Franz Mehring 19061010 Eine kaiserliche Aktion

Franz Mehring: Eine kaiserliche Aktion

10. Oktober 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 41-44. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 298-301]

Onkel Chlodwig", der dritte Reichskanzler, hat in seinem langen Leben niemals eine „Sensation" verursacht, weder eine politische noch eine andere, aber was der Lebende nicht gekonnt oder nicht gewollt hat, das ist dem Toten gelungen. Bruchstücke aus seinen Denkwürdigkeiten, die in einem Unterhaltungsblatt erschienen sind, erregen ein gewaltiges Aufsehen, wenigstens in der bürgerlichen Welt, und haben selbst eine kaiserliche Aktion hervorgerufen, einen scharfen Protest an das gegenwärtige Haupt des Hauses Hohenlohe, das sich übrigens schleunigst aus der Schusslinie gebracht hat, indem es die Empörung des Kaisers für ganz berechtigt erklärte. Es scheint, dass irgendein bürgerlicher Professor, der mit der Herausgabe der Denkwürdigkeiten betraut worden ist, schließlich das Opfer des kaiserlichen Unwillens werden wird, indessen kommt es darauf nicht weiter an.

Der alte Fürst Hohenlohe selbst hat sich schwerlich etwas Arges gedacht, als er den Teil seiner Denkwürdigkeiten niederschrieb, die nunmehr einen solchen Sturm entfacht haben. Es handelt sich dabei um die täglichen Notizen, die er sich bei der Entlassung Bismarcks durch den gegenwärtigen Kaiser gemacht hat, Notizen, die im Grunde nichts enthalten, als was alle Welt längst gewusst hat. Einzelne Details mögen neu sein, so die Angabe, dass Bismarck dem Großherzog von Baden „grob" gekommen sein soll, indessen handelt es sich dabei um Dinge, die weniger den Politiker als den höfischen Zeremonienmeister interessieren; im Großen und Ganzen bestätigt Hohenlohe nur, was längst in alle Historienbücher übergegangen ist und was an und für sich durchaus nicht dazu angetan ist, heute noch, sechzehn Jahre nach den Ereignissen, irgendwelche politische Aufregung hervorzurufen.

Wenn diese Aufregung dennoch entstanden ist, so erklärt sie sich aus der allgemeinen Unzufriedenheit auch der herrschenden Klassen mit der gegenwärtigen Reichspolitik, die sich abwechselnd darin gefällt, alle Welt gemütlich anzubiedern und alle Welt täppisch auf die Hühneraugen zu treten. Man sucht sie kräftig anzuärgern, indem man ihr Bismarck als leuchtendes Vorbild präsentiert, unter dem es nie soweit gekommen wäre, wie es heute gekommen ist, wobei denn a bissele Lieb' und a bissele Treu und auch a bissele Falschheit mitspielen mag. Es ist etwa so wie zur Zeit des französischen Bürgerkönigtums, wo die herrschenden Klassen, gerade wie jetzt bei uns, unter der Parole: Enrichissez vous1 in Saus und Braus lebten, aber da sie nach der Art solcher Klassen nie genug bekommen konnten, den braven Louis-Philippe, der wie Fürst Bülow um jeden Preis innere Konflikte vermeiden wollte, mit der Erinnerung an Napoleon anzuulken liebten. Sie waren dann freilich durchaus nicht angenehm überrascht, als der Teufel wirklich erschien, den sie so lange an die Wand gemalt haben, und auch heute würde wohl mancher von den Nimmersatten, die mit Bismarcks Namen krebsen, ein langes Gesicht machen, wenn ihr Idol wieder leibhaftig auf der Bildfläche erschiene. Besonders die Biedermänner würden es tun, die in den trüben Gewässern der Kolonialpolitik fischen, zu der es mindestens in der die Volksmassen auspowernden Ausdehnung, die sie heute genommen hat, unter Bismarck nicht gekommen wäre.

