Franz Mehring 18931227 Deutsche Geschichte

Franz Mehring: Deutsche Geschichte

1893/1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 443-448, 475-480. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 496-510]

Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte. Erster Band 1891. Zweiter Band 1892. Berlin, R. Gärtners Verlagsbuchhandlung, Hermann Heyfelder. Preis jedes Bandes 6 Mark.

I

Für den aufmerksamen Beobachter ist es seit einiger Zeit nicht mehr zweifelhaft, dass sich in der bürgerlichen Geschichtsschreibung eine gewisse Wendung zum Besseren vollzieht. Die Orgien der preußischen Geschichtsklitterung hatten in Treitschke und seinen Schülern einen Gipfel erklommen, der unmittelbar ins Reich der Narrheit reichte und die preußisch-reaktionären Interessen ernsthaft gefährdete. Gegen den Götzendienst, den Treitschke mit Friedrich Wilhelm III. trieb, einem der beschränktesten nicht nur, sondern auch einem der böswilligsten Menschen, die das neunzehnte Jahrhundert verunziert haben, empörte sich selbst Kaiser Friedrich – trotz seines hochgesteigerten hohenzollernschen Selbstbewusstseins. In voller Höhe steht jener Gipfel nur noch in der rückständigsten Form der preußischen Geschichtsklitterung, in der Literarhistorie der Erich Schmidt, August Sauer, Otto Brahm und Konsorten. In der politischen Geschichtsschreibung haben die jüngeren Borussen einen gewissen Rückmarsch angetreten, so beispielsweise Max Lehmann in seiner Biographie Scharnhorsts. Sie halten es nunmehr in Sachen der historischen Wahrheit mit dem, was nach einem bekannten Scherzwort die bayerischen Soldaten im Kriege von 1870 „moderiert Verwüschten" genannt haben sollen.

Gewonnen ist damit freilich noch nichts, weder politisch noch wissenschaftlich, im Gegenteil eher etwas verloren insofern, als die preußische Geschichtsklitterung um so gefährlicher werden kann, je mehr sie sich äußerlich mit der Wahrheit auf einen erträglichen Fuß zu setzen versucht. Ganz anders aber steht es um die sogenannte „wirtschaftsgeschichtliche Schule", deren namhaftester Vertreter der Geschichtsprofessor Karl Lamprecht in Leipzig ist. Sie in der Tat stellt einen bedeutenden und bedeutsamen Fortschritt der bürgerlichen Geschichtsschreibung dar. So fern sie auch noch grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung steht, so erkennt sie doch an, dass in jedem Zeitalter der Geschichte der Inhalt des Geisteslebens aus materiellen und sozialen Voraussetzungen bald in höherem, bald in geringerem Grade abgeleitet werden muss. Sie hat damit einen Standpunkt gewonnen, der eine wissenschaftliche Auffassung und Behandlung der Geschichte gestattet. Lamprechts „Deutsche Geschichte" ist der erste wissenschaftliche Versuch, die historische Entwicklung unseres Vaterlandes in dem wirklichen Spiel ihrer Ursachen und Wirkungen darzustellen, und soweit die beiden ersten Bände des auf sieben Bände berechneten Werkes ein Urteil gestatten, ist dieser Versuch in hohem Grade gelungen. Wir hätten es gern der bürgerlichen Presse überlassen, eine für ihre Klasse so ehrenvolle Leistung nach Gebühr hervorzuheben, aber soweit wir ihre Organe von der „Kreuz-Zeitung" bis zur „National-Zeitung" und von der „National-Zeitung" bis zur „Frankfurter Zeitung" verfolgt haben, beschränken sie sich darauf, Lamprechts Werk mit der Handvoll banaler Lobesphrasen abzufertigen, die dem deutschen Professor von Rechts wegen gebühren. So wollen wir denn in dem „populären Organe der Marxisten" dem Werke gerecht zu werden suchen, auch auf die Gefahr hin, durch unsere „Voreiligkeiten" einmal wieder „viel Unheil" anzurichten.

Wir sagten schon, dass Lamprecht grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung noch fern steht, und manchmal baumelt ihm der idealistische Zopf wirklich etwas lang im Nacken. So gleich in der einleitenden Skizze „Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins", die wir gern vermissen würden, und nicht nur, weil sie die „Kriegstaten Friedrichs des Großen" ganz nach Sybel-Treitschke mit den bürgerlichen Klassikern zusammenkoppelt. So, wenn er im Werke selbst die Forderung der Kimbern und Teutonen nach Land als einen „Idealismus" feiert, „der späterhin den Parzival Wolframs, den Typus des mittelalterlichen Menschen, ausgezeichnet habe und auch heute noch nicht auf deutscher Erde erstorben sei". So, wenn er in den Gefolgschaften der germanischen Häuptlinge, den ersten Ansätzen zu jenem Landsknechtswesen, das später der Fluch und die Schmach Deutschlands werden sollte, „einen der großartigsten Züge spezifisch germanischer Lebensauffassung, den Zug der Treue" entdeckt. So, wenn er, hieran anknüpfend, in kunterbunter Durcheinanderwürfelung der verschiedensten Dinge schreibt: „Die Treue war unseren Altvorderen nie eine besondere Tugend, sie war der Lebensodem alles Guten und Großen: Auf ihr beruhte der Lehnsstaat des früheren, auf ihr das Genossenschaftswesen des späteren Mittelalters, und wer wollte sich die militärische Monarchie der Gegenwart denken ohne Treue?" So, wenn er eine Ähnlichkeit zwischen den Kinnen Karls des Großen und Bismarcks entdeckt und diesen dabei kurzweg zum „Schöpfer der neudeutschen Einheit" ernennt.

