Franz Mehring 19060314 Eugen Richter

Franz Mehring: Eugen Richter

14. März 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 801- 804. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 351-355]

In Eugen Richter, der vor einigen Tagen gestorben ist, hat die deutsche Arbeiterbewegung einen ihrer ungefährlichsten zwar, aber gehässigsten Gegner verloren. Auf seinem Sterbebett noch, vor wenigen Monaten, hat er die Berliner Arbeiter durch einen giftigen Artikel verhöhnt, als sie einen Aufruf erließen, worin sie um urkundliches Material zur Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung baten; Richter schrieb damals zum tausendsten Male, dass Bismarck und der Reptilienfonds die Berliner Arbeiterbewegung großgezogen haben, um den Freiheitskampf der Bourgeoisie zu lähmen.

Von dieser Lüge hat der Mann vierzig Jahre politisch gelebt, und an ihr ist er politisch gestorben. Als er ins politische Leben eintrat, hatte seine Partei das ganze Land hinter sich; als er gestern begraben wurde, ertönte herzbrechend die Klage aller gouvernementalen und reaktionären Klageweiber, allein die Volksmassen verharrten in eisiger Gleichgültigkeit. Niemals hat ein Parteiführer eine große Partei so in Grund und Boden ruiniert wie er; niemals hat es einen Politiker gegeben, der mit so unfehlbarer Geschicklichkeit Niederlage auf Niederlage zu organisieren verstand. Was ihm schließlich blieb, war ein missachtetes Häuflein, das sich heute halb in dünkelhaftem Stolze bläht wegen der Kränze, die sämtliche Brotwucherer und Scharfmacher auf den Sarg Richters niedergelegt haben, und sich halb in byzantinischem Jammer windet, weil der Kaiser keinen Kranz gespendet hat.

Nicht als ob wir sagen wollten, Richter habe in dem Sinne den Niedergang des deutschen Liberalismus verursacht, dass es ein anderer an seiner Stelle besser gemacht hätte. Ihn trifft nicht sowohl die Schuld daran, dass er der Führer des Liberalismus geworden ist, als den Liberalismus die Schuld daran trifft, dass Richter sein Führer werden konnte. Nichts törichter, als wenn ein freisinniges Blatt dieser Tage schrieb, mit Richter sei der Letzte aus den Reihen der Johann Jacoby, Waldeck, Ziegler, Hoverbeck geschieden. Man braucht diese Männer nicht zu über- und man braucht Richter nicht zu unterschätzen, um doch zu sagen, Richter sei ein ganz anderer Typus gewesen. Niemand hat das schärfer erkannt und bitterer ausgesprochen als derjenige unter jenen älteren Führern der bürgerlichen Demokratie, der ein Stück Dichter und ein Freund Lassalles war. Ziegler hegte eine unüberwindliche Abneigung gegen Richter und pflegte sie in sehr drastischer Form auszusprechen; er sah in Richter alles verkörpert, was den deutschen Liberalismus ruinieren müsse, und er hat sich darin als ein echter Prophet bewährt.

Aber – und das ist eben die Kehrseite der Medaille – auch derjenige weiße Rabe unter den Freisinnigen, hatte recht, der vor fünfzehn oder zwanzig Jahren sagte: Gewiss, Richter ruiniert die Partei, aber ohne Richter können wir überhaupt nicht mehr existieren. Damit war ausgesprochen, dass die historisch niederziehenden Tendenzen der liberalen Bourgeoisie von Richter mit einer Arbeitskraft und Arbeitslust vertreten würden, die sonst in dem kümmerlichen Häuflein der Mittelmäßigkeiten, das ihn umgab, überhaupt nicht mehr zu finden sind. Richter war der Totengräber seiner Partei, während die Hermes und Müller und Mugdan nur die Würmer ihres Leichnams sind.

