Franz Mehring 18980105 Rudolf v. Bennigsen

Franz Mehring: Rudolf v. Bennigsen

5. Januar 1898

[Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 481-485. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 327-331]

Der Rücktritt Bennigsens von dem Oberpräsidium der Provinz Hannover und sein demnächst bevorstehender Rücktritt von der parlamentarischen Tätigkeit veranlassen die liberale Presse zu mancherlei historischen Betrachtungen, die allesamt ziemlich trübselig ausklingen. Und diese Melancholie ist durchaus gerechtfertigt. Das politische Leben Bennigsens, der seit vierzig Jahren als der eigentliche „Staatsmann" des deutschen Liberalismus galt, ist eine traurige Kette von Fehlschlägen und Niederlagen gewesen. Und dennoch wäre es nicht umsonst gelebt worden, wenn die liberale Bourgeoisie noch jetzt wenigstens aus dieser Quelle herber Erkenntnis schöpfen möchte! Aber wer darauf hoffen wollte, müsste so ins Bodenlose hoffen können, wie Bennigsen zu seinem Unheil zu hoffen verstanden hat.

Seine Sporen als liberaler Oppositionsführer erwarb er sich in seinem Geburtslande Hannover; zum Führer des deutschen Liberalismus wurde er im Jahre 1859 als Präsident des deutschen Nationalvereins. Den Kern dieses Vereins, der die deutsche Einheit mit der preußischen Spitze wollte, bildete die Bourgeoisie der deutschen Mittel- und Kleinstaaten, die unter der deutschen Zerrissenheit noch viel ärger litt als die preußische Bourgeoisie. Der rein bürgerliche Charakter des Vereins trat in seiner gehässigen Haltung gegen die ersten leisen Regungen der Arbeiterklasse drastisch hervor; seine Verleugnung des allgemeinen Wahlrechts, seine Weigerung, den Arbeitern durch ratenweise Zahlung der Jahresbeiträge den Eintritt zu ermöglichen, sein Hohn, die Arbeiter könnten sich ja als Ehrenmitglieder betrachten, führten zu der Arbeiteragitation Lassalles. Der Nationalverein war ganz frei von den „demokratischen" Tendenzen, die ihm der mittel- und kleinstaatliche Despotismus nachsagte, und Bennigsen ist sehr mit Unrecht beschuldigt worden, aus einem radikalen Demokraten ein schwachherziger Nationalliberaler geworden zu sein. Er war vor vierzig Jahren, was er heute ist: ein bürgerlicher Liberaler. Vom radikalen Kommunisten zum gefügigen Helfershelfer der ostelbischen Junkerreaktion sich zu entwickeln war seinem Freunde Miquel vorbehalten; Bennigsen ist in seinen politischen Anschauungen immer derselbe geblieben, und ebendeshalb ist sein persönliches Schicksal bezeichnend für das politische Schicksal des bürgerlichen Liberalismus.

Nachdem der Nationalverein die Arbeiterklasse von seiner Türe gewiesen hatte, blieb ihm noch der Weg zur deutschen Einheit, den er in seinem Programm aufgestellt hatte: das Bündnis mit der preußischen Regierung. Mindestens seit dem Jahre 1864 war es klar, dass Bismarck auf ein kleindeutsches Reich unter preußischer Hegemonie lossteuerte, also auf dasselbe Ziel wie der Nationalverein. Wollte dieser Verein von seinem Geldsackstandpunkt aus keine Revolution – und gerade Herr v. Bennigsen verleugnete jede Revolution so emphatisch, dass Lassalle ihn deshalb bitter verspottete –, so musste er sich mit Bismarck zu verständigen suchen. Der preußische Verfassungsstreit ging die mittel- und kleinstaatliche Bourgeoisie zunächst nichts an, und gerade die Liberalen außerhalb der schwarzweißen Grenzpfähle mussten einsehen, was sogar schon viele Liberale innerhalb dieser Grenzpfähle einsahen, dass so, wie die Fortschrittspartei den Konflikt von vornherein verfahren hatte, im Leben nichts dabei herauskommen würde. Bismarck hatte es damals durchaus nicht so dick, dass nicht ein hoher Preis für eine wirksame Unterstützung seiner kleindeutschen Pläne von ihm herauszuschlagen gewesen wäre. Aber statt diesen profitablen Handel zu versuchen, gefiel sich der Nationalverein in einem Phrasenschwulste, der die preußischen Freiheitsdonnerer noch überdonnerte. Am 14. Mai 1866 erließ sein Vorstand eine öffentliche Ansprache, worin es hieß: „Das Rechtsbewusstsein der Nation protestiert bis zum letzten Augenblick gegen die Willkür, welche mit dem Schicksal Deutschlands ein unverantwortliches Spiel treibt. Treu seinem patriotischen Berufe erhebt der Nationalverein nochmals seine Stimme gegen einen Bruch des deutschen Landfriedens, dessen Schuld wie ein Fluch auf das Haupt seiner Urheber zurückfallen wird… Er verlangt nach wie vor die Berufung einer nach den Grundsätzen des Reichswahlgesetzes (von 1849) gewählten Nationalversammlung, in welcher allein Deutschland die sichere Gewähr finden wird gegen Bürgerkrieg und Landesverrat, die feste Bürgschaft für die nationale Freiheit, Einheit und Macht." So Herr v. Bennigsen über Bismarck am Vorabend von Königgrätz.