Wir könnten noch eine ganze Reihe solcher idealistischer Sprünge anführen, doch sehen wir davon ab, da wir durch ihre Aufzählung nicht im Entferntesten von der Lektüre des Werkes abschrecken möchten. Wir heben sie vielmehr hervor, um die Schlussfolgerung daraus zu ziehen, dass sie Lamprechts Arbeit nicht wesentlich schädigen. Der himmelweite Unterschied zwischen ihm und den preußisch-deutschen Geschichtsklitterern besteht darin, dass diese nach der Einbildung spezifisch germanischer oder spezifisch hohenzollernscher Tugenden die Geschichte modeln oder gar fälschen, während bei Lamprecht die idealistischen Schrullen sozusagen rudimentäre Organe sind, nicht zwar nützliche, aber auch nicht weiter schädliche Überbleibsel einer von ihm in der Hauptsache schon überwundenen Entwicklung. Er ist ein viel zu ehrlicher und gewissenhafter Forscher, um davon seine tatsächliche Darstellung beeinflussen zu lassen. Wenige Seiten nach dem „Schöpfer" Bismarck sagt er von dem Kaiser Karl: „Die Geschicke der Nationen, denen es überhaupt vergönnt ist, sich auszuwirken, gehen ihren eigenen Weg nach ihnen innewohnenden Gesetzen, und auch ihre hervorragendsten Söhne haben dem gegenüber nicht mehr Freiheit eigenen Wirkens, als etwa der Durchschnittsmensch Willensfreiheit besitzt gegenüber der kleinen Welt seiner Umgebung." Er weist dann auch an anderer Stelle nach, wie sich der Begriff der Treue je nach den Umwälzungen der wirtschaftlichen Zustände sehr verschieden gestaltete. In einem der vortrefflichsten Abschnitte seines Werkes deckt er den rein ökonomischen Ursprung des Lehnswesens auf und seine regelmäßige Wiederkehr unter den gleichen ökonomischen Voraussetzungen, nicht nur wo die „spezifisch germanische" Lebensauffassung herrscht, sondern auch im Makedonien Philipps und Alexanders, im sassanidischen Persien, im japanischen Reiche noch unseres Jahrhunderts. Und aus seiner Darstellung geht auch mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervor, dass, wenn das Lehnswesen sich aus ökonomischer Grundlage entwickelte, sein ideologischer Überbau nicht die Treue, sondern die Untreue des Lehnsmanns gegen den Lehnsherrn war, dass es die Ansätze zu einer nationalen Monarchie nicht förderte, sondern immer wieder zerstörte. Genug: Die wirtschaftsgeschichtliche Auffassung Lamprechts beleuchtet seinen Weg zu klar, als dass die Irrlichter von idealistischen Mucken, die rechts und links auftauchen, irgendeinen denkenden Leser in die Sümpfe locken könnten.

Was mit dieser Auffassung gerade auch für die deutsche Geschichte erreicht ist, zeigt ein Vergleich von Lamprechts Werk mit Giesebrechts deutscher Kaisergeschichte. Die Zeit bis zum Anfange der Staufer, zu deren Darstellung Giesebrecht vier dicke Folianten gebraucht, bewältigt Lamprecht in zwei schlanken Bänden, und mit welch ganz anderem Erfolge, mit welch ganz anderer Durchsichtigkeit und Klarheit! Eine end- und gliederlose Masse ewiger Prügeleien, ohne jede historische Perspektive, im großen und kleinen verfälscht durch das, sei es noch so redliche Bestreben, an der Hand bürgerlicher Begriffe von Gesellschaft, Kirche und Staat ein Verständnis für die gesellschaftlichen, kirchlichen und staatlichen Zustände des Feudalismus zu gewinnen: So wälzt sich die mittelalterliche Geschichte noch bei Giesebrecht und gar bei dessen Vorgängern dahin. Dagegen von dem wirtschaftsgeschichtlichen Standpunkte aus, den Lamprecht genommen hat, teilen sich die Massen leicht und sicher; wir gewinnen die historische Perspektive, die uns gestattet, jede einzelne Erscheinung an ihren richtigen Ort zu stellen; unter dem öden Einerlei des mittelalterlichen Mord und Totschlags entdecken wir das Walten einer gesetzmäßigen und sehr lehrreichen Entwicklung. Weit entfernt auch, dass auf diesem Wege die blassen Schemen der mittelalterlichen Menschen, die in der ideologischen Historie umher spuken, vollends in Nebel zerfließen, werden sie vielmehr überhaupt erst zu erkennbaren Individualitäten.

