokratie, und aus ihm erklärt sich jene historische Gebundenheit, die heute den Bildern eines Waldeck, eines Ziegler, selbst eines Johann Jacoby einen befremdenden Zug gibt.

Noch ein anderes Erbe aber trat Ziegler in seinen geistigen Entwicklungsjahren an: die reiche ästhetische Bildung, die von unserer klassischen Literatur ausging und von der Romantischen Schule erhalten, wenn auch fast bis zu unerträglichem Übermaß gepflegt wurde. In Zieglers Wesen mischten sich die Elemente glücklich genug, um ihn nie die Mahnung seines geliebten Goethe vergessen zu lassen, die Mahnung, dass die Muse zu begleiten, doch zu leiten nicht versteht. Er besaß eine Spur von dichterischer Ader, aber sie floss zu spärlich, um seinen klaren und aufs Praktische gerichteten Verstand in verhängnisvollen Selbsttäuschungen zu wiegen; höchstens in vertraulichen Briefen an seine Freunde schmeichelte er sich mit der phantastischen Einbildung, dass seine Sonette die Kraft eines Michelangelo atmeten. Der ästhetische Weg war ihm nicht mehr der einzige, aber doch ein notwendiger Weg zur Freiheit; sich als Mensch in allem Menschlichen auszuleben, als Künstler sein irdisches Dasein zu genießen galt ihm als unerlässliches Bedürfnis und gab ihm jenes feine – wäre das Wort nicht so verbraucht, könnte man sagen –, vornehme Wesen, das, weil es die Frucht einer reifen Bildung war, immer gleich sicher auf sich selbst gestellt blieb, mochte Ziegler nun mit Friedrich Wilhelm IV. ein Witzwort tauschen oder in die Hütten der ärmsten Armut treten, um zu helfen und zu trösten.

Ebendies Bedürfnis des praktischen Zugreifens, ein Bedürfnis, das so stark war wie seine Fähigkeit zu handeln und zu schaffen, war ein drittes wesentliches, ja das wesentlichste Element seines Wesens. Ziegler besaß ein großartiges Organisations- und Verwaltungstalent, und wenigstens acht Jahre seines langen Lebens hat er aus ganzem Holze schneiden können. Er hatte die juristische Laufbahn betreten und bekleidete das Amt eines Rechtsanwaltes oder, wie es damals hieß, eines Justizkommissarius am Land- und Stadtgericht in Brandenburg, als er im Jahre 1840 zum Oberbürgermeister dieser Stadt gewählt wurde. Es war immerhin eine große, aber gänzlich verwahrloste Verwaltung, die Ziegler unter heißen Kämpfen mit dem eng versippten Klüngel, der bisher den städtischen Säckel geplündert hatte, in musterhafter Weise zu reorganisieren verstand. Er regierte die Stadt in der strammen Weise der altpreußischen Demokratie, aber diese Weise war eine Wohltat gegenüber der habgierigen Selbstsucht der bornierten Handwerksmeister und Hausbesitzer, denen Ziegler das Heft aus den Händen wand. Was sie am tiefsten erbitterte, war des Bürgermeisters Fürsorge für das städtische Proletariat, für dessen Leiden Ziegler ein tiefes, nicht aus eitler Patronage, sondern aus wirklicher Herzensgüte entspringendes Verständnis hatte. In diesen Brandenburger Jahren hat Ziegler wohl am glücklichsten gelebt, und sie sind auch seine eigentlich produktive Zeit gewesen; in Brandenburg hat er sich bestatten lassen, fast dreißig Jahre, nachdem er von der Stadt den bittersten Undank erfahren hatte.

Als die Märzrevolution ausbrach, kam die altpreußische Demokratie in die widerspruchsvolle Lage, die Führung in einem Kampfe übernehmen zu sollen, dessen Ausbruch allein schon zeigte, dass ihre Todesstunde geschlagen hatte. Sie hat die Revolution nicht so schamlos verraten, wie die Camphausen und die Hansemann sie verrieten, die Führer der über ihre Klasseninteressen schon vollkommen klaren rheinischen Bourgeoisie, aber sie rückhaltlos anzuerkennen und namentlich ihre notwendigen Konsequenzen zu ziehen, hat sie ebenso wenig vermocht. Von nun an gehen die Wege der Bucher, Rodbertus, Jacoby, Waldeck, Ziegler wunderlich durcheinander; vom Junkertum bis zum Proletariat, vom Feudalismus bis zur Sozialdemokratie streifen sie alle möglichen Parteien; einen sicheren Kurs finden sie niemals mehr.