Am Tage nach Königgrätz las er's anders. Nicht, dass er sich nunmehr mit Bismarcks nationaler Politik befreundete, kann ihm persönlich vom liberalen Standpunkt aus zum Vorwurf gemacht werden, das taten alle Liberalen, einschließlich der biederen Fortschrittler. Aber wohl war der Tadel berechtigt, dass der „Staatsmann" Bennigsen die politische Situation nach Königgrätz ebenso gründlich verkannte wie vor Königgrätz. Bismarck war noch längst nicht über alle Berge, und die liberale Bourgeoisie konnte ihm ihre Unterstützung immer noch zu einem respektablen Preise verkaufen. Dass dies nicht geschah, dass die einfachsten und selbstverständlichsten Ansprüche des bürgerlichen Liberalismus preisgegeben wurden, sobald Bismarck mit der lächerlichen Drohung anrückte, sonst würde nichts aus der deutschen Einheit, das ist in erster Reihe die Schuld Bennigsens gewesen. Bismarck feierte ihn dafür als „einen seiner erfolgreichsten Mitarbeiter", um hinterher höhnisch zu erklären, die Nationalliberalen wüssten gar nicht, wie viel sie nach 1866 hätten erringen können, wenn sie nur einige Courage gehabt hätten.

Bennigsen war es auch in erster Reihe, der im Jahre 1874 die letzte Gelegenheit verscherzte, dem bürgerlichen Parlamentarismus im neuen Deutschen Reiche eine sichere Stellung zu geben. Er brachte in der Militärfrage das Septennat1 zustande, von dem sich das parlamentarische Budgetrecht nicht wieder erholt hat; er, der einst im Nationalverein die Seele aller Agitationen gewesen war, gewann es jetzt über sich, den offiziösen Spektakel gegen die jährliche Bewilligung des Militäretats durch den Reichstag als die primitivste Bewegung zu feiern, die seit dem Jahre 1848 durch die Massen des deutschen Volkes gegangen sei. Einen starken Stoß erhielt sein Ansehen gleichzeitig durch seine Beteiligung an den Eisenbahngründungen Hannover-Altenbeken und Löhne-Vienenburg. Dass es dabei zu starken Unregelmäßigkeiten gekommen ist, geht selbst aus dem beschönigenden und vertuschenden Berichte der berufenen Untersuchungskommission hervor; ob unrechtmäßige Gründergewinne gemacht worden sind, ist nicht festgestellt worden. Von den beiden Personen, die darüber Auskunft geben konnten, verweigerte der Kommerzienrat Cohen die Auskunft, während der Gutsbesitzer Adickes viermal vorgeladen wurde, aber „unauffindbar" war, obgleich er zur selben Zeit, wo er gesucht wurde, als nationalliberaler Abgeordneter auf den Bänken des Reichstags saß. Und zwar neben dem Cato Lasker, der sich über den Fall später vor versammeltem Kriegsvolke also rechtfertigte: „Wir suchten einen Zeugen, der wohl unterrichtet sein musste, den Reichstagsabgeordneten Adickes. Als wir ihn suchten, war der Reichstag zusammen, und nicht weniger als viermal wurde dieser Zeuge geladen, zum Teil in Berlin, zum Teil in seiner Heimat, und immer kam die Antwort, der Herr sei nicht zu ermitteln. Ich stellte den Antrag, nicht früher die Untersuchung zu schließen, als bis das Zeugnis des Adickes erlangt sein würde, und ich bin mit derjenigen Energie, mit der man überhaupt einen Antrag verteidigen kann, sofern man nicht zur Faust greift, fortwährend auf diesen Punkt zurückgekommen." In die Enge getrieben, gestand Lasker dann: „Als der Bote mehrfach berichtet hatte, dass Herr Adickes nicht anzutreffen wäre, trug ich in der Untersuchungskommission vor, der Bote müsse nicht sorgfältig gewesen sein, denn Herr Adickes wohne als Mitglied den Verhandlungen des Reichstags bei." Man mag gerne annehmen, dass Herr von Bennigsen trotzdem reine Hände behalten hat: Jedenfalls hat ihm und der Partei, die er führte, der gräuliche Humbug des „unfindbaren Zeugen" Adickes eine unverwindliche Schlappe beigebracht.