Der erste Band Lamprechts reicht von der germanischen Urzeit bis zur Karolingischen Periode. In der Schilderung der Urzeit steht Lamprecht vollständig auf dem Boden von Morgans Forschungen; wenn er statt des Urzustandes regellosen Geschlechtsverkehrs, den Morgan annimmt, sich „als Keim aller späteren Bildungen nichts anderes denken" kann „als ein erstes Elternpaar", so ist das eben auch nur ein Überlebsel idealistisch-religiöser Auffassung, das Lamprecht dazu benutzt, dem bürgerlichen Philister die Blutsverwandtschaftsfamilie mundgerecht zu machen. In der Tat: Um aus dem ersten Elternpaare „eine nationale Zukunft herbeizuführen, blieb nichts übrig, als geschlechtlicher Verkehr der Kinder untereinander". Abgesehen von dieser kleinen Schwäche, untersucht Lamprecht an der Hand Morgans mit logischer Konsequenz und umfassendem Wissen die germanische Vorzeit und gelangt dabei zu einer langen Reihe der interessantesten Ergebnisse. Wir können hier nicht näher darauf eingehen, sondern müssen auf das Buch selbst verweisen. Gegen manche Einzelheiten wird sich manches einwenden lassen, wie es bei den langwierigen, schwierigen und noch keineswegs abgeschlossenen Untersuchungen, die dabei mitspielen, nicht wohl anders sein kann. Aber im ganzen und großen gibt Lamprecht zum ersten Male ein anschauliches und anziehendes Bild der germanischen Vorzeit; hier steht er praktisch auf dem Boden des historischen Materialismus und entwickelt Recht, Sitte, Religion, Kriegs- und Staatsverfassung, soweit von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann, aus der Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens.

In der Hundertschaft, von der Cäsar und Tacitus berichten, sieht Lamprecht die bereits vaterrechtlich organisierte Gens, in der Völkerschaft den gentilizischen Stamm. In den Jahrhunderten der Völkerwanderung erhalten sich beide vorwiegend als militärische Einheiten. Sobald die Hundertschaft sich aber auf ihrem Beuteanteil an Land sesshaft gemacht hat, entwickelt sie sich schnell als wirtschaftliche Einheit zur Markgenossenschaft mit weitgehenden ökonomischen Bestrebungen. Aus ihr sondern sich engere Wirtschaftsgemeinschaften aus; Familienhaushalte in sippenweiser Gruppierung, die in ihrer wirtschaftlichen Struktur ein genaues Abbild der Markgenossenschaft geben. Und aus diesen engeren Verbänden entstehen in Gegenden mit besonders intensiver Kultur noch kleinere Verbände, neue Dörfer und Siedlungen, in Verfassung und Recht genau den größeren Verbänden nachgebildet. So die Entwicklung im Mittelalter, und dieses dreifach abgestufte System der Landgemeinden hat sich, wenn auch vielfach umgeformt, bis nahe an die Gegenwart erhalten. Noch bestehen in manchen Gegenden die letzten Nachklänge hundertschaftlicher Markgemeinden in gemeinsamer Verwaltung alter Grenzwälder und fernab liegender Triften; noch weit zahlreicher erhalten blieben die Sippenmarkgemeinden, wie sie zumeist mehrere Dörfer umfassten, mit ihrem gemeinsamen Wald-, Wasser- und Weide-, ja sogar Flurbesitz, und unter ihnen blühten vor der Einführung der modernen politischen Gemeinde noch allenthalben die Ortsgemeinden nach germanisch-markgenössischem Recht. Indem aber die Hundertschaft aus einer militärischen eine wirtschaftliche Einheit wurde, verfiel auch die ihr militärisch übergeordnete Völkerschaft mit ihren kleinen Heerkönigen, die, auf Krieg, Raub und Herdentrieb begründet, noch völlig nomadischen Zuständen entsprach. Je stärkere Teile der kriegerischen Kraft der Ackerbau an sich zog, um so nötiger wurden völkerschaftliche Bündnisse, um die gewonnene Heimat zu verteidigen oder eine neue zu begründen. Sie entstanden zuerst am Rhein, gegenüber der römischen Macht, anfangs lose geknüpft, nur für den Krieg berechnet. Aber das ständige Bedürfnis erfordert stetige Einrichtungen; diese Bündnisse werden immer selbstverständlicher; sie greifen bald über die gemeinsame Ordnung der Kriegsangelegenheiten hinaus. So entstehen neue Stämme, nicht mehr Geschlechts-, sondern Ortsverbände, keine Organisationen der Vergangenheit, sondern der Zukunft. Es war die naturalwirtschaftliche Staatsform der deutschen Nation bis zum Ausgange der salischen Kaiser, bis zum Aufkommen der Städte.