Gleich Zieglers erstes Auftreten auf der politischen Bühne zeigte diese labyrinthischen Irrwege. Er hatte im Sommer und Herbst von 1848 in seiner Stadt strenge Zucht gehalten und noch am 23. Oktober deshalb ein Belobigungsschreiben von dem reaktionären Minister des Innern empfangen. Acht Tage später, am 31. Oktober, an demselben Tage, wo Wien schon erstürmt wurde, trat Ziegler, in einer Nachwahl gewählt, in die Berliner Versammlung ein und gesellte sich zum linken Zentrum, das von Bucher und Rodbertus geleitet wurde. Es war sicherlich eine ehrliche und lautere Tat, sich am Vorabend eines Staatsstreichs, den sich jedes Kind schon an den Fingern abzählen konnte, noch auf eine Stelle zu setzen, wo Ziegler, wie er wohl wusste, beim Auskehren nicht am Stiele des Besens sein konnte. Aber als dann der Staatsstreich kam und in der Versammlung eine sehr unverfängliche, höchstens allzu harmlose Proklamation beantragt wurde, die das Heer auffordern sollte, die „Gesetzlichkeit unserer Haltung" anzuerkennen, brach Ziegler los: „Die Disziplin ist die Mutter der Siege… das Heer hat die hohe heilige Bestimmung, uns zu verteidigen gegen den äußeren Feind. Wenn in diesem Augenblick das Heer, dies Mittel der Verteidigung, in den Händen des Ministeriums Brandenburg sich befindet, um die Freiheit im Innern zu unterdrücken, so wäre es auf unserer Seite ein Unrecht, wenn wir dies Mittel, das immer ein Staatsgut bleibt, verdürben und zur Auflösung brächten, weil es gerade jetzt in unrechten Händen ist." Dagegen erhob sich selbst Waldeck: „Es ist die Pflicht des Soldaten, die Verfassung zu ehren und sie zu halten. Es ist seine heiligste Pflicht, nicht zu gehorchen, wenn ihm aufgegeben wird, die Verfassung zu verletzen. Das ist heute, das ist morgen, das ist immer der Fall, und es ist furchtbar, wenn jetzt entgegengesetzte Ansichten proklamiert werden." Man würde wieder sehr irren, wenn man daraus schließen wollte, dass Waldeck der geistig hervorragendste dieser altpreußischen Demokraten gewesen wäre. Er war umgekehrt der geistig beschränkteste von ihnen, wie sich bald genug zeigen sollte, als der größte der modernen Klassenkämpfe, der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, in Preußen praktisch zu werden begann.

Nach dem Siege der Gegenrevolution war Ziegler in einem schändlichen Gerichtsverfahren wegen angeblich versuchten Aufruhrs zur Amtsentsetzung, zum Verlust der Nationalkokarde und sechsmonatigem Festungsarrest verurteilt worden. Er trug sein Schicksal wie ein Mann, schuf sich in ehrlicher und mühsamer Arbeit eine neue Existenz, schrieb seine Novellen und gehörte zu den wenigen Achtundvierzigern, die beim Beginn der neuen Ära vor dem grassierenden Vertrauensdusel warnten, dem selbst Johann Jacoby erlag. Damals ist Ziegler mit Lassalle bekannt geworden, und beide haben sehr viel voneinander gehalten. Es war auch keineswegs ein Zufall, der Lassalles große persönliche Neigung für diese altpreußischen Demokraten erklärte; was ihn an die Ziegler, Bucher, Rodbertus fesselte, war ihre ästhetische, historische, philosophische Bildung, die sie turmhoch über die geistlosen Freihandelshausierburschen stellte, in deren Hände die bürgerliche Opposition mehr und mehr geriet. Der Staatskultus, dem Lassalle selbst noch bis zu einem gewissen Grade anhing, hat dann wohl dazu beigetragen, dass er die spezifisch borussische Borniertheit dieser Freunde übersah. Er konnte es um so eher, als namentlich Rodbertus und Ziegler von jeher praktisch und theoretisch ein durchaus aufrichtiges und uneigennütziges Interesse für die Arbeiterklasse gezeigt hatten. Mit Ziegler hat Lassalle eingehend den Plan einer großen Arbeiterversicherungsgesellschaft erwogen, und die Organisation, die Ziegler für diese Gesellschaft entwarf, ist dann in den wesentlichen Gesichtspunkten von Lassalle für die Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins benutzt worden. Heute, wo die Kämpfe um diese Organisation längst ausgetragen worden sind, besteht wohl kaum ein Zweifel daran, dass sie die beste war, die unter den damals obwaltenden Verhältnissen der beginnenden Arbeiterbewegung gegeben werden konnte.

