Franz Mehring 18930103 Peter Reichensperger

Franz Mehring: Peter Reichensperger

3. Januar 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 489-492. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 312-316]

In Peter Reichensperger, der am letzten Tage des eben verflossenen Jahres verschieden ist, hat das Zentrum seinen letzten bedeutenden Führer aus den Tagen des Kulturkampfs verloren. Zwar lebt noch August Reichensperger im Alter von 85 Jahren, doch hat er sich lange aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und auch als Parteiführer niemals eine so einschneidende Wirksamkeit entfaltet wie der um zwei Jahre jüngere Bruder. August hatte vielseitigere Interessen, besonders auch auf künstlerischem und literarischem Gebiet; er ist bekanntlich ein nicht zum wenigsten im Auslande angesehener Vorkämpfer der gotischen Baukunst. Peter dagegen war weit ausschließlicher in der Politik tätig; seit 1848 hat er, ununterbrochener als irgendein anderer Deutscher, im Vordergrunde des bürgerlichen Parlamentarismus gestanden. Und ein gutes Stück dieses Parlamentarismus wird mit ihm zu Grabe getragen.

In den freisinnigen Nekrologen auf Peter Reichensperger macht sich eine seltsame Teilung der Arbeit geltend. Die einen, wie die „Freisinnige Zeitung", feiern ihn in überschwänglichen Redensarten, denn möglicherweise stehen neue Reichstagswahlen vor der Tür, und da gilt es, die Ultramontanen bei guter Laune für die Stichwahlgeschäftchen zu erhalten. Die andern, wie die „Volkszeitung", schelten auf ihn als auf eine politische Wetterfahne, denn die freisinnige Gesinnungstüchtigkeit muss nun einmal als eine fleckenlose Sonne über Gerechte und Ungerechte leuchten. Beides ist aber gleich sinnlos. Peter Reichensperger war in seiner Art ein ganzer Mann, und die beweglichsten aller Wetterfahnen haben nicht das geringste Recht, missmutig über ihn zu knarren. Aber weil er ein ganzer Mann war, so liegt auch gar kein Anlass vor, ihm Ansichten und Bestrebungen unterzuschieben, die er nie gehabt hat.

Die Brüder Reichensperger stammen aus Koblenz. In welcher sozialen Schicht der Bevölkerung sie geboren und erzogen sind, ist bei ihnen unbekannter geblieben als sonst wohl bei Männern, die sich lange im politischen Leben bewegt haben. Der Name deutet auf semitischen Ursprung, der – im besten Sinne des Worts – namentlich auch in dem Typus des älteren Bruders stark hervortrat. Ihre geistigen Entwicklungsjahre fielen in die Zeit, da die feudale Rückständigkeit des ostelbischen Preußens die schon bürgerlich entwickelten Rheinlande zu vergewaltigen gedachte und die Misshandlung des rheinischen Kirchenhaupts durch den preußischen Gendarmen einen religiösen Faden in den Kampf um die bürgerlichen Freiheiten und Rechte wirkte. Die Brüder Reichensperger trugen als Studenten das schwarzrotgoldene Band; in ihren ersten Schriften als junge Justizbeamte verteidigten sie den Code Napoleon gegen das preußische Landrecht, die rheinischen Rechtsinstitutionen gegen die täppischen Angriffe des Ministers Kamptz. Aber sie empfanden auch die Abführung des Kölner Erzbischofs Klemens August auf die Festung Minden als einen rohen Gewaltstreich, wie sie es denn freilich wohl war.

Die publizistische Tätigkeit der Brüder öffnete ihnen im Jahre 1848 schnell die parlamentarische Laufbahn. August ging in die Frankfurter, Peter in die Berliner Nationalversammlung. Hier schloss er sich der Rechten an und wurde bald ihr Führer. Über diesen Teil seiner parlamentarischen Wirksamkeit hat er im Jahre 1882 Denkwürdigkeiten veröffentlicht, deren buchhändlerischer Misserfolg den alten Herrn sehr gekränkt haben soll. Mit Recht und mit Unrecht. Mit Recht, denn das Buch enthält in der Tat manches Lehrreiche. Mit Unrecht, denn was Reichensperger im Revolutionsjahr wollte, war der Gegenwart so unverständlich geworden, dass keine Partei, auch die Ultramontane nicht, mit diesen Bekenntnissen etwas Rechtes anzufangen wusste. Die Rechte der preußischen Nationalversammlung war keineswegs das, was die Rechte etwa des deutschen Reichstags ist, keine Klassenvertretung des preußischen Junkertums, sondern ein Konglomerat sehr verschiedener, aber mindestens doch darin einiger Elemente, dass in der Weise des vormärzlichen Staats nicht weitergewirtschaftet werden könne. Über diese negative Überzeugung hinaus hatte Reichensperger ein positives Ziel; er wollte den preußischen Staat bis auf den Klassenstandpunkt der rheinischen Bourgeoisie vorwärtsschrauben, und diese verhältnismäßige Klarheit seines Willens verschaffte ihm wohl so schnell die Führerschaft der anfangs nahezu die Hälfte der Nationalversammlung umfassenden Rechten.