So im eigentlichen Deutschland, in dem römischen Germanien diesseits von Donau und Rhein. Anders, wo germanische Völker ins Römische Reich einbrachen, um auf den Trümmern der antiken Kultur sich neue Sitze zu gründen. Die Ostgoten in Italien, die Vandalen in Afrika, die Westgoten in Spanien, die Burgunden, später auch die Franken in Gallien standen vor der Aufgabe, mit den einfachen Mitteln der Gentilverfassung eine Gesellschaft zu beherrschen, die auf einer ungleich höheren, wenn auch noch so verfallenen Produktionsweise beruhte. Sie stürzten, wie Lamprecht sehr gut sagt, aus einem Zustande durchgehender Gemeinfreiheit und gering entwickelten Adels unmittelbar in einen Abgrund uralter gesellschaftlicher Zersetzung, und diese Kluft verschlang den noch auf kollektivistischer Wirtschaftsverfassung erwachsenen Stand der Freien. Die Aufteilung des beanspruchten Landes, in Italien ein Drittel, in Gallien und Spanien zwei Drittel des gesamten Bodens, geschah nach der Gentilverfassung; so sehr hielt der sippenhafte und an genossenschaftliches Leben gewöhnte Germane an dem Gedanken kollektiven Eigentums fest, dass selbst im Westgotenreiche, wo sich das germanische Wesen am wenigsten dauernd erhielt, der zum Zweidrittelgut eingewiesene Germane und der römische Resteigentümer des letzten Drittels nur die Äcker teilten, dagegen im Gemeineigen von Wald, Wasser und Weide blieben. Aber die verhältnismäßig geringe Zahl der Eroberer führte zu ihrer räumlichen Zerstreuung über das ganze Reich, wobei noch sehr große Striche Landes unbesetzt blieben; der verwandtschaftliche Charakter der Gens lockerte sich mehr und mehr, und auch die Versammlung der Freien als die entscheidende Instanz in allen gemeinsamen Angelegenheiten wurde unmöglich. Dies war um so verhängnisvoller, als gleichzeitig der Schutz des neuen Reiches gegen auswärtige Feinde die schnelle Verwandlung des von der Volksversammlung ernannten Heerführers in einen König mit weitgehenden Befugnissen erheischte. Seine Organe fand das neue Königtum in seinem Kriegsgefolge, in den aristokratischen Elementen der unterworfenen Bevölkerung, deren Bildung und Kenntnisse ihm unentbehrlich waren, in den Sklaven und Freigelassenen seines Hofstaats. Es stattete sie aus mit den großen Strecken Landes, die bei der Verteilung des Bodens unbesetzt geblieben waren. So entstand ein neuer, volksfremder Adel, der auf großem Grundbesitze beruhte und sehr bald durch seine ökonomische Macht aus einem Diener zu einem Herrn des Königs erwuchs. Je höher er aber stieg, um so tiefer sank die Masse der freien Bauern; als Kern des Heeres wurden sie durch die ewigen Bürger- und Eroberungskriege ruiniert, und bald suchten sie den Schutz, den sie beim Könige nicht fanden, bei den neuen Grundherren. Ihnen übertrugen sie ihr Eigentum und erhielten es zurück als Zinsgut unter verschiedenen und wechselnden Formen, stets aber nur gegen Leistung von Abgaben und Diensten; aus dieser Abhängigkeit ergab sich nach und nach und meist sehr bald der Verlust der persönlichen Freiheit. Es ist die Entstehung des mittelalterlichen Feudalismus, den wir hier in den allgemeinsten Umrissen gekennzeichnet haben. Für die Fülle der Einzelheiten müssen wir abermals auf Lamprechts Werk verweisen, dessen betreffende Abschnitte es sich übrigens verlohnt, mit der Abhandlung von Engels über die Staatsbildung der Deutschen im „Ursprung der Familie etc."1 zu vergleichen. Man wird daraus erkennen, dass die „wirtschaftsgeschichtliche Schule" doch noch ein gutes Stück Weges zur Klarheit und Konsequenz des historischen Materialismus hat. Namentlich der geschichtliche Fortschritt, der sich trotz alledem in diesen Jahrhunderten voll Blut und Elend und Jammer vollzog, scheint uns von Engels viel richtiger, weil viel tiefer erfasst zu sein als von Lamprecht. An unserem Teile möchten wir hier noch einen Gesichtspunkt betonen, den Lamprecht, wir wollen nicht sagen vernachlässigt hat, denn alle notwendigen Elemente der richtigen Auffassung finden sich in seiner Darstellung, die auch in dieser Beziehung einen beträchtlichen Fortschritt innerhalb der bürgerlichen Geschichtsschreibung bedeutet, aber den er nicht genügend in den Mittelpunkt der historischen Entwicklung gerückt hat, in dem er tatsächlich steht: Wir meinen die ökonomisch-soziale Machtstellung der römischen Kirche im Mittelalter. Die Kirche blieb allein aufrecht in dem ungeheuren Zusammensturze der römischen Kultur, und was von der antiken Produktionsweise noch lebensfähig war, hielt sie in ihrer Hand. Die landläufige Auffassung, dass die Vandalen in Afrika, die Ostgoten in Italien ihr arianisches, d. h. antirömisches Bekenntnis mit dem gänzlichen Untergange gebüßt haben, ist ganz richtig, wenn sich die landläufige Auffassung nur darüber klar wäre, dass die Frage nach Jesu Gottgleichheit oder Gottähnlichkeit, die Streitfrage zwischen dem Arianismus und Romanismus, ebenso die ideologische Widerspiegelung ökonomischer Gegensätze war wie tausend Jahre später die Frage nach Jesu Gegenwart im Abendmahle die Streitfrage zwischen der calvinischen und der lutherischen Kirche. Der einzige deutsche Stamm, der gleich nach seinem Einbruch ins Römerreich sich zur römischen Kirche bekannte, die Franken, gedieh dagegen bis zur Gründung eines Universalreichs, das noch in seinem Zerfalle der europäischen Entwicklung auf ein halbes Jahrtausend die Bahnen wies. Die Franken genossen unter den deutschen Stämmen weitaus den schlimmsten Ruf, und ihr König Chlodwig, der 496 zur römischen Kirche übertrat, war selbst nach den Begriffen seiner unverwöhnten Zeit ein bluttriefendes Scheusal; hatte er doch noch am eigenhändigen Meucheln eine ungetrübte Freude! Für seine Person war seine Taufe nichts als eine pfiffig-plumpe Spekulation auf die Sympathie der katholisch-keltoromanischen Untertanen der arianisch-germanischen Burgunden und Westgoten, deren Reiche Chlodwig zu erobern gedachte. Aber er und seine Nachfolger gewannen an der Kirche einen Halt, der ihr Reich auch dann noch zusammenhielt, als sich in ihm gräuel- und qualvoller als irgendwo anders geltend machte, was Lamprecht mit einem guten Worte „das Verderben der Gesellschaft" nennt, „die aus dem brutalen Sieg einer jugendlich gebundenen Kultur über eine Zivilisation erstarrenden Alters hervorgeht". Und als der Verfall des Frankenreichs nicht mehr aufzuhalten schien, da retteten es die Karolingischen Hausmeier der Merowingischen Könige noch einmal durch einen neuen und engeren Bund mit der Kirche.

