Franz Mehring 19000627 Miquel

Franz Mehring: Miquel

27. Juni 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 385-388. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 332-336]

In den Tagen des Zickzackkurses zehn Jahre lang Minister gewesen zu sein ist eine Leistung, die sich sehen lassen kann, und der sie vollbracht hat, darf wohl den Ruhm beanspruchen, mehr zu können als andere Menschenkinder. Man hat oft den Sturz Sr. Exzellenz des Herrn Johannes v. Miquel, Ritters des hohen Ordens vom Schwarzen Adler usw. prophezeit, aber erfolgt ist dieser Sturz nicht, und es sieht auch nicht darnach aus, als ob er so bald erfolgen würde. Es ist wahr: Mit der Politik der „Sammlung" hat Herr Miquel Fiasko auf Fiasko erlebt; seine ehemaligen nationalliberalen Parteigenossen sprechen mit unverhehlter Missachtung von ihm; selbst seine Schützlinge, die ostelbischen Junker, vermissen nach Bismarcks Wort in seinen Augen die „pupillarische Sicherheit" und machen ihrem gepressten Herzen gelegentlich Luft in dem offenen Bekenntnis: „Wir haben ihm niemals getraut." Aber Herr Miquel schwimmt nach wie vor oben, sei es nun wie ein Kork oder sei es wie ein rüstiger Schwimmer, der mit der Kraft seiner Muskeln immer wieder den Drang und Sturm der Wogen bricht.

Eins werden auch seine heftigsten Gegner dem Herrn Miquel nicht abstreiten: nämlich dass er ein ungewöhnlich kluger Mann ist. Unter den liberalen Politikern in den Jahrzehnten vor und nach der Gründung des Deutschen Reiches ist er vermutlich der Klügste gewesen; sicherlich war er ungleich klüger als der Mann, mit dem sein Name damals am häufigsten zusammen genannt wurde, als Herr v. Bennigsen. Miquel hatte vor allen Dingen „was davon erkannt", er hatte vom Sozialismus gegessen, und das ist in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wie auch schon für das ihr vorhergehende Jahrzehnt, der sicherste Prüfstein für die geistigen Gaben des Politikers geworden. Selbst schon in der bürgerlichen Geschichtsschreibung spielen die Bucher und Jacoby und Rodbertus und Wagener und Ziegler eine ganz andere Rolle als die rein bürgerlichen Größen, die in der Revolution von 1848 und in der preußischen Konfliktszeit die politische Welt mit dem Schall ihrer Namen erfüllten. So auch wird Herrn Miquels Gedächtnis länger dauern als das Gedächtnis etwa Laskers oder Eugen Richters, die vor dreißig Jahren weit mehr im politischen Vordergrund zu stehen schienen als er. Solche borniert bürgerlichen Politiker sind im letzten Grunde, bei aller sonstigen Geschicklichkeit und Gewandtheit, eben doch dumme Kerle, die im Augenblick ihres Todes schon vergessen sind, wie es das traurige Los Laskers war, oder die politisch längst gestorben sind, während sie physisch noch leben, wie es das traurigere Los Eugen Richters ist.

Man kann gewiss sagen: Lieber politisch tot, als ein politisches Leben wie Herr Miquel führen. Indessen kommt es darauf nicht an, solange es sich nur darum handelt, die geistigen Fähigkeiten eines Politikers abzuwägen. Herr Miquel hat sehr früh den Sozialismus verstanden, was ihm als gescheitem Kopfe durchaus nur zur Ehre gereicht, und wir trauen ihm nicht die greisenhafte Schwäche zu, es besonders ernst gemeint zu haben, als er vor Jahr und Tag versicherte, er werde nach seinem Rücktritt von den politischen Geschäften durch ein eigenhändig geschriebenes Werk den Marxismus „vernichten". Dass er das nicht kann, weiß niemand besser als Exzellenz Miquel selbst. Dazu kennt er den Marxismus viel zu gut, der ihm ein treuer Lebensbegleiter ist, nicht bloß in den Tagen, wo der Heidelberger Student Miquel nach seiner eigenen Erzählung mit einem Haufen gleichgesinnter Kommilitonen, bis zu den Zähnen bewaffnet, nach Frankfurt a. M. aufbrach, um die feige Nationalversammlung zu sprengen, oder wo der junge Rechtsbeflissene Miquel sich nach seinen eigenen Briefen an Marx damit befasste, kommunistische Bauernaufstände zu organisieren. Noch über Lassalles Agitation grollte Herr Miquel, da sie den unverfälschten Wein des revolutionären Kommunismus nach seiner Meinung durch die Milch frommer Denkungsart über die Bismärckerei verdünnte, und noch im Jahre 1869 versuchte er dem Norddeutschen Reichstag die Grundsätze des Kommunistischen Manifests einzupauken. Freilich meinte er dabei mit der naivsten Unschuldsmiene von der Welt, das Kommunistische Manifest sei von einem, ihm sonst unbekannten, „englischen Schriftsteller" verfasst worden, allein das gehörte zu den kleinen Scherzen, womit diese harmlose Seele über Abgründe wegzuturnen pflegt, in denen ungeschicktere Menschen sich Hals und Bein brechen. Es war ebenso, wie wenn heute Herr Miquel versichert, er werde den Marxismus durch eine Streitschrift mausetot schlagen.