Gerade aber die Gründung eines politisch-sozialen Agitationsvereins machte die altpreußischen Demokraten, die damals in Lassalles Freundesrat saßen, sehr bald zu „stillen Kompagnons" seiner Sache. Als er sein Offenes Antwortschreiben an Bucher und Ziegler zur Einsicht sandte, rieten ihm beide dringend ab, es zu veröffentlichen. Ziegler schrieb eine bogenlange Abhandlung, wenn Lassalle das veröffentliche, sei er ein toter Mann, er ruiniere sich auf immer, seine Horreurs, die Fortschrittspartei, würde himmelhoch jubeln, dass er sich selbst gestürzt habe, er würde einen Hass gegen sich erregen, an dem er unterginge. Heute braucht nicht gesagt zu werden, wie richtig diese Prophezeiungen waren. Ziegler hatte seine Erfahrungen gemacht, als er im Jahre 1854 seinen Vorschlag einer „Fabrik-Kreditgesellschaft" mit einigen entfernt sozialistisch abfärbenden Sätzen begründete; er war nun ein Mann von sechzig Jahren und sah mit Grauen auf die furchtbaren Kämpfe, in die sich der jüngere Freund stürzte. Verargt hat er ihm die Missachtung seines Rates nicht; als Lassalle nach Veröffentlichung seines Offenen Antwortschreibens tagtäglich mit den größten Schmähungen der liberalen Presse überhäuft wurde, sandte Ziegler ihm zum Geburtstag, zum 11. April 1863, einen Pokal mit zwei Sonetten, von denen das eine hier einen Platz finden mag:

Mein tapfrer Fechter! Deiner Seele Gluten

Bist du bemüht, zu werfen in die Massen,

Der Freiheit Funke will nicht zündend fassen

Und nirgends will es schäumend überfluten.

Du brennst mit Nesseln, streichest sie mit Ruten,

Der Demokraten blasse Hintersassen,

Sie, selbstzufrieden, reiben ganz gelassen

Die rote Stelle, ohne sich zu sputen.

Es weckten Marcus Manlius die Gänse

Den Feind zu werfen von dem Kapitole,

So fühlte damals noch das Vieh für Ehre.

Jetzt brechen leitartikelnd Schreiberhänse,

Dass sich die Meute keine Wunden hole,

Der Freiheit Keilern feige die Gewehre.

Dann ist es doch zum offenen Bruche zwischen Lassalle und Ziegler gekommen, anscheinend weil Ziegler sich 1864 ins preußische Abgeordnetenhaus wählen ließ und der Fortschrittspartei beitrat, deren lendenlahmes Programm, deren Prinzipienverrat an der alten Demokratie er nicht heftig genug hatte bekämpfen können. Er folgte den Spuren Waldecks, der nach kürzerem Widerstand von den Freihandelshausierburschen eingefangen worden war und sich mit dem „Herrn Lassalle" nie eingelassen hatte, auf den der Geheime Obertribunalrat mit komischer Überlegenheit herabzusehen versuchte. Hatte Ziegler gehofft, die Fortschrittler aus dem Sumpfe aufpeitschen zu können, worin sie täglich tiefer versanken, so musste er bald einsehen, wie trügerisch diese Hoffnung war; als er im Jahre 1865 einmal in hinreißender Rede über ihre „Perversität" herfuhr, lachten sie ihn aus als die komische Person des Hauses.