II

Der zweite Band Lamprechts reicht von der Entstehung des Karolingischen Weltreichs bis zum Ausgange der salischen Kaiser, bis zum Aufkommen der Städte. Es sind die Jahrhunderte des reinen Feudalismus, des gewaltig anwachsenden Papsttums, das am Ende dieser Periode in den Kreuzzügen den Höhe-, aber auch Wendepunkt seiner Macht erreichte. Wir deuteten schon an, dass Lamprecht die mittelalterliche Kirche etwas zu sehr aus ideologischem Gesichtspunkte betrachtet; ihre „idealen Faktoren" schlagen ihm allzu oft in den Nacken; auch ihre Missionen, mögen sie noch so gewaltsam mit Feuer und Schwert vollbracht sein, betrachtet er vorwiegend als religiöse Handlungen, und namentlich weiß er sich auch nicht genügend von der hergebrachten Vorstellung des berühmten „Streites zwischen Kirche und Staat" frei zu machen.

Der Ausdruck ist nicht sowohl unwahr, als irreführend und schief. Das zeigt schon ein ganz äußerlicher und flüchtiger Blick auf die mittelalterlichen Träger von Kirche und Staat in den Augenblicken ihrer jeweilig höchsten Triumphe. Als Leo III. dem mächtigen Frankenkönig Karl, noch einem halben Barbaren, die Krone der Cäsaren aufs Haupt drückte, schnitt der so überschwänglich Geehrte ein saures Gesicht. Und ein nicht minder saures Gesicht schnitt Gregor VII., als der Kaiser Heinrich frierend im Burghofe von Canossa stand. Nicht um Ideen und Prinzipien handelte es sich, sondern um sehr reale Machtverhältnisse, zu denen sich Ideen und Prinzipien etwa verhielten wie das Kleid zum Körper. Die römische Kirche war die Besitzerin und Hüterin der Kultur, die das Abendland befähigte, den Wettkampf mit Byzanz und dem Islam zu bestehen, den beiden anderen Weltmächten, die das Erbe der antiken Zivilisation angetreten hatten. Aber sie war in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung keine organisierte und zentralisierte Macht, so früh auch schon die Bischöfe von Rom autokratische Ansprüche erhoben. Sie standen unter byzantinischer Hoheit, wie denn Italien nominell dem Oströmischen Reiche gehörte. Die germanischen Eroberer des westlichen Europas aber hielten am arianischen Glaubensbekenntnis fest, blieben in schroffem Gegensatze zu Rom, mit einziger Ausnahme der Franken. So wurden die Ostgoten in Italien durch byzantinische Feldherren vernichtet, die Westgoten in Spanien und Südfrankreich von den Arabern aufgerollt. An der Schwelle des Fränkischen Reichs, des einzigen, das zu Rom hielt, musste sich entscheiden, ob fortan eine abendländische Kultur bestehen solle. Wie bekannt, schlug der fränkische Hausmeier, Karl Martell, die Araber in der Schlacht bei Tours und Poitiers, Oktober 732, aufs Haupt. Sein Sohn Pippin, sein Enkel Karl befreiten den Papst dann von den in Italien eingedrungenen Langobarden, lösten ihn aus der byzantinischen Hoheit. Er wurde ein kleiner Territorialfürst unter fränkischem Schutze. Aber dennoch scheiterte die Hoffnung Karls auf einen Cäsaropapismus nach oströmischem Muster. Der schwache Papst Leo, der eben noch als Flüchtling am fränkischen Hofe gelebt hatte, setzte ihm unerwartet die Kaiserkrone auf aus souveräner Machtvollkommenheit des geistlichen Amts, und Karl musste sich fügen.