Herrn Miquel einen Renegaten im landläufigen Sinne des Wortes zu nennen, sind wir weit entfernt; das verbietet uns schon die Ehrfurcht vor einem so hervorragenden Träger des Zickzackkurses. Wie sich der Organisator kommunistischer Bauernaufstände in einen liberalen Bourgeois-Politiker verwandelt hat, lässt sich an den Bekenntnissen des „roten Becker" verfolgen, die jüngst in dessen Biographie veröffentlicht worden sind. Zur Zeit, wo Herr Miquel ein offenkundiger Genosse von Marx war, war es auch Becker, der, wie bekannt, im Kölner Kommunistenprozess zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt wurde, aber es dann, wenn auch nicht zum preußischen Finanzminister und Schwarzen Adlerorden, so doch zum Oberbürgermeister von Köln und anderen „hohen Orden" gebracht hat. Wie Wilhelm II. zu Herrn Miquel gesagt hat: Sie sind mein Mann, so konnte Wilhelm I. zum „roten Becker" das gleiche sagen, denn diesem Oberbürgermeister von Köln pflegte es Tränen des Kummers und Zornes zu erpressen, wenn er nicht vom Großen Wilhelm, sondern von Wilhelm I. sprechen hörte, indem er meinte, es sei schrecklich, durch die Bezifferung des Namens daran erinnert zu werden, dass so „hohe Herren" auch sterben könnten. Mit einem Manne von dieser unvergleichlichen dynastischen Treue verglichen zu werden kann Herrn Miquel sicherlich nicht zur Unehre gereichen, und am wenigsten gereicht es ihm zur Unehre, wenn wir bei ihm denselben psychologischen Prozess voraussetzen, durch den sich der „rote Becker" aus einem revolutionären Kommunisten in einen liberalen Bourgeoispolitiker verwandelt hat.

In der Einsamkeit seiner Festungszelle räsonierte der „rote Becker" etwa so: Die absolutistisch-feudale Gegenrevolution ist allmächtig, weil sich die Bourgeoisie vor ihr auf den Bauch geworfen hat aus Angst vor den Arbeitern. Die Bourgeoisie hat sich selbst nicht einmal begriffen; sie versteht gar nicht, dass sie gegenüber dem Feudalismus eine Stufe der Demokratie ist. Verleugnet die Bourgeoisie, wie Petrus, ihren Herrn und Meister, so sündigt sie gegen den Geist der Geschichte als den heiligen Geist, und das ist die einzige Sünde, die nie verziehen wird; darum wird die Geschichte, wenn die Bourgeoisie in dieser blödsinnigen Selbstsucht verharrt, auch über sie zur Tagesordnung gehen. Aber, so deduziert der „rote Becker" nun weiter, das wäre ein großes Unglück. Da die bürgerliche Revolution der Schrittmacher der proletarischen Revolution ist, da die proletarische Revolution niemals siegen kann, ehe die bürgerliche Revolution gesiegt hat, so muss, wer der proletarischen Revolution zum Siege verhelfen will, zunächst einmal der bürgerlichen Revolution zum Siege verhelfen, wobei man von aller Begeisterung für die bürgerliche Revolution ganz frei sein kann. Drastisch und derb genug schrieb Becker: „Soweit der Bohrwurm der Kanaille der materiellen Interessen dringt, soweit zerfällt das morsche Gerüst des Junkertums." Er meinte also, vor allen Dingen komme es darauf an, der feigen Bourgeoisie gegen das freche Junkertum auf die Beine zu helfen, und bis dahin müsse das Proletariat seine eigenen Wünsche zurückstellen, natürlich mit dem Vorbehalt, der „Kanaille", sobald sie gesiegt habe, nun seinerseits das Genick umzudrehen.