Als dann Bismarck seine große Massenplünderung vorbereitete, bot er um die Jahreswende von 1877 auf 1878, vor nunmehr genau zwanzig Jahren, den Nationalliberalen einige Ministerportefeuiiles an, vorausgesetzt, dass sie ihm zu Willen wären. Jetzt endlich fand Bennigsen ein Nein, aber ein Nein, das viel zu spät kam und viel zu zögernd gegeben wurde, um noch ein politisches Verdienst zu sein. Immerhin mag man es ein persönliches Verdienst Bennigsens nennen, dass er eine an sich schon erniedrigende Zumutung ablehnte, dass er wenigstens ein kleines Päckchen liberaler Grundsätze ins Ministerium mitnehmen wollte. Soweit reichte seine Kraft aber nicht, um auch in entschiedene Opposition zu Bismarck zu treten. Dem ersten Sozialistengesetzentwurfe, nach dem Attentate Hödels, widersetzte er sich noch, die Rede, die er gegen diese Vorlage hielt, ist wohl seine beste parlamentarische Leistung gewesen. Nach dem Attentate Nobilings drückte Bismarck „die Nationalliberalen an die Wand, dass sie quietschten"; sie wurden die wahren Opfer des Sozialistengesetzes. Bennigsen zog sich dann zeitweise aus dem parlamentarischen Leben zurück und spielte den „Hinterfrontmarschall"; bei den Faschingswahlen von 1887 fand er sich aber wieder in Bismarcks Tross ein und machte alle Reaktion mit.

Nach dem Tode des Kaisers Wilhelm avancierte er zum Oberpräsidenten der Provinz Hannover. Der alte Kaiser hatte die Krone seines Vetters von Hannover in aller Gemütsruhe eingesteckt, aber er betrachtete solche kleinen Ausgleiche zwischen Mein und Dein als ein Vorrecht derer von Gottes Gnaden und liebte die Leute nicht, die aus profaner Vermessenheit an einer Krone, gleichviel welcher, gerüttelt haben. Das wurde unter dem Neuen Kurse anders, jedoch als vorsichtiger Staatsmann leitete Bennigsen seine neue Amtstätigkeit mit einer Injurienklage gegen einen welfischen Redakteur ein, der ihn beschuldigt hatte, in der Krisis des Jahres 1866 das angestammte Welfenhaus verraten zu haben. Es fand sich auch ein Fünfmännerkollegium, das den Sünder zu mehrmonatlichem Gefängnis verurteilte und damit – den letzten Anspruch löschte, den Bennigsen auf einen historischen Namen erheben konnte. Als Oberpräsident ist er nichts gewesen als das Werkzeug reaktionärer Minister, der Eulenburg, der Koller, der Recke; ob ihm die Befehle aus Berlin gefielen oder nicht, er hat sie getreulich ausgeführt, nicht zuletzt als Sozialistenverfolger, und sein Regiment wird am besten dadurch gekennzeichnet, dass die „Reichsfeinde" aller Art in der Provinz Hannover zahlreicher sind, da er geht, als da er kam. Und seine Illusion, als gehorsamer Untergebener erzreaktionärer Minister zugleich der selbständige Führer einer liberalen Partei sein zu können, hat die Nationalliberale Partei mit dem bisschen Kredit bezahlen müssen, das sie vor zehn Jahren etwa noch besitzen mochte.

Über die persönliche Befähigung des Herrn v. Bennigsen sind von jeher zwei verschiedene Meinungen umgegangen. Die einen halten ihn für einen tief denkenden Staatsmann, die anderen für einen Mann der politischen Repräsentation, der bei den sogenannten „großen" Gelegenheiten schickliche Worte in schicklicher Würde zu machen und sich sonst durch eine seltene Verschlossenheit einen Anschein zu geben wisse, hinter dem nichts Besonderes stecke. Die Wahrheit dürfte in der Mitte zwischen beiden Urteilen liegen. Dass Herr v. Bennigsen kein großer Staatsmann gewesen ist, zeigt schon der oberflächlichste Blick auf seine politische Laufbahn, aber manche seiner parlamentarischen Reden zeigen doch auch, dass er mehr gewesen ist als ein friedlicher Phraseur und Poseur. Und dass es ein gewisses Maß politischer – nun, sagen wir, Entsagung gibt, dessen Bennigsen trotzdem noch fähig war, zeigt seine Ablehnung des Portefeuilles, das Bismarck ihm vor zwanzig Jahren anbot, zeigt ein Blick auf die gegenwärtige Rolle seines Freundes Miquel. Mit Schadenfreude werden ihn auch seine politischen Gegner nicht vom öffentlichen Schauplatze verschwinden sehen, aber wohl mit der Empfindung, dass die Nemesis ihres Amtes gewaltet hat.

Als Herr v. Bennigsen vor einem Menschenalter mit höhnischem Worte die Arbeiter zurückwies, die den bürgerlichen Liberalismus im Kampfe gegen den Absolutismus und Feudalismus unterstützen wollten, sprach er sich selbst das Schicksal, das sich traurig an ihm erfüllt hat.

1 Bewilligung der Kosten für die Friedensstärke des deutschen Heeres durch den Reichstag auf je sieben Jahre.

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