Er musste sich fügen, weil seine weltliche Macht durchaus nur auf der Kirche beruhte. Nur durch die Kirche hatten die Karolingischen Hausmeier das Frankenreich aus der feudalen Anarchie gerissen, in die es unter den Merowingern gesunken war. Nicht nur gebot die Kirche über alle Schätze der damaligen Zivilisation bis herab auf die einfachen Künste des Lesens und Schreibens, die sogar noch den ersten sächsischen Kaisern des zehnten Jahrhunderts fremd waren: Sie allein konnte den, sei es noch so einfachen, kunstlosen, weitmaschigen Organismus herstellen, der zur Verwaltung eines großen Reiches gehörte. Es lag im Wesen des rein naturalwirtschaftlichen Feudalismus, dass jeder weltliche Beamte, als solcher mit Land und Leuten dotiert, dem einzigen politischen Machtmittel der Zeit, sich als kleine öffentliche Gewalt eigenen Rechts auftat. Das Lehnswesen in seiner typischen Ausbildung entstand im Karolingischen Reiche nur, um das Reich zu vernichten. Einzig die Kirche konnte der kaiserlichen Gewalt die notwendigen Organe liefern. Zwar musste auch sie sich feudalisieren, und es ist bekannt, wie bald sie die größte Grundbesitzerin wurde, aber sie hatte ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Kaisertums als ihres weltlichen Arms, während die weltlichen Feudalherren kein dringenderes Interesse hatten, als die kaiserliche Hoheit zu zerstören. Die Krone war ein Spielball der geistlichen und weltlichen Großen. Vergebens suchte der Kaiser Karl eine nationale Bildung und Kultur als selbständigen Stützpunkt der Monarchie zu schaffen; nach Lage der Dinge verliefen diese Versuche, die Lamprecht allzu emphatisch „die Karolingische Renaissance" nennt, im Sande. Vergebens suchte Karl durch unaufhörliche Eroberungs- und Raubkriege seine Macht zu stärken; je mehr Länder er christianisierte und feudalisierte, um so mehr stärkte er die Macht der geistlichen und weltlichen Großen. Nicht zum wenigsten auch dadurch, dass diese ewigen Feldzüge die fränkischen Bauern in Grund und Boden ruinierten, die vor dem ihr letztes Mark aussaugenden Heerbefehle des Kaisers in den Schutz der geistlichen und weltlichen Feudalherren flüchteten. Wenn Lamprecht sagt, das Karolingische Königtum sei durch die Fürsorge für die mittleren und unteren Klassen „zum ersten Male in unserer Entwicklung eine soziale Macht" geworden „wie nur je eine Monarchie in späteren Zeiten", so mag das insofern richtig sein, als das soziale Königtum Karls des Großen am Ende kein schlimmerer Humbug ist als das soziale Königtum Friedrichs des Großen. Aber Lamprecht sollte dergleichen Redefloskeln, die auf seine eigene tatsächliche Darstellung passen wie die Faust aufs Auge, doch lieber den Treitschke und Genossen in ungeschmälerter Erbpacht überlassen.

Im Hader der geistlichen und weltlichen Großen zerfiel das Karolingische Reich. Schon bei Lebzeiten Karls begann der Zusammenbruch; Normannen und Sarazenen drangen ungestraft in die fränkischen Grenzen. Unter seinem Sohne, Ludwig dem Frommen, wurde es noch weit ärger, am ärgsten aber, als das Reich unter die drei Söhne Ludwigs geteilt wurde. Ludwig selbst hatte sich der Kirche völlig in die Arme geworfen, allein sie konnte der weltlichen Großen nicht mehr oder noch nicht Herr werden. Teils war das Papsttum nicht kräftig genug erstarkt, teils stieß die Kirche in dem von Karl eroberten Ostfranken, namentlich seitdem es ein selbständiges Reich geworden war, in den Stammesherzögen auf weltliche Gegner, die einen ganz anderen Ursprung und eine ganz andere Kraft besaßen als die westfränkischen Feudalherren. Wir haben schon gesehen, wie sich östlich des Rheins aus der Gentilverfassung die politische Stammesbildung entwickelte, und wenn mit diesem ersten Anfange des Staats auch herrschende Klassen zu entstehen begannen, so hatten sich doch in diesen Stämmen so viel Reste der Gentilverfassung erhalten, dass sie über eine schier unerschöpfliche Fülle naturwüchsiger Kraft geboten. Beweis dessen der dreiunddreißigjährige Heldenkampf des Sachsenlandes gegen die Angriffe des Kaisers Karl. Die Sachsen waren, als Karl sie überfiel, eben zur Stammesbildung gelangt; sie waren noch nicht viel mehr als ein lose verknüpfter Bund von gentilizischen Völkerschaften; von Gau zu Gau musste das fränkische Heer in verzweifelter Anstrengung vordringen, um jeden in Strömen von Blut niedergeworfenen Gau alsbald wieder in seinem Rücken erstehen zu sehen. Vergebens christianisierte und feudalisierte Karl das Sachsenland, indem er ganze Geviertmeilen an seine geistlichen und weltlichen Großen verschenkte; vergebens schleppte er den einheimischen Adel nach Frankreich mit; vergebens versuchte er, was er als „glorreicher Eroberer" nicht zu erreichen vermochte, als gemeiner Henker zu erreichen, indem er gefangenen Sachsen zu Tausenden die Köpfe abschlagen ließ. Er brachte es nur zu einer losen Oberherrschaft, und wenig über hundert Jahre nach seinem letzten Sachsenkriege trat der Sachsenherzog das Erbe des fränkischen Weltherrschers an.

