Franz Mehring 19040615 Das Zeitalter der Reizsamkeit

Franz Mehring: Das Zeitalter der Reizsamkeit

15. Juni 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 353-356. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 511-515]

Als Johann Joachim Christoph Bode im Jahre 1768 Sternes „Sentimental journey through France and Italy"… übersetzte, fragte er seinen Freund Lessing, wie das Wort sentimental am treffendsten in sein geliebtes Deutsch zu übertragen sei. Lessing schlug dafür das von ihm selbst gefundene Wort „empfindsam" vor und tat damit den glücklichsten Griff, den er vermutlich je als Sprachschöpfer getan hat. Das Wort hat seine ursprüngliche Frische bis auf diesen Tag bewahrt und erschöpft vollkommen eine bestimmte Richtung des Seelenlebens, die auch im Leben der Nation einmal eine bestimmte Bedeutung gehabt hat.

Solche glücklichen Griffe gelingen aber nicht jedem, weil sie einem Lessing gelungen sind. Wo die schöpferische Hand fehlt, die den ganzen Gehalt einer historischen Periode in einem einzigen Worte zusammenzufassen weiß, da ist sie auch durch die weitläufigste Gelehrsamkeit nicht zu ersetzen. Lessing wollte nur seinem Freunde im beiläufigen Gespräch eine kleine sprachliche Hilfe gewähren und stellte, im unbewussten Schaffen des Genius, ein ganzes Zeitalter lebendig dar; Karl Lamprecht will ein Zeitalter der Reizsamkeit schildern und schreibt für diesen Zweck drei umfangreiche Bände, nach deren Durchforschung man immer noch nicht weiß, was Reizsamkeit ist, geschweige denn, weshalb gerade „die jüngste deutsche Vergangenheit" ein Zeitalter der Reizsamkeit sein soll.*

Die „Deutsche Geschichte", die Lamprecht seit dem Jahre 1891 herauszugeben begann, erweckte im Anfang große Hoffnungen, und ihre ersten Bände sind in diesen Blättern mit einer Anerkennung besprochen worden, von der wir auch heute keinen Anlass haben, ein Wort zurückzunehmen. Unter den bürgerlichen Historikern schien sich Lamprecht am meisten der historisch-materialistischen Methode zu nähern, und es kam darauf an, ob er ihr treu bleiben würde, auch wenn er zu den Perioden der deutschen Geschichte gelangte, bei denen die bürgerlichen Vorurteile mit den Aufgaben einer rücksichtslosen oder, um das beliebte Professorenschlagwort zu gebrauchen, „voraussetzungslosen" Geschichtsforschung kollidierten. Spätestens im fünften Bande, der 1895 erschien, zeigte sich, dass Lamprecht dieser entscheidenden Probe nicht gewachsen war; in seiner Auffassung Luthers, Müntzers, der Wiedertäufer1 bekundete er eine bürgerliche Befangenheit, die sich von der bürgerlichen Geschichtsschreibung überhaupt mindestens in der Art nicht mehr unterschied.

Das wäre nun freilich in den Augen der bürgerlichen Welt kein Fehler gewesen; sie hätte im Gegenteil über einen Sünder, der Buße tat, größere Freude empfinden können als über neunundneunzig Gerechte. Allein an Lamprecht bewährte sich wiederum die alte Erfahrung, dass mit der Opferung des Prinzips auch das Talent in die Brüche zu geraten pflegt; er hatte speziell in diesem fünften Bande andere bürgerliche Historiker in einer Weise kompiliert, die weit über die Grenzen des Erträglichen, geschweige denn des Erlaubten ging. Seine Verteidigung gegen diesen Vorwurf war mehr als schwach; abgesehen von Verdächtigungen seiner Angreifer, deren Berechtigung sich nicht kontrollieren ließ, und sehr fadenscheinigen Ausreden auf den Druckfehlerteufel, meinte er, die unerlaubten Kompilationen, die ihm unstreitig nachgewiesen worden waren, fänden sich in den politischen Teilen seiner historischen Darstellung, während ihr Schwerpunkt in der Schilderung der ökonomischen und kulturellen Entwicklung läge; die politische Geschichte sei ihm Nebensache, und er habe dies Füllsel genommen, wo er es gefunden habe. Gleichviel wie es sonst um diese Entschuldigung stehen mochte, so war sie jedenfalls ein völliger Bruch mit dem historischen Materialismus, der auf der untrennbaren Einheitlichkeit aller historischen Entwicklung beruht.