In diesem Gedankengang, der, wie man sieht, in seiner Art Hand und Fuß hat, wurden die Becker und Miquel aus revolutionären Kommunisten zu liberalen Bourgeoispolitikern, und wir haben schon gesehen, wie geschickt Herr Miquel, indem er der „Kanaille" treuherzig unter die Arme griff, sie mit dem Gifte des Kommunistischen Manifests zu infizieren wusste. In demselben Jahre 1869 bewies Herr Miquel aber auch, dass er als umsichtiger Staatsmann seinen Gesinnungs- und Schicksalsgenossen Becker weit überragte. Während dieser der „Kanaille" als harmloser Agent einer harmlosen Lebensversicherungsgesellschaft diente, stellte sich Herr Miquel mit genialem strategischem Blicke an den Stiel des mächtigsten Kehrbesens, der in der Schwindelperiode mit dem Mittelstand aufräumte und die Bahn für die kommunistische Agitation frei machte. Er wurde Mitdirektor der Diskontogesellschaft, und es zeigt in beklagenswerter Weise, wie sehr die Welt das Strahlende zu schwärzen liebt, dass elende „Verleumder" Herrn Miquel einen Vorwurf daraus machten, bei den sittlich erhebenden Gründungen der Diskontogesellschaft weit über eine Million Mark „verdient" zu haben. Herr Miquel hat in diesem „Verdienst" stets nur einen ganz beiläufigen, im Grunde beklagenswerten, aber nun doch einmal eingetretenen Zufall gesehen und erst vor wenigen Jahren im blütenweißen Kleide der Unschuld einen Gerichtssaal verlassen, nachdem er eidlich erhärtet hatte, dass er als Mitdirektor der Diskontogesellschaft nur für ganz untergeordnete juristische Arbeiten verwandt worden sei. Es war wieder zu bewundern, mit welchem naiven Lächeln diese harmlose Seele über Abgründe hinweg zu gleiten verstand, worin plumpere Menschen Hals und Beine gebrochen hätten; von seinen „Verleumdern" war ihm eben die Tatsache zum Vorwurf gemacht worden, dass er als Volksvertreter sich in die zweideutige Stellung begeben habe, für unzweifelhaft geringe Arbeiten einen so zweifelvoll hohen Anteil an den zweifelhaftesten Gewinnen „verdient" zu haben.

Leider bewährte sich auch an diesem trefflichen Manne die Wahrheit des alten Wortes: Verleumde nur keck, etwas bleibt immer hängen. Die „Verleumder" des Herrn Miquel hatten so viel erreicht, dass er nach seinen Abenteuern in der Diskontogesellschaft als unmöglich für jede Ministerkandidatur galt. Speziell die konservativen Blätter erklärten damals peremtorisch, mit den Rechtfertigungsversuchen des Herrn Miquel möge es sonst stehen, wie es wolle, aber was er selbst zugeben müsse, genüge vollständig, um ihn nach „altpreußischer Überlieferung" von jedem hohen Staatsamt auszuschließen. In der Tat wurde Herr Miquel bei den nationalliberalen Ministerkombinationen des Jahres 1877 nicht einmal genannt, obgleich er dreimal so gescheit war wie die drei Kandidaten Bennigsen, Forckenbeck und Stauffenberg zusammengenommen. Damals gewann Herr Miquel die einleuchtende Überzeugung, dass alle bestehenden Parteien keinen Schuss Pulver wert seien, und zog sich auf den Posten des Oberbürgermeisters in Frankfurt a. M. zurück.

Bescheiden mochte er sich auf die Dauer aber doch nicht mit einer Stellung, die dem Ehrgeiz des „roten Becker" genügt hatte, und es gelang ihm vor zehn Jahren, das hohe Amt zu bekommen, das er heute noch bekleidet. Dass dabei die „altpreußische Überlieferung" zum Teufel ging, wird ihn so wenig gegrämt haben, wie es uns grämt. Was er dann als Finanzminister erst des neuen und dann des Zickzackkurses durch- und mitgemacht hat, braucht heute nicht weitläufig dargelegt zu werden. Kritisch kann man diese Zeit des Herrn Miquel verschieden beurteilen. Man kann sagen: Da sich die „Kanaille der materiellen Interessen" nicht mit einer ironischen Verbeugung abspeisen lässt, sondern dem, der sich mit ihr einlässt, unweigerlich das Rückgrat bricht, so ist es ein verdientes Schicksal des Herrn Miquel, den Wagen dieser „Kanaille" zu ziehen, wo sie am unverschämtesten auftritt, nämlich im ostelbischen Junkertum. Oder man kann auch sagen: Herr Miquel ist noch immer der Schlauberger der Revolution: Da er die feige Bourgeoisie doch nicht auf die Beine bringen kann, so züchtet er die wilden Appetite des Junkertums, damit sie den Bogen spannen, bis er endlich zerbricht. Oder -

Doch das naive Lächeln dieser harmlosen Seele weist alle Versuche ab, in ihre Tiefen zu dringen. Lassen wir dem interessanten Jubilar seine Ämter und seine Millionen, seine Orden und seine Titel: Die Geschichte wird seinen Namen doch nur nennen, wenn sie die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nach ihren hässlichsten Schattenseiten kennzeichnen will.

Kommentare