Im Jahre 843 war das Karolingische Reich in Westfranken, Burgund, Ostfranken geteilt worden; im Jahre 919 starb Konrad, der letzte König des ostfränkischen Reichs. Machtlos inmitten der furchtbaren Ungarstürme, die von Osten her über das Land fluteten, hatte er sich noch einmal der Kirche als der einzigen zentralen Macht blindlings in die Arme geworfen. Mit ihrer ganzen Macht war sie für ihn eingetreten, aber an dem Widerstande der Stammesgewalten gescheitert. Da zog der sterbende König die richtige Konsequenz aus dieser Lage und sandte durch seinen Bruder die Insignien der königlichen Gewalt an den Sachsenherzog Heinrich als den Herzog des mächtigsten Stammes. In festem kriegerischem, aber losem staatsrechtlichem Bündnisse mit den übrigen Stammesherzögen schlug der neue König die Ungarn, aber mit der äußeren Befriedung des Reiches schwand auch seine königliche Gewalt spurlos dahin. Um sie aufrechtzuhalten, blieb ihm nichts – als ein Bündnis mit der Kirche. In feindlichem Gegensatze zu ihr war er zur Krone gelangt und hatte die kirchliche Weihe seines Königtums, die der Erzbischof von Mainz ihm anbot, stolz abgelehnt; nach siebzehnjähriger Herrschaft hinderte ihn nur der Tod an der beabsichtigten Fahrt nach Rom, um aus der Hand des Papstes die Kaiserkrone zu empfangen. Sein Sohn Otto I. versuchte es noch einmal, auf eigenen Füßen zu stehen, indem er die Stammesherzogtümer mit seinen Brüdern und Söhnen besetzte. Aber die einfache Folge war, dass seine Brüder und Söhne sich gegen ihn empörten; einzig ein neuer Einfall der Ungarn, den er im gemeinsamen Lebensinteresse aller Stämme zurückschlug, rettete ihm die Krone. Nun trat auch bei ihm der völlige Umschwung ein; nicht mehr die Herzogtümer, sondern die Bistümer besetzte er mit seinen Verwandten. Aber wie er den letzten Versuch gemacht hatte, ohne die Kirche zu regieren, so machte er noch einen letzten Versuch, zugleich durch und über die Kirche zu herrschen. Noch immer war das Papsttum ein Spielball römischer Fraktionen; von der Kurie selbst um Hilfe angerufen, erschien Otto I. in der ewigen Stadt, ließ sich zum Kaiser krönen, setzte Päpste ab und ein, wütete unter den Römern mit Folter, Geißel und Henkerbeil. Alles das waren leichte Triumphe, die entscheidende Frage war der Besitz von Unteritalien, dem Treffpunkt und Zankapfel der mittelalterlichen Weltmächte im zehnten Jahrhundert. Hier lag der Schlüssel zu den Toren Mitteleuropas wie zu den byzantinischen Meeren wie endlich zu den Ländern des Morgenlandes. Nicht mehr Otto I. selbst, aber sein junger Sohn Otto II. versuchte das Glück und verlor. Im Jahre 982 wurde er in einer furchtbaren Niederlage an der kalabrischen Küste von den verbündeten Griechen und Sarazenen überwältigt. Es war ein entscheidender Schlag; das deutsche Kaisertum konnte nie mehr an die Führung der abendländischen Kultur denken. Otto II. starb bald nach der Niederlage, und die spielerischen Versuche seines noch in den Jünglingsjahren verstorbenen Sohnes, Otto III., als maskierter Römer die Weltherrschaft zu gewinnen, zählten überhaupt nicht mit.

