Franz Mehring 19111124 Bücherschau (Gustav Mayer: Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland)

Franz Mehring: Bücherschau (Gustav Mayer: Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland)

24. November 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 297/298. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 522 f.]

Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863 bis 1870). Leipzig 1911, Verlag von C. L. Hirschfeld. 67 Seiten. Preis 1,80 Mark.

Eine fleißige und tüchtige Arbeit, die zuerst in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus erschienen ist, aber wohl einen Sonderabdruck verdient.

Der Verfasser schildert eine Entwicklung, die noch gleichzeitig der Geschichte der Sozialdemokratie und des bürgerlichen Radikalismus angehört. Er will zeigen, wie in einem Zeitalter des aufstrebenden Kapitalismus das Bedürfnis nach nationaler Einigung und die Vertiefung der sozialen Gegensätze sich als lebendigere und damit auch für die Parteibildung fruchtbarere Kräfte erwiesen haben als die auf formal-staatsrechtlichem Boden zurückbleibenden Forderungen der „reinen" Demokratie. Er sagt mit Recht, diese habe sich von ihrer Niederlage in den Revolutionsjahren nie wieder erholt, und alle Versuche, sie neu zu beleben, seien mehr oder weniger vollständig gescheitert. Erst nach der Legierung ihrer aus dem individualistischen Prinzip der Freiheit abgeleiteten Postulate mit den aus dem Solidaritätsgefühl entwurzelter Massen elementar emportreibenden sozialistischen Bestrebungen habe die Demokratie in gründlich veränderter Gestalt von neuem eine mächtige Werbekraft entfaltet.

Sollte Herr Mayer mit diesem nicht ganz klaren Satze die deutsche Sozialdemokratie meinen, so ist dagegen nichts einzuwenden; sollte er jedoch dabei die „Demokratische Vereinigung"1 der Herren Breitscheid und Gerlach im Auge gehabt haben, so haben wir von deren „mächtiger Werbekraft" noch nicht viel gespürt, und wir glauben nicht daran, dass sie sich in der Zukunft noch entfalten wird. Man mag das bedauern, und es mag eine durchaus diskutable Frage sein, ob es für die nationale Entwicklung nicht besser gewesen wäre, wenn wir eine starke bürgerliche Demokratie gehabt hätten: eine Demokratie, die aus der Junkerdomäne Deutschland einen modernen Kulturstaat geschaffen hätte, selbst wenn dadurch die proletarisch-revolutionäre Bewegung ein langsameres Tempo angenommen hätte. Aber diskutabel wie diese Frage sein mag, so ist sie rein akademisch, und bei der Vorliebe der bürgerlichen Demokratie für Schiller-Zitate kann man nur sagen: Was du von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.

Die letzte Minute, die der bürgerlichen Demokratie in Deutschland die Möglichkeit gewährte, sich eine Zukunft zu sichern, war die Zeit, die Herr Mayer in seiner kleinen Schrift schildert. Wie in seiner Biographie Schweitzers, zeigt er auch hier eine an einem bürgerlichen Historiker ebenso anerkennenswerte wie seltene Unbefangenheit; er hat eine Masse Material aus verschollenen Schriften und Zeitungen zusammengesucht und weiß es klar und übersichtlich zu gruppieren. Dass er dabei freilich ein bürgerlicher Historiker bleibt, zeigen seine schon zitierten Äußerungen über den „formal-staatsrechtlichen Boden" der bürgerlichen Demokratie und ihre „aus dem individualistischen Prinzip der Freiheit abgeleiteten Postulate". Weder jener Boden noch diese Postulate haben die bürgerliche Demokratie in Deutschland umgebracht, sondern sie ist untergegangen, weil sie weder eine klare noch konsequente noch mutige Stellung in den Klassenkämpfen der Zeit einzunehmen wusste, wovon auch die Schrift Mayers Proben genug gibt.

Der eigentliche Kern der bürgerlichen Demokratie kann immer nur das Kleinbürgertum sein. Das deutsche Kleinbürgertum ist aber in den Jahrhunderten nach dem Dreißigjährigen Kriege so verkümmert, und es ist von den herrschenden Klassen so zusammengehudelt worden, dass es weder im Jahre 1848 noch in den Konfliktsjahren selbständige Politik zu treiben vermochte. Was an ihm noch kräftig war, ging zum kämpfenden Proletariat über; was an ihm feig und krank und schwach war, hing sich als Schwanz an das Junkertum oder die Bourgeoisie.

Dagegen ist nun einmal nicht aufzukommen, und die Versuche, die bürgerliche Demokratie zu beleben, scheiterten nicht an irgendwelchen Ideologien, sondern an der Tatsache, dass sie keine Klasse mehr hinter sich bekommen konnte. Bis auf den neuesten kommen diese Versuche nicht über einen kleinen Kreis gebildeter und einsichtiger Bourgeois hinaus, was viel zu sehr im historischen Verlauf der Dinge liegt, als dass es sich jemals ändern könnte.

1 Die 1908 von einem Teil der Freisinnigen gegründete bedeutungslose Partei dieses Namens ging bereits 1910 wieder in der Fortschrittlichen Volkspartei auf. (Führer: Theodor Barth, Hellmut von Gerlach und Rudolf Breitscheid – ab 1912 SPD, später Vorsitzender.)

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