Die schiefe Stellung, in die er geraten war, offenbarte sich vor aller Welt, als er am Vorabend des Krieges von 1866 die Parole ausgab: Das Herz der Demokratie ist da, wo die preußischen Fahnen wehen. Er war angeekelt von dem ohnmächtigen Friedensgewinsel der Fortschrittspartei, und vom Standpunkt der altpreußischen Demokratie, die in der allgemeinen Wehrpflicht das Fundament des Staates sah, war seine Parole auch konsequent. Nur dass sie gerade in ihrer Konsequenz den Grundschaden der altpreußischen Demokratie enthüllte, den Guido Weiß so kurz wie treffend in den Worten zusammenfasste: „Diese Demokraten übersehen dabei, wie zur korrekten Definition gehört, nicht nur dass jeder Bürger Soldat, sondern auch dass jeder Soldat Bürger sei." So gab die Parole Zieglers, statt die Fortschrittspartei zu sammeln und zu stählen, nur das Signal zu ihrem gänzlichen Verfall, zur Geburt des Nationalliberalismus, der einfach ins Lager der Regierung überlief.

Nach dem Jahre 1866 hat Ziegler noch zehn Jahre gelebt, in wachsender Unzufriedenheit mit sich und mit einer Welt, die er nicht mehr verstand. Wenn er so abends in seiner bescheidenen Weinkneipe saß, immer noch geistreich und munter, ein geborener Erzähler, dann brach sein Missmut über den Gang der Dinge unaufhörlich hervor. Kein Abend, an dem er nicht schalt und wetterte, über keinen mehr als über den braven Eugen Richter, in dem er mit prophetischem Blick den sichersten Zerstörer des deutschen Liberalismus sah; dass ein so von jeder ästhetischen, historischen, philosophischen Bildung verlassener Rechenknecht den Führer der bürgerlichen Opposition spielen dürfe, drehte dem alten Herrn das Herz im Leibe um. Gelegentlich gab er dem Gehassten auch wohl öffentlich einen Denkzettel. So als bei den preußischen Landtagswahlen im November 1870 Johann Jacoby von dem zweiten Berliner Wahlkreis abgesägt werden sollte, weil er in seiner Rede über die Ziele der Arbeiterbewegung an dem manchesterlichen Dogma gefrevelt hätte. Als Gegenkandidaten waren Ziegler und Eugen Richter von den beunruhigten Geldsäcken vorgeschlagen worden, aber während dieser die schäbige Rolle annahm, lehnte sie Ziegler mit den stolzen Worten ab: „Ich würde anmaßend und nicht ehrenhaft handeln, wenn ich an einer Stelle Deputierter werden wollte, wo dieser große Bürger zurückgewiesen ist… Einen größeren Sieg hat die Reaktion nie gefeiert, als die Entfernung Jacobys, und dieser Sieg hat ihn unserer Partei in den Schoß geworfen. Daran mag ich kein Teil haben." So biss denn Herr Eugen Richter, „sturmerprobt und unentwegt", wie nur er sein kann, als Hausknecht des Kapitalismus den Demokraten Jacoby aus dem preußischen Landtag.

Hätte sich Ziegler nur noch ein rechtes Herz fassen können zu der neuen Welt, an deren Geburt er doch geholfen hatte. Aber den sozialdemokratischen Abgeordneten, mit denen er im Reichstag zusammensaß, pflegte er zu sagen, dass er zu alt sei, um im proletarischen Emanzipationskampf mit zu streiten: Er würde ihm nur zur Last fallen, aber er begrüße ihn als die letzte Hoffnung der nationalen Zukunft.

Ziegler ist niemals der Unsere gewesen, allein wir verstehen den Kampf seines Lebens, und wir achten, was er selbst einmal „sein Bewusstsein und sein Leid" nannte. Jedoch wenn ihn an seinem hundertsten Geburtstag die feiern sollten, die aus der „Demokraten blassen Hintersassen" zu nicht einmal schamroten Hintersassen des Brotwuchers geworden sind, so wissen sie nicht, was sie tun, oder sie schänden das Grab.

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