Mit dem fünften Bande, der bis zum Schlüsse des Dreißigjährigen Krieges führte, hat Lamprecht nun vorläufig die ununterbrochene Fortsetzung seines Geschichtswerkes eingestellt, dagegen es sozusagen von hinten aufgenommen, indem er in drei Bänden die Geschichte der Gegenwart schildert. Zur Rechtfertigung dieser Arbeitsmethode führt er an, dass man die neuere Zeit, das Zeitalter des individuellen Seelenlebens, das er vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts rechnet, nicht verstehen könne, ohne die neueste Zeit, das Zeitalter subjektiven Seelenlebens, verstanden zu haben, und dass wieder diese neueste Zeit unverständlich sei, wenn man nicht die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit, die Periode der Reizsamkeit, begriffen habe. Lamprecht erläutert diese Behauptung dahin, dass für die urzeitlichen und mittelalterlichen Perioden das Erfassen der einzelnen Perioden selbst der Hauptsache nach genügt habe. Es sei wie mit der Erkenntnis der psychischen Entwicklung im Jugend- und Mannesalter des Menschen. Wer werde nicht die Fortschritte des Knaben- und Jünglingsalters leicht erkennen? Aber die Unterschiede der psychischen Entwicklung von den dreißiger zu den vierziger Jahren und von den vierziger bis zu den fünfziger Jahren festzustellen sei weit schwerer und vielleicht auch nur durch viel sorgsamere Vergleichung der einzelnen Perioden nach rückwärts und vorwärts, als sie sonst geübt werde, wirklich eingehend möglich.

Wo die Begriffe fehlen, stellt sich diesmal ein Bild zur rechten Zeit ein. Aber von unserem Teile müssen wir und vielleicht zu unserer Schande gestehen, dass wir nicht reizsam genug sind, die Reize dieses Bildes zu empfinden. Es will uns schlechterdings nicht in den Kopf – und genau dies ist die Ansicht Lamprechts –, dass man erst Wildenbruch, Fulda, Hauptmann, Sudermann verstanden haben müsse, ehe man daran denken dürfe, Goethe, Schiller, Lessing, Wieland und Klopstock zu verstehen, dass man erst Nietzsche und Fechner durch schmarotzt haben müsse, ehe man sich an Kant, Fichte und Hegel wagen dürfe, dass man erst den „reizsamen Naturalismus" Bismarcks und den „reizsamen Idealismus" Wilhelms II. kennen müsse, ehe man sich ein abschließendes Wort über den alten Fritz erlauben dürfe. Es liegt uns durchaus fern, über ein Werk zu scherzen, das uns weit eher ein Gefühl der Sympathie mit dem im gewissen Sinne tragischen Schicksal seines Verfassers eingeflößt hat, aber wir müssten lügen, wenn wir behaupten wollten, dass wir den geheimen Sinn dieser Geschichtsschreibung von hinten enträtselt hätten.

Möglich, dass wir zu viel hinter der Reizsamkeit suchen, deren Verständnis uns erst die deutsche Geschichte seit der Reformation erschließen soll. Einmal definiert sie Lamprecht geradezu als die „Nervosität", die jedem Kinde als die Folge der hochkapitalistischen Produktionsweise bekannt ist; er meint, da die „Nervosität" bestimmte Nebenvorstellungen erwecke, so sei es besser, von „Reizsamkeit" zu sprechen. Soll dies nun aber wirklich des Pudels Kern sein, so kann einem der Kasus allerdings lachen machen. Spuren von Nervosität in Hauptmanns „Hannele" oder in Nietzsches „Zarathustra" oder in Bismarcks despotischen Launen oder in der Tätigkeit des gegenwärtigen Kaisers zu entdecken, das ist am Ende so schwer nicht, aber wie um Himmelswillen sind solche Entdeckungen notwendig, um das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert zu verstehen, denen die moderne Nervosität so fern stand wie ihre Ursache, die großkapitalistische Produktionsweise.

Die Spuren dieser „Nervosität" in der Kunst, Literatur und Wissenschaft, in der politischen und sozialen Geschichte der Gegenwart aufzusuchen und darzustellen, das ist jedenfalls, wie immer es um die „Reizsamkeit" stehen mag, die Aufgabe, die Lamprecht in seinen drei Ergänzungsbänden gelöst hat. Selbst nervös geworden, seitdem er mit seinem großen Werke auf einen Holzweg geraten ist, hat er einen feinen und geistreichen Blick für alle nervösen Störungen des modernen Lebens, und im Einzelnen wird man manches Kapitel nicht ohne Genuss und Gewinst lesen. Im Ganzen freilich beendet man die Lektüre mit dem Gefühl, wie es etwa ein Mann haben mag, der sich einige Wochen lang mit Makronen und Schlagsahne hat nähren müssen. Von allem Gesunden, Lebenskräftigen und Zukunftsmächtigen, das durch die Geschichte der Gegenwart pulst, erfährt man aus Lamprechts drei Bänden nichts, obgleich sie der modernen Arbeiterbewegung gedenken, wenn auch ohne den spürenden Scharfsinn, womit die Nervosität der herrschenden Klassen zerlegt wird.

