Franz Mehring 19050503 Johann Jacoby

Franz Mehring: Johann Jacoby

3. Mai 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 169-172. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 317-321]

Wenn es dem Wochenchronisten der „Neuen Zeit" gestattet ist, ausnahmsweise einmal von seiner Person zu sprechen, so mag er nicht verhehlen, dass ihm in den letzten Tagen bittere. Vorwürfe aus ihrem Leserkreis gemacht worden sind. Man hat ihn als den „letzten Schüler von Guido Weiß" herbe getadelt, dass er zum 1. Mai, dem hundertsten Geburtstag Johann Jacobys, nicht einen huldigenden Artikel für diesen tapferen und treuen Mann geschrieben habe, wie es nicht nur von den sozialdemokratischen Tageszeitungen, sondern auch von manchen bürgerlichen Blättern, so von der „Vossischen Zeitung", in würdiger Weise geschehen ist.

Es soll hier keine lange Rechtfertigung gegen diese Vorwürfe versucht werden; worauf es eigentlich bei der Sache ankommt, spricht einer der Beschwerdeführer in den Worten aus: „Sie waren in ganz Deutschland der einzige, der über Jacoby schreiben konnte, so nämlich, wie es Jacoby verdient, in der Art, wie man noch zu Zeiten Guido Weißens schrieb." Aber das ist gerade die eigentliche Schwierigkeit; man kann heute nicht mehr in der Art schreiben, wie man in den Tagen schrieb, wo Guido Weiß seine kleinen stilistischen Kunstwerke schuf, die niemals übertroffen worden sind und in ihrer besonderen Art nun auch niemals mehr erreicht werden können. Will man über Johann Jacoby so schreiben, wie er es allein verdient – das heißt, so ehrlich wahr, wie er selbst dachte, sprach und schrieb –, dann fallen mehr die Schatten- als die Lichtseiten – zwar nicht seiner Person, aber seiner öffentlichen Tätigkeit – ins Auge. Das macht der Wandel der Zeiten, dem wir alle unterworfen sind.

Für seine Person steht Jacoby in makelloser Reinheit da. Aber dies höchste Lob der Person enthält schon, wenn nicht eine Anklage, so doch einen Verdacht gegen den Politiker. Denn die Politik ist ein hartes Handwerk, und wer in ihr Großes und Neues schaffen will, der kommt niemals ohne Risse und Wunden, ohne Beulen in seiner Rüstung und ohne Staub auf seinem Kleide davon. Das gilt auch von den großen Vorkämpfern der Arbeiterklasse. Die Lassalle und Marx sind sowenig wie die Lessing und Schiller ohne Fehl durch ein bewegtes Leben des Kampfes geschritten. Jacoby wäre eine einzige Erscheinung in der Geschichte, wenn er ein großer Politiker gewesen und dabei doch – um die Sache etwas derb, aber ohne spöttischen Nebensinn auszudrücken – ein großer Musterknabe geblieben wäre. Allein man braucht nur ein paar Stunden daran zu wenden und die beiden kleinen Bände seiner Gesammelten Reden und Schriften durchzulesen, um sie mit der Erkenntnis aus der Hand zu legen: Jacoby war kein großer, ja er war auch nicht einmal ein konsequenter Politiker, so paradox gerade diese Behauptung klingen mag.

Man rühmt an ihm, dass er schon im Juni 1848, inmitten der lärmenden Tagespolitik, seinen Berliner Wählern dargelegt habe, nicht die politische Freiheit sei das letzte Ziel, sondern auf sie gegründet die Reformation der Gesellschaft, das aus sittlicher Freiheit erwachsende Wohlergehen, das menschenwürdige Dasein aller, und nicht sei das zu erreichen durch die Anstrengungen eines einzelnen Volkes, sondern durch aller Kulturvölker verbündete, durch internationale Arbeit. Jedoch man vergisst, hinzuzufügen, dass Jacoby zehn Jahre später, beim Eintritt der preußischen Regentschaft, den von Lassalle so scharf gegeißelten „Krönungsochsenjubel der Bourgeoisie" mitgemacht, auf einige leere Worte hin „das wahrhaft männliche, verfassungsgetreue Auftreten des Prinzregenten" – des späteren Kaisers Wilhelm – laut gepriesen und selbst das allgemeine, gleiche Wahlrecht, das den Massen durch einen schnöden Gewaltstreich geraubt worden war, zwar nicht preisgegeben, aber doch auf die lange Bank geschoben hatte. Jacoby ist zweimal den Weg vom preußischen Konstitutionellen bis zur Schwelle der Sozialdemokratie gegangen, das eine Mal von 1841 bis 1848, das andere Mal von 1858 bis 1872.

