Franz Mehring 19120223 Bücherschau (Max Lehmann: Historische Aufsätze und Reden)

Franz Mehring: Bücherschau (Max Lehmann: Historische Aufsätze und Reden)

23. Februar 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 761/762. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 520 f.]

Max Lehmann, Historische Aufsätze und Reden. Leipzig 1911, Verlag von S. Hirzel. 384 Seiten. Preis geheftet 7 Mark, gebunden 8 Mark.

Unter den bürgerlichen Historikern hat sich Max Lehmann am verdientesten um die Aufklärung der preußischen Geschichte gemacht. Obgleich er selbst von den kleindeutschen Geschichtsbaumeistern à la Sybel und Treitschke seinen ersten Ausgang nahm, so hat er sich mehr und mehr von deren geschichtsklitternden Tendenzen zu emanzipieren verstanden und gründlich unter den Fabeln aufgeräumt, die sie mit solcher Beharrlichkeit und solchem Erfolg über die preußische Geschichte verbreitet haben.

Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus wird man an der Methode des Göttinger Historikers manches aussetzen, aber was den Leser seiner Schriften ungemein anregt und fesselt ist, noch über den historischen Blick hinaus, der ihnen unbedingt eignet, die Empfindung, dass es ihrem Verfasser immer nur um die Wahrheit zu tun ist. Man bewegt sich bei Max Lehmann durchaus auf sicherem Boden. Dazu kommt die gehaltvolle Form, die sich von der überladenen Rhetorik Treitschkes fernhält, ohne doch irgendwie in die lederne Langeweile des landläufigen Professorenjargons zu verfallen.

Alle diese Vorzüge machen die großen Werke Lehmanns, seine Biographien Scharnhorsts und Steins, freilich noch nicht zu einer so bequemen und leichten Lektüre, wie die Schriften der großpreußischen Romanfabrikanten sind. Sie schöpfen allemal aus dem vollen, und so gut es Lehmann versteht, die ungeheuren Massen des archivalischen Materials übersichtlich zu ordnen und die entscheidenden Gesichtspunkte hervorzuheben, so kostet es immer ein Stück ernsten Nachdenkens, ihm so zu folgen, dass man seiner Leistung durchaus gerecht wird. Seine Biographie des Bauernsohns Scharnhorst, die schon um ihres Helden willen das lebendigste Interesse erwecken muss, hat in mehr als einem Vierteljahrhundert noch nicht die zweite Auflage erlebt, in schroffem Gegensatz zu der gesinnungstüchtigen Biographie des Erzjunkers Yorck, die der preußische Historiograph Droysen verfasst hat.

Unter diesen Umständen begrüßen wir gern die Sammlung seiner historischen Aufsätze und Reden, die Max Lehmann eben herausgegeben hat. Es sind ihrer etwa zwanzig, darunter einige akademische Festreden, und ein paar Abhandlungen, die sich mit historischen Spezialfragen befassen und mehr nur die Historiker von Fach interessieren. Aber die Mehrzahl der Aufsätze beschäftigt sich mit wichtigen Problemen der preußischen Geschichte und ist außerordentlich geeignet, zum Kummer der braven Patrioten, „denen die Auflösung einer Legende annähernd so schmerzlich ist wie der Verlust einer Schlacht", in weiten Kreisen klares Licht über die borussische Herrlichkeit zu verbreiten. „Preußen und Polen", „Agrariertum und Steuern in Brandenburg-Preußen", „Aus der Geschichte der preußischen Volksschule", „Werbung, Wehrpflicht und Beurlaubung im Heere Friedrich Wilhelms I.", „Hardenbergs Denkwürdigkeiten", „Der Friede von Tilsit", „Fichtes Reden an die deutsche Nation vor der Zensur", „Boyens Denkwürdigkeiten", „Die preußische Städteordnung vom 19. November 1868" – diese Titel geben einen ungefähren Begriff, wenn auch noch nicht von der Reichhaltigkeit, so doch von der Mannigfaltigkeit des Inhalts.

Wir wünschen dem Buche eine weite Verbreitung, namentlich auch in den bürgerlichen Kreisen, für die es ja in erster Reihe bestimmt ist. Der zweihundertste Geburtstag des alten Fritz hat eben wieder gezeigt, wie tief noch selbst in derjenigen bürgerlichen Presse, die sich einbildet, an der Spitze der bürgerlichen Zivilisation zu marschieren, die borussische Legende wurzelt und den Kampf für den historischen Fortschritt lähmt. Wir verlangen von diesen Biedermännern natürlich nicht, dass sie der „sozialdemokratischen Geschichtsschreibung" glauben sollen, aber an den Arbeiten Lehmanns können sie sehen, wieweit sie selbst hinter den bürgerlichen Vertretern der historischen Wissenschaft einher trotten.

Schließlich sei noch erwähnt, dass wir in dem Buche Lehmanns vergebens nach dem Anathema gegen den historischen Materialismus gesucht haben, ohne den selbst die besseren bürgerlichen Historiker sich nicht gern an die Öffentlichkeit trauen. Wir wollen Herrn Lehmann deshalb keineswegs zum Proselyten der historisch-materialistischen Methode machen. Aber wir dürfen den guten Geschmack loben, der ihn auf diesen wohlfeilen Theaterdonner verzichten lässt.

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