Der Verdacht, als ob es mit der Veröffentlichung der Hohenloheschen Tagebuchnotizen auf eine Herabsetzung Bismarcks und eine Erhöhung Bülows abgesehen sei, lag nun insofern nahe, als Bismarck in jenen Notizen eine üble Rolle spielt. Jedoch damit war nicht bewiesen, dass Hohenlohe die Dinge tendenziös entstellt, sondern nur, dass er sie der historischen Wahrheit gemäß geschildert hat. Denn diese üble Rolle hat Bismarck in Tat und Wahrheit gespielt. Ein bürgerlicher Historiker, Herr Oskar Klein-Hattingen, der das verhältnismäßig ausführlichste, sachlichste Buch über Bismarck veröffentlicht hat, schreibt über Bismarcks Verhalten in den Tagen vor dem Sturze: „Die Haltung des Kanzlers in der Krisis war die denkbar schlechteste. Man sagte ihm wieder und wieder, unmittelbar und mittelbar: Fort mit dir!, und er bot bis zuletzt Dienste an. Es ist der bezeichnende Ausdruck: Er stank von würdelosem Widerstande." Mit Recht hebt Klein-Hattingen auch hervor, dass Bismarck durch seinen würdelosen Widerstand seine unausgesetzten Entlassungsgesuche unter Wilhelm I. als komödienhafte Pressereien gekennzeichnet habe, die zu dem Zwecke in Szene gesetzt worden seien, den altersschwachen König ins Bockshorn zu jagen, wenn er je einmal eine Anwandlung selbständigen Willens verriet.

Ebenso gerät Bismarck ins Gedränge, wenn man einen Blick auf die politischen Meinungsverschiedenheiten wirft, die zu seinem Sturze geführt haben. In der auswärtigen Politik war es sein allzu demütiges Wettkriechen vor Russland, in der inneren Politik seine angenehme Absicht, durch immer gesteigerte Drangsalierungen der Arbeiterklasse einen gewaltsamen Widerstand wachzurufen, den er dann in einem furchtbaren Blutbad ersticken wollte. Neben diesen „Staatsmann" gestellt – welcher noch so kohlrabenschwarze Mohr würde nicht eine gewisse Neigung verraten, ins Weißliche zu schimmern? Daran wird auch nichts geändert werden durch den dritten Band der Bismärckischen Denkwürdigkeiten, der eine angeblich „wahrheitsgetreue" Geschichte seines Sturzes enthalten soll. Was er in dem für Bismarck günstigsten Falle noch bringen kann, ist irgendwelches anekdotische Material, das mit den historisch längst klargestellten Ursachen von Bismarcks Fall nichts zu schaffen haben kann, oder doch nicht mehr, als die Ratten, die mit ängstlicher Hast das scheiternde Schiff verlassen, mit dem Felsen zu schaffen haben, an dem das Schiff gescheitert ist. Es wäre ganz in Bismarcks Art. Schon der Lebende hat unzählige Male die angeblichen oder wirklichen Intrigen irgendwelchen beliebigen Boettichers für seine Entlassung verantwortlich gemacht, aber niemals den ehernen und unerschütterlichen Widerstand des Proletariats gegen seine Gewaltstreiche.

Eine wahrheitsgetreue Geschichte von Bismarcks Sturz wird bis zu einem gewissen Grade immer ein Kompliment sein für die, die nach ihm gekommen sind. Und wer mit Bismarcks Namen noch politische Reklame treibt, war deshalb geneigt, in Hohenlohes Darstellung eine beabsichtigte Reklame für die Ära Bülow zu wittern. Inzwischen beruhigen sich die aufgeregten Gemüter aber wieder, nachdem der Kaiser selbst einen sehr energischen Protest gegen die Veröffentlichung aus dem Nachlass Hohenlohes erlassen hat. Der Kaiser verzichtet damit auf alle etwaigen Vorteile, die seinen späteren Beratern aus der Erbschaft Bismarcks zugefallen sind; er verwischt alle Unterschiede zwischen der Ära Bismarck und der Ära Bülow, indem er sagt: Ich mag die historische Wahrheit über den Sturz Bismarcks nicht hören; ich halte ihre Veröffentlichung für taktlos; wenigstens hätte ich nach hergebrachter Sitte gefragt werden müssen, ehe eine Veröffentlichung meiner Äußerungen zu dieser Sache erfolgte. Und es heißt wohl nicht, diese kaiserliche Kundgebung vergewaltigen, wenn man aus ihr die Schlussfolgerung zieht, dass der Kaiser, wenn seine Genehmigung vorher erbeten worden wäre, sie entschieden versagt haben würde.