Ein Ideolog der rheinischen Bourgeoisie ist Peter Reichensperger all sein Lebtag gewesen. Dies ist der rote Faden, der seine bald konservative, bald liberale, bald ultramontane Parteistellung einheitlich zusammenhält. Ein Ideolog abermals im besten Sinne des Wortes; es war die rheinische Bourgeoisie nicht in ihrer heutigen, sondern in ihrer ersten, frischen, kräftigen Entwicklung, deren Sein sein Bewusstsein bestimmte. Camphausen, aber nicht mehr Hansemann, geschweige denn Baare war sein Mann. Reichensperger hat stets daran festgehalten, dass er in der preußischen Nationalversammlung das Richtige gewollt habe. Und gewiss hat diese Ansicht etwas für sich, vorausgesetzt, dass Krone und Nationalversammlung in Frieden auseinanderkommen sollten. Wollten die Führer der Linken die Republik nicht, und wenigstens in ihrer großen Mehrheit hielten sie in zwelfelhafter Konsequenz, aber mit zweifelloser Aufrichtigkeit an der Monarchie fest, dann mussten sie sich auch klar darüber sein, dass von der Monarchie günstigstenfalls nur das zu erlangen war, was Reichensperger erstrebte.

Dessen Rechnung hatte nun freilich auch ein großes Loch. Als echter Bourgeois fürchtete und hasste er jede politische Bewegung der Arbeiterklasse, und noch in seinen Denkwürdigkeiten spricht er sich über das Proletariat von 1848 mit kleinlich-unschöner Gehässigkeit aus. Verschmähte er aber diese Stütze, so musste auch er sich klar darüber sein, dass die preußische Regierung den schönen Augen der rheinischen Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen würde. In der Tat klagt er denn auch in seinen Denkwürdigkeiten bitter darüber, dass an der borniert-gehässigen Haltung der Regierung seine politischen Pläne gescheitert seien, so zwar, dass die kräftigeren Elemente der Rechten in heller Verzweiflung zur Linken übergingen. Und der mannhafteren Haltung der Linken, nicht aber Reichenspergers Politik war es schließlich zuzuschreiben, dass nach dem Novemberstaatsstreiche doch in der ersten Angst des bösen Gewissens die Dezemberverfassung1 oktroyiert wurde, die den Bedürfnissen der Bourgeoisie immerhin starke Rechnung trug.

Mit diesem „nicht-reaktionären" Standpunkt des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel versöhnte sich Peter Reichensperger sehr schnell, und er ließ sich sogar zu einer offiziösen Gefälligkeit gegen Manteuffel herbei, die mit seinem sonst durchaus lauteren Charakter nicht recht harmoniert. Rodbertus beabsichtigte, im Auftrage des Rumpfparlaments, das noch nach dem Staatsstreiche fortzutagen versucht hatte, eine Rechtfertigungsschrift an die Wähler zu richten. Während der Drucklegung ließ nun Manteuffel die Korrekturfahnen dieser Schrift aus der Druckerei durch seine Spitzel wegstibitzen und übergab sie an Reichensperger zu einer Entgegnung, die möglichst mit der Schrift zugleich erscheinen sollte. Reichensperger ließ sich wirklich dazu herab, und sein Pamphlet macht durch die hämischen Verdächtigungen des Berliner Proletariats, durch die es den Staatsstreich zu rechtfertigen sucht, dem Manteuffelischen Ursprung alle Ehre.