Bis zur Schwelle der Sozialdemokratie, denn Sozialdemokrat ist Jacoby nie gewesen. Er hat es auch nie sein wollen; er wollte mit seinem Übertritt zur Arbeiterpartei nur einen formalen Protest gegen ein Unrecht richten, das einigen Parteimitgliedern von der Klassenjustiz zugefügt worden war; als Grund seines Übertritts gab er allein „die Verhandlungen in dem Hochverratsprozess gegen Liebknecht, Bebel und Genossen" an. Es war eine ehrliche und mutige, aber eine politische Tat war es nicht, und das schmähende Wort der damaligen liberalen Presse: Wenn die Leutnants Sobbe und Putzki einen Hausknecht totstechen, so werde ich doch nicht Hausknecht, um meine Abscheu vor dem schmählichen Morde zu bekunden, war zwar in seiner brutalen Form verwerflich, aber gegen seine Logik war schwerer anzukommen. Das Grundprinzip der Sozialdemokratischen Partei, den proletarischen Klassenkampf, lehnte Jacoby ab; er unterschrieb einen fortschrittlichen Aufruf, worin gesagt war, dass für diesen Kampf in Deutschland kein Raum sei, zur selben Zeit, wo er seine bekannte Rede über das Ziel der Arbeiterbewegung hielt und darin entwickelte, durch gemeinsames Hand-in-Hand-Gehen der Arbeiter mit den Unternehmern und der Staatsgewalt müsse die Arbeiterfrage gelöst werden. Von seinem Standpunkt durchaus konsequent weigerte sich Johann Jacoby dann auch, praktische Parteiarbeit zu leisten, indem er das Mandat zurückwies, das ihm die Sozialdemokratische Partei bei den Wahlen des Jahres 1874 im Leipziger Landkreise erobert hatte. Es ist auch ganz richtig, was die „Frankfurter Zeitung" am 1. Mai in ihrem Gedenkartikel auf Jacoby schrieb: „Ob er, mit seinem vornehmen Geiste, auch die Fort- oder Rückentwicklung mitgemacht hätte, welche man nun an der Sozialdemokratischen Partei beobachtet, und ob er nicht mit Sorge auf ihre Press- und Wahlpraktiken sähe, ist eine leicht zu beantwortende Frage." Gewiss ist diese Frage leicht zu beantworten, und sie muss ganz im Sinne der Frankfurterin beantwortet werden, nur dass, was sie Jacobys „vornehmen Geist" zu nennen beliebt, in der Tat Jacobys Verhängnis war.

Wie bei jedem ganzen Mann alle Stärke und alle Schwäche aus demselben Prinzip fließt, so auch bei Jacoby. Er war die fleischgewordene Ethik Kants, die er noch reiner und strenger lebte, als sie der Meister selbst gelehrt hatte; Jacoby hätte nie mit Klauseln und Kniffen zu beweisen gesucht, dass ein Prediger Lehren, an die er nicht glaube, von der Kanzel verbreiten dürfe. Hier liegt die wahre Konsequenz von Jacobys Leben, und ihr wird, so wie sie Jacoby weniger mit attischem Salze als mit spartanischem Mute vertrat, immer rücksichtslos die Sache über die Person stellend, niemand bewundernde Anerkennung versagen. Kants kategorischer Imperativ, das Recht, das doch Recht bleiben müsse, und ob eine Welt daran untergehe; das Unrecht, das man dem Gegner nicht tun dürfe, wenn man nicht wolle, dass es einem selbst geschehe – das war die Welt, in der Jacoby lebte, und mit den Waffen, die er aus ihr holte, bekämpfte er als bürgerlicher Liberaler unerbittlich die absolutistische und feudalistische Reaktion. Es darf auch keineswegs verkannt werden, dass alle Reaktion gerade von solchen Waffen am empfindlichsten berührt wird; Jacoby ist von den Reaktionären aller Sorte heftiger angefeindet worden als andere Gegner, die ihnen tatsächlich viel gefährlicher waren. Es ist die alte Geschichte: Niemand wird von Cäsar so ingrimmig gehasst wie Cato, aber leider siegt Cäsar regelmäßig über Cato.