Die historische Erkenntnis wäre dabei nicht zu kurz gekommen, denn was uns Hohenlohes Notizen erzählen, das haben wir längst gewusst, bis auf dies oder jenes nebensächliche Detail, bei dem sich, wie bei den „Grobheiten", die Bismarck an die Adresse des Großherzogs von Baden gerichtet haben soll, die historische Forschung nicht weiter aufhalten wird. Wohl aber wären wir um einen lehrreichen Beitrag zur Erkenntnis der Ära Bülow gekommen, die gar nicht besser sein mag, als die Ära Bismarck war, aus Gründen, von denen wir gestehen, dass sie durchaus achtungswert sind. Bei ernster Selbstprüfung sagt sie sich, dass sie wirklich keinen Anlass habe, sich über die Ära Bismarck zu erheben; Schlimmeres an Wettkriecherei vor Russland, als Bülow inzwischen geleistet hat, steht auch nicht auf dem Konto Bismarcks; die Februarerlasse2, die bei Bismarcks Sturze eine so große Rolle spielten, sind spurlos in die Winde geflattert, wie es nicht anders hätte sein können, wenn Bismarck am Ruder geblieben wäre, und die Aufforderungen an die Truppen, je nach Befehl auch auf den „inneren Feind" zu schießen, selbst wenn er sich in Gestalt von Vater und Mutter präsentiert, sind noch viel häufiger geworden, als sie zu Bismarcks Zeiten waren, wo sie unseres Wissens sogar niemals vorgekommen sind.

Es ist also durchaus anerkennenswert, wenn die Ära Bülow nichts vor der Ära Bismarck voraus haben will. Auch hat sich der Kaiser nie darüber getäuscht, dass er von Bismarcks Nachfolgern nicht anders beraten werden würde als von Bismarck selbst. Gleich nachdem er Bismarck verabschiedet hatte, telegraphierte er an den Großherzog von Weimar: „Der Kurs bleibt der alte: Volldampf voraus." Der Kurs ist der alte geblieben, und nur mit dem Volldampf voraus hat es seine eigene Bewandtnis.

Der Felsen, an dem Bismarck gescheitert ist, sperrt noch immer das Fahrwasser. In der verzweifelten Stimmung des politischen Bankrotteurs dampfte Bismarck drauf los, dass die Planken seines Schiffleins auseinanderkrachten; seine Nachfolger aber verfolgen den alten Kurs so, dass sie um den Felsen, der ihnen Tod und Verderben droht, vorsichtig herum lavieren. Woher sich denn auch die Ära Bülow mit gutem Rechte den Namen und den Beruf des Zickzackkurses erworben hat.

1 enrichissez vous (franz.) – bereichert euch.

2 Gemeint sind die kaiserlichen Erlasse, die ohne Gegenzeichnung am 4. Februar 1890 im „Reichs- und Staatsanzeiger" veröffentlicht wurden, betreffend: 1. Anweisung an den Reichskanzler, eine internationale Einigung mit den Regierungen der Hauptkonkurrenzmächte Frankreich, England, Belgien und Schweiz in die Wege zu leiten, um die Lage der Arbeiter bessern zu können; 2. Anweisung an die Minister für öffentliche Arbeiten und für Handel und Gewerbe, eine Sitzung des Staatsrates zur Prüfung der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und ihren Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung einzuberufen, wenn eine internationale Konferenz zur Herbeiführung gleichmäßiger internationaler Regelungen erreicht werden kann.

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