Es ist vielmehr ganz die landesübliche Schablone, nach der Lamprecht die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zeichnet, bis auf das Schlussbild, wo Bernstein erscheint, um „mit völlig umgestaltender und neu bauender Kritik" der „unwissenschaftlichen parteipolitischen Zuspitzung der Marxschen Lehren" ein Ende mit Schrecken zu bereiten, während ihn „die konservative Strömung" niederzuschlagen versucht „genau mit den Mitteln, die alternde Religionen gegen verwegene Neuerer anzuwenden pflegen". Diese Schablone teilt Lamprecht mit der ganzen bürgerlichen Denkerschar; auf eigene Faust dichtet er, dass der Lübecker Parteitag im Jahre 1901 die Freiheit wissenschaftlicher Selbstkritik verleugnet habe. Wir bedauern, sagen zu müssen, dass Lamprecht dabei wider besseres Wissen verfährt. Er hat das Lübecker Parteiprotokoll nachgeschlagen und erzählt, der Parteitag habe den Satz abgelehnt: „die Partei hält die Freiheit wissenschaftlicher Selbstkritik für eine Voraussetzung der geistigen Weiterentwicklung der Partei", ohne hinzuzufügen, dass die Ablehnung nicht wegen des prinzipiellen Inhaltes dieses Satzes erfolgte, sondern wegen anderen damit verknüpften Sätzen, während die Resolution, die angenommen wurde, mit dem inhaltlich gleichen Satze begann: „Der Parteitag erkennt rückhaltlos die Notwendigkeit der Selbstkritik für die geistige Fortentwicklung unserer Partei an."

In erhebendem Gegensatz zu dem sozialdemokratischen Terrorismus, der neue Gedanken erwürgt, steht dann das farbenprächtige Bild, das Lamprecht von dem „reizsamen Idealismus" Wilhelms II. entwirft. Mit unserer Kritik bleiben wir davon fern, aus begreiflichen Gründen, aber den Ausdruck unseres Erstaunens können wir nicht unterdrücken, dass ein Mann, der die Ansprüche eines unabhängigen Historikers erhebt, diese Seiten hat schreiben können. Ein Byzantiner ist Lamprecht deshalb gewiss nicht. Er ist unter die Weltpolitiker gegangen und schreibt am Schlusse seines dritten Bandes: „Ausdehnung also zum Größtstaat, Zusammenfassung aller Kräfte der staatlichen Gesellschaft zu einheitlichen Wirkungen nach außen und darum Führung durch einen Helden und Herrn: Das sind die nächsten Forderungen des Expansionsstaats." Dieser Schrei nach einem „Helden und Herrn" aus dem Munde desselben Historikers, der vor einem halben Menschenalter auszog, dem Heroenkultus in der Geschichte ein Ziel zu setzen, und sich nun, in qualvollem Ringen zwischen seinem bürgerlichen und seinem wissenschaftlichen Gewissen, völlig im Kreise gedreht hat, das ist eine Spur jenes tragischen Hauches, von dem wir sagten, dass er durch diese Bände wehe.

Alles in allem enthalten sie die Krankheitsgeschichte der kapitalistischen Gegenwart, erzählt von einem Kranken, der, im Zeitalter der Reizsamkeit selbst reizsam geworden, mit unheimlicher Sicherheit die Krankheitssymptome schärfer zu schildern weiß, als ein Gesunder es könnte, aber der jedes Blickes entbehrt für das junge Leben, das mitten im kapitalistischen Moder kraftvoll an neuen Gebilden schafft, wie sie herrlicher die Geschichte noch nie gesehen hat.

* Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte. Drei Ergänzungsbände unter dem Gesamttitel: Zur deutschen, jüngsten Vergangenheit. Erster Band: Tonkunst, Bildende Kunst, Dichtung, Weltanschauung. 463 S. Zweiter Band, erste Hälfte: Wirtschaftsleben, Soziale Entwicklung. 520 S. Zweiter Band, zweite Hälfte: Innere Politik, Äußere Politik. 761 S. Freiburg i. Br. 1901, 1903, 1904, Hermann Herzfelder.

1 Schwärmerische protestantische Sekte, die die Taufe unmündiger Kinder ablehnte und stattdessen die Taufe der Erwachsenen propagierte. Ihre Mitglieder teilten oft ihre Güter gleichmäßig untereinander. Sie wurden nach der Niederschlagung des Bauernkrieges und der Hinrichtung Thomas Müntzers in Deutschland grausam verfolgt. 1534 vertrieben die Wiedertäufer unter Führung Jan Matthis' und Jan von Leidens alle Reichen aus der Stadt Münster und hofften, hier das „neue Jerusalem" errichten zu können. Am 25. Juni 1535 fiel Münster nach blutigem Kampf. Die Überlebenden wurden grausam gefoltert, alle Wiedertäufer, die in Deutschland gefunden wurden, verfielen der Todesstrafe. Auch Luther wütete gegen sie.

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