Jacoby hat nie erkannt, dass die kleinbürgerliche Ethik, die er aus Kant entnommen hatte, weder eine alte Welt zertrümmern noch eine neue Welt schaffen konnte. Abseits der großen historischen Entwicklung war sie ausspintisiert worden, und wie sein Meister selbst, so war Jacoby des historischen Sinnes bar. Hier tut sich die breite Kluft auf zwischen ihm und Marx. Beide Männer gehen in ihrem öffentlichen Leben von demselben Punkte aus, von dem Kampfe um eine preußische Verfassung, der nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Jahre 1840 entbrannte. Aber wie verschiedene Wege schlagen sie von vornherein ein! Jacoby pocht wieder und wieder auf das Verfassungsversprechen, das der Vater des Königs im Jahre 1815 feierlich verkündigt hatte; dies Versprechen musste eingelöst werden, so gebot es der kategorische Imperativ. Marx dagegen beunruhigte den Hochseligen gar nicht erst wegen seines leichtfertigen Wortbruchs in der Gruft seiner Ahnen, sondern wies aus der Fülle der historischen Wissenschaft die Notwendigkeit einer preußischen Verfassung nach. Es war von vornherein klar, dass Jacobys Politik den neuen König und seine Junker aufs äußerste reizen musste, aber sonst nichts erreichen konnte, denn um des kategorischen Imperativs willen dachten so hartgesottene Sünder nicht daran, auch nur auf das kleinste ihrer Vorrechte zu verzichten. Freilich haben auch die damaligen Aufsätze von Marx keine praktische Wirkung gehabt, jedoch nur deshalb nicht, weil sie für den deutschen Philister zu hoch waren, während Jacobys damalige Broschüren die Standarten der deutschen Spießbürgerei wurden, unter denen sie sich glücklich im Kreise herumgedreht hat. Marx an seinem Teile suchte und fand andere Hebel, eine verrottete Welt aus den Angeln zu heben.

Dagegen musste Jacoby mit seiner kleinbürgerlichen Ethik, die ihm kein Führer auf dem politischen Boden der modernen Klassenkämpfe sein konnte, ihn auf diesem Boden vielmehr irreführen musste, zuletzt völlig vereinsamen. Ihr völliges Versagen lag nach dem großen Rechtsbruch von 1866 klar zutage. Nach dem kategorischen Imperativ hätte Bismarck gestürzt und der Deutsche Bund wiederhergestellt werden müssen, eine Konsequenz, die Jacoby doch nur mit den Worten anzudeuten wagte, dass Bismarcks Werk uns von dem ersehnten Ziele deutscher Einheit und Freiheit weiter entferne als selbst der frühere Bundestag. Augen- und Ohrenzeugen haben wiederholt den erschütternden Eindruck der Rede geschildert, mit der Jacoby im August 1866 im preußischen Abgeordnetenhaus gegen die Gewaltpolitik protestierte, aber es blieb ein unfruchtbarer Protest. In hellen Haufen verlassen von denen, die nur mit den Lippen die Grundsätze bekannt hatten, die er im Hirn und im Herzen trug, fand Jacoby den Weg nicht zu denen, in deren Schoße die Zukunft ruhte. So fremd ihm die Arbeiterbewegung war, so empfand er doch mit sicherem Instinkt, dass er in ihren Reihen nicht die kleinbürgerliche Ethik finden würde, die sein ganzes Leben bewegt und erfüllt hatte.

In einer der Zuschriften, die im Eingange dieser Zeilen erwähnt wurden, wird von der „tragischen Rolle dieses einsamen Literaten" gesprochen. Darin liegt viel Wahres. Jacoby wurde zum einsamen Manne unter den Seinen durch die tragische Schuld, dass er ihre Ideale nicht in feiger Fahnenflucht verließ, aber sie ehrlicher und klarer vertrat, als sie verdienten und vertrugen.

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