Was der alte Ziegler erst prophetisch ahnen konnte, das können wir heute historisch begründen. Als die deutsche Bourgeoisie ihre Ideale für immer in den Rauchfang schrieb und sich nur noch dem Schacher um ihre materiellen Interessen ergab, als sie sich den preußischen Bajonetten unterwarf, vorausgesetzt, dass diese Bajonette ihr die Arbeiterklasse im Zaume hielten, da bedurfte sie eines Führers, der in gleichem Maße Banause und Rechenknecht und Reaktionär war. Und alles dieses war Eugen Richter in unlöslicher Mischung. Niemals sonst hat in unserem öffentlichen Leben ein Mann gestanden, der so gänzlich jeder ästhetischen und historischen Bildung ermangelte. Richter stand darin tief unter Männern wie Bennigsen und Miquel, tief auch unter Bismarck, tief selbst in seiner engsten Umgebung; sein Intimus Parisius, auf den er sonst nicht mit Unrecht als auf einen untergeordneten Sekretär herabsah, hat doch als Sammler altmärkischer Volkslieder sich ein gewisses literarisches Verdienst erworben. Verglichen werden kann Richter in dieser Beziehung etwa nur mit Lasker, dem ein ähnliches Banausentum ebenfalls ein Hebel politischen Emporkommens gewesen ist. Immerhin hatte Lasker doch eine düstere Ahnung davon, dass einmal ein Goethe gedichtet und ein Hegel gedacht hat; in seinen „Erlebnissen einer Mannesseele" versuchte er den steifen Altersstil Goethes in komischer Unbeholfenheit nachzuahmen, und in seinen Aufsätzen über Erziehung rang er mit entsetzlichen Trivialitäten um die philosophische Palme. Jedoch selbst das ging weit über Richters Horizont; von den wirklichen Ruhmestiteln, die das deutsche Bürgertum vor dem Richterstuhl der Geschichte in die Waagschale werfen darf, hat er nie den leisesten Begriff gehabt.

Dabei hat er unendlich viel geschrieben; einige siebzig selbständige Veröffentlichungen zählen ihm die freisinnigen Nekrologe nach, und seit der Mitte der achtziger Jahre gab er eine Tageszeitung heraus, die er bis zu seiner Erkrankung selbst leitete. Aber man wird in dieser riesigen schriftstellerischen Produktion vergebens nach einer Spur ästhetischer Form oder nach einer Spur historischen Sinnes suchen. Deshalb gelangte sie nie, so massenhaft sie war, an die Massen; nur die kläglichen Pamphlete, die Richter gegen die Sozialdemokratie richtete, haben eine weite Verbreitung gefunden, wenn auch nur auf dem wenig erhebenden Wege, dass sie von den Fabrikanten zwangsweise den Arbeitern aufgehängt wurden. Die „Freisinnige Zeitung" war niemals etwas anderes als eine trockene Registratur der kapitalistischen Interessenwirtschaft; so rücksichtslos sie Richter mit allen Kniffen und Pfiffen des kapitalistischen Konkurrenzkampfes durchzusetzen suchte – selbst als die Berliner „Volkszeitung" durch das Sozialistengesetz verboten worden war, verschmähte er nicht, Zirkulare zu verbreiten, worin das mundtot gemachte Blatt verleumdet und an dessen Stelle sein Blatt empfohlen wurde –, so hat sie sich nie aus eigener Kraft zu halten vermocht und vegetiert bis auf den heutigen Tag von den Almosen einiger reicher Kapitalisten.

Mit dem Banausen verschmolz sich der Rechenknecht. Die Rechnerei war für Richter nicht Mittel, sondern Zweck. Er hat seine Etatskritik niemals von demokratischen, sondern immer nur von kapitalistischen Gesichtspunkten geübt. Er bekämpfte den Militarismus nicht grundsätzlich – und wie hätte er das wagen können, nachdem die liberale Bourgeoisie in die preußischen Bajonette abgedankt hatte –, sondern er bekämpfte ihn nur insoweit, als der Militarismus die kapitalistische Produktionsweise über das im kapitalistischen Interesse notwendige Maß hinaus schädigte. Unbedingt bekämpfte Richter aber jede Staatsausgabe für Zwecke der Arbeiterwohlfahrt; da konnte er nicht genug lärmen über den kostspieligen Firlefanz, der einer freisinnigen Partei gar kein Kopfzerbrechen machen dürfe. Überhaupt war seine Finanzkritik fern von jeder prinzipiellen Konsequenz; der einzige Angelpunkt, um den sie sich drehte, war das jeweilige kapitalistische Interesse.