Nur zu bald stellte sich aber heraus, dass es der Manteuffelei mit dem Erlass der Dezemberverfassung gar nicht einmal Ernst gewesen war, und es war abermals durchaus konsequent von Reichensperger gehandelt, wenn er sich in den berüchtigten Landratskammern der fünfziger Jahre der kleinen liberalen Opposition zuwandte, um sich der Rückwärtsrevidierung der Verfassung zu widersetzen; wenn er den katholischen Standpunkt hervorkehrte, als die Minister Raumer und Westphalen die bürgerliche Glaubens- und Gewissensfreiheit antasteten. Er hatte alles Recht, einen „liberalen" Minister des Jahres 1848, der nunmehr ein „konservativer" Regierungspräsident geworden war und ihn in einem Wahlerlass als „Jakobiner und Staatsfeind" verfemt hatte, in derben Worten abzustrafen. Überhaupt war die liberale Opposition der fünfziger Jahre vielleicht die an Charakter und Geist namhafteste Blüte des preußischen Parlamentarismus. Sie war bürgerlich beschränkt und preußisch verwachsen, aber sie glaubte noch an ihre bürgerlichen Ideale; sie besaß noch historische und philosophische Bildung; sie hatte sogar noch so etwas wie Männerstolz vor Königsthronen. Der höfische Streber und der verwahrloste Freihandelshausierbursche saßen noch nicht in ihrem Schoße. Ihr in erster Reihe verdanken wir, was in der preußischen Verfassung noch an bürgerlichen Freiheiten und Rechten erhalten ist, und in diesen Kämpfen hat sich Peter Reichensperger bemerkenswerte Verdienste erworben.

In den sechziger und namentlich in den siebenziger Jahren kam dann ein neues Geschlecht des Liberalismus auf. Die Alten verschwanden mehr und mehr im Hintergrunde oder starben aus. Für Reichensperger öffnete sich aber noch einmal eine parlamentarische Arena im Kulturkampfe. Der preußische Staat machte zum zweiten Male den Kampf gegen das Papsttum zu einem Kampfe gegen die bürgerlichen Freiheiten und Rechte, und diesmal fiel das Spektakelstück umso grotesker aus, als es der „Herkules des Jahrhunderts" aufführte mit brutalem Missbrauch der Gewalt, die ihm ein betörtes Volk in die Hände gespielt hatte. Aber dennoch wäre der preußische Gendarm nie dazu gekommen, sich am Felsen Petri den engen Schädel blutig zu stoßen, wenn der deutsche Liberalismus nicht unter schnödem Verrat an seinen Prinzipien zu der bismärckischen Gewaltpolitik übergelaufen wäre, um unter dem tosenden Lärm der Hetze gegen Rom die kapitalistische Aufsaugung der französischen Milliarden desto gründlicher zu betreiben. Die Fortschrittler – bis auf wenige Ausnahmen, wie Kirchmann – haben im Kulturkampfe nicht weniger gesündigt als die Nationalliberalen, und die freisinnigen Blätter sollten wirklich erst dreimal vor der eigenen Tür kehren, ehe sie über den alten Reichensperger die Nase rümpfen, der mindestens ebenso sehr nach seinen liberalen Überzeugungen wie nach seinem katholischen Glauben ins Zentrum gehörte.

Freilich hatte der wunderlich verschobene Angriff auch einen wunderlich verschobenen Widerstand hervorgerufen; die politisch heterogene Masse des Zentrums konnte nicht von einem liberalen Doktrinär, sondern nur von einem gewitzten Diplomaten geleitet werden. Windthorst, nicht Reichensperger, wurde der ultramontane Führer im Kulturkampfe. Aber Reichenspergers Verdienste um den Sieg des Zentrums dürfen deshalb nicht geringer geschätzt werden: Seine Persönlichkeit, sein Wissen, die Wucht seiner sittlichen Überzeugung gaben der von ihm vertretenen Sache oft einen Nachdruck und einen Schwung, den ihr Windthorst mit allen seinen diplomatischen Finessen nimmermehr hätte geben können. Mehr der Sieg als der Kampf, den Reichensperger in vollster Konsequenz seiner Überzeugungen führen durfte, mag sein bürgerliches Gewissen in manche Not gebracht haben; als fast achtzigjähriger Greis gab er noch eine Schrift gegen die Erhöhung der Getreidezölle heraus, die den feudal-reaktionären Elementen seiner Partei gar bitter schmecken musste. Über die Grenzen seiner Partei hinaus ist er durch reformatorische Bemühungen um die verfallende Rechtspflege bis zum letzten Atemzuge tätig gewesen.

Reichensperger war ein bürgerlicher Ideologe vom Scheitel bis zur Sohle; der Sozialismus hatte nichts von ihm zu erwarten als bitterste Feindschaft. Aber gerade deshalb können wir dem Toten den Ruhm gönnen, den er verdient: In seiner Art und von seinem Standpunkt aus war er immer ein ganzer Mann, ob er nun auf der Rechten oder der Linken oder in der Mitte des bürgerlichen Parlamentarismus saß. Und das ist mehr, als man von irgendeinem Epigonen dieses Parlamentarismus behaupten kann.

1 Mit der sogenannten oktroyierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 wollte die preußische Konterrevolution einen Tag nach der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung in Brandenburg mit einigen Konzessionen, die im Wesentlichen den Forderungen im Vereinigten Landtag von 1847 entsprachen, die liberale Bourgeoisie beruhigen.

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