Solange die Seehandlung der Regierung eine gewisse Unabhängigkeit vom Großkapital gab, verurteilte sie Richter als eine „Sparbüchse für Staatsstreiche"; sobald sie sich in zweifelhafte Transaktionen mit dem Großkapital einließ, wollte er ihre „zeitweilige Geschäftsführung" nicht tadeln. Als ein paar pensionierte Beamte ihre „hohen Amtstitel" auf Gründungsprospekte setzten, nannte Richter sie „Schlepper im Bauernfang"; als aber diese seine eigene Charakteristik auch auf die parlamentarischen Biedermänner angewandt wurde, die ihre hohen Mandatstitel auf Gründungsprospekte setzten, erklärte Richter, sich an parlamentarischer Korruption zu stoßen, seien nur „Agrarier, Schutzzöllner und Sozialdemokraten, literarische Beutelschneider und Buchmacher, Bauernfänger in schlimmster Gestalt" fähig. Dieser erhebende Umfall trug ihm die Zärtlichkeit des alten Gründers und Sünders Kardorff ein, der beim Finanzminister Camphausen anfragte, ob denn eine so hoffnungsvolle Kraft nicht ins Ministerium berufen werden könnte. Darauf hat jedoch der Minister erwidert, wie Kardorff jetzt nach dem Tode seines alten Lieblings erzählt: „Davon kann keine Rede sein; wir besitzen unter unseren Geheimräten viele, deren Kenntnisse und Fähigkeiten weit über denen des Herrn Richter stehen." Aus diesem Urteil eines liberalen Bürokraten, dem Richter gern zu Willen war, mag man auf die Echtheit der Tränen schließen, die heute die reaktionäre Bürokratie, wie alle reaktionären Klassen, über Richters Tod vergießen.

Allein verdient hat er dennoch alle reaktionären Ehrungen. Denn im letzten Grunde war auch Richter ein Reaktionär, insofern als er die moderne Arbeiterbewegung von ihrem Beginn an mit einem blinden Hasse bekämpft hat, der ihn zuletzt selbst gegen die kapitalistischen Interessen blind machte und zur trauten Gemeinschaft mit den reaktionären Brotwucherern trieb. Die ebenso dumme wie boshafte Lüge, dass die Sozialdemokratie von der Polizei erfunden worden sei, um die Heldenphalanx der liberalen Bourgeoisie zu sprengen, hat er vierzig Jahre lang mit einer papageienhaften Geschwätzigkeit wiederholt, und sie ist noch sein Sterbesakrament gewesen. Und wir sagten schon, dass er an dieser Lüge politisch gestorben sei. Denn sie verblendete ihn vollständig für das Wesen der modernen Arbeiterbewegung, von dem er nie auch nur den blassesten Schimmer erfasst hat. Darin stand er wieder tief unter Männern wie Bennigsen und Miquel, tief selbst noch unter Bismarck; nie hätte er über die Zunge gebracht, was Bismarck wenigstens in einem unbewachten Augenblick sagte, dass es ohne die sozialdemokratische Agitation nicht einmal zur bescheidensten Sozialreform in Deutschland gekommen wäre. Auch in Richters engstem Kreise gab es diesen und jenen, der ein offeneres Auge für die Arbeiterbewegung hatte. Allein Richter unterdrückte diese Ketzer unerbittlich, und er konnte sie unterdrücken, nicht weil er einen gehässigen, zänkischen und unverträglichen Charakter besaß, wie ihm seine eigenen Parteigenossen oft genug mit Recht oder Unrecht vorgeworfen haben, sondern weil er am vollkommensten das Prinzip des kapitalistischen Konkurrenzkampfes verkörperte, der an sich gehässig, zänkisch und unverträglich ist und deshalb immer die siegreiche Logik für sich hat, wenn er sich als gehässig, zänkisch und unverträglich erweist.

Alle die zahllosen Sünden Richters an der modernen Arbeiterbewegung aufzuzählen liegt uns fern. Sie haben den siegreichen Gang der Arbeiterklasse nicht einen Augenblick aufgehalten, und Richter selbst ist bestraft genug durch die endlose Reihe der Niederlagen, durch die er bei Lebzeiten niedergetaumelt ist, durch den Trauerschrei der ganzen Reaktion, der an seinem offenen Grabe erschallt, durch die eisige Gleichgültigkeit, mit der die Massen an der Stätte seiner vierzigjährigen Wirksamkeit seinen Leichenkondukt passieren ließen. Er war längst ein ungefährlicher Gegner, und auch die lebenden Scharfmacher werden nicht fürchterlicher, wenn sie diesen toten Cid auf ihren lendenlahmen Gaul setzen.

Was uns am Leben Richters interessiert, ist allein der lehrreiche Beitrag, den es zur Geschichte des unaufhaltsamen Verfalls liefert, worin sich die deutsche Bourgeoisie befindet.

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