Um so gewaltiger erhob sich nun das Papsttum. Nach jahrhundertelangen Anstrengungen gelang es ihm endlich, seine Macht zu organisieren und zu zentralisieren. Es geschah vornehmlich durch die streng monarchische Reorganisation des Klosterwesens, durch die Feudalisierung und gewissermaßen Kasernierung der Normannen in Unteritalien als einer päpstlichen Hausmacht, durch die Übernahme der Führung in dem Kampfe der abendländischen Welt gegen die Sarazenen. Wir vermögen nicht die in der bürgerlichen Geschichtsschreibung von Ranke bis einschließlich Lamprecht herkömmliche Ansicht zu teilen, als ob das mittelalterliche Kaisertum in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts den Höhepunkt seines Glanzes und seiner Macht erreicht habe. Die drei Kaiser dieser Periode, Heinrich II., der letzte Sachse, und die beiden ersten Salier, Konrad II. und Heinrich III., haben keinen besonderen politischen Scharfblick bewiesen. Am ehesten noch Heinrich II. Nach dem Fehlschlagen der Ottonischen Universalpolitik hatte er keine andere Wahl, als seine Gewalt auf die völlige Klerikalisierung der Reichsverwaltung zu stützen, wofür ihn die Kirche unter ihre Heiligen aufgenommen hat, aber er suchte die Bischöfe doch so scharf wie möglich im Zügel zu halten und wachte mit Eifersucht über seinem Rechte, sie zu ernennen. Konrad II. und Heinrich III. trieben dagegen eine ebenso kurzsichtige wie selbstmörderische Politik, indem sie die Ansiedlung der Normannen in Unteritalien und die „Kirchenreform", d. h. die Reorganisation des Kirchen- und Klosterwesens, im Interesse der päpstlichen Monarchie förderten. Heinrich III. war nicht der Beherrscher, sondern das Werkzeug des zur Weltherrschaft sich rüstenden Papsttums, wenn die Kirche ihm gestattete, Päpste zu ernennen, die der „Kirchenreform" freundlich gesinnt waren. Und wie verblendet handelte Konrad II., als er 1037 in dem Kampfe des lombardischen Lehnsadels, der sogenannten Valvassoren, gegen die mächtige Stadt Mailand für den Lehnsadel mit dem Schwerte dreinschlug! Es ist gewiss zu verstehen, dass er aus der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands heraus die ungleich entwickelteren italienischen Zustände nicht in ihrem sozialen Zusammenhange zu erkennen vermochte, aber eine städtefeindliche Politik des Kaisertums war das gerade Gegenteil einer genialen Politik.

Werden diese drei Kaiser von der bürgerlichen Geschichtsschreibung viel zu günstig beurteilt, so wird der Kaiser, dessen Name die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts beherrscht, Heinrich IV., der Mann von Canossa, viel zu sehr von ihr unterschätzt. Die Kirche hat es von jeher vortrefflich verstanden, das Andenken ihrer Gegner unter einer Last von Verleumdungen zu ersticken, und sie konnte es am erfolgreichsten im Mittelalter tun, als sie allein über die Mittel und die Möglichkeit der Geschichtsschreibung gebot. Den Lügen der klerikalen Historiker über Heinrich IV. ist aber die bürgerliche Kritik lange nicht gründlich genug auf den Leib gegangen, weil es ihr wieder in den Kram passte, die gewaltigen Erfolge des mittelalterlichen Papsttums den Fehlern und Schwächen Heinrichs anzukreiden. Die völlige Verkehrtheit dieser Auffassung liegt auf der Hand. Mit der energischen Zusammenfassung seiner Macht musste das Papsttum auch zu dem Ansprüche gelangen, die Bischöfe aus geistlicher Machtvollkommenheit zu ernennen, und zwar nicht um so weniger, sondern um so mehr, als es damit das Kaisertum, dessen Macht in den Bistümern konzentriert war, „ins innerste Mark" traf, wie Lamprecht sagt. Der Investiturstreit musste ausbrechen und wäre ausgebrochen, gleichviel wer die Kaiserkrone trug. Es ist aber auch unrichtig zu sagen, dass die Persönlichkeit Heinrichs IV. dem Papsttum den Kampf erleichtert hätte. Ganz im Gegenteil! Heinrich war weitaus der gescheiteste und sozusagen modernste aller bisherigen Kaiser, und man kann heute noch nicht ohne ein lebhaftes Gefühl menschlicher Teilnahme die Ausdauer und Tapferkeit verfolgen, womit er ein langes Leben hindurch unter hundert schweren Schicksalsschlägen einen von vornherein verlorenen Kampf führte. Man darf auch ihm wohl zubilligen, was Tacitus von dem Cherusker Armin sagte: in Schlachten oft geschlagen, im Kriege nie besiegt. Erst unter Heinrichs Sohne errang das Papsttum einen entscheidenden Sieg im Wormser Konkordat, dem ersten Interim, das den Schalk hinter sich hatte.

Heinrichs persönliche Bedeutung liegt darin, dass er die ökonomische Entwicklung viel klarer erkannte und viel schärfer erfasste als irgendeiner seiner Vorgänger. Indem er sich auf die Städte stützte und in den Ministerialen einen nur von der kaiserlichen Gewalt abhängigen Beamtenstand heranzuziehen suchte, verfolgte er den einzigen Weg, der zu einer selbstherrlichen Monarchie führen konnte und in späteren Jahrhunderten wirklich dazu geführt hat. Diese Politik war verfrüht; sie hetzte dem Kaiser nicht minder die Fürsten als das Papsttum auf den Hals, aber seinem politischen Blicke macht sie deshalb nur um so größere Ehre. Nichts alberner daher, als wenn Bismarck sich mit seinem „berühmten" Canossa-Geschwätze über Heinrich IV. erheben wollte. Weder wäre Heinrich so erniedrigend vor dem Papsttum gekrochen, wie Bismarck schließlich vor ihm gekrochen ist, noch auch braucht der mittelalterliche Kaiser, der am Ende des elften Jahrhunderts die bürgerlich-monarchistische Entwicklung um Jahrhunderte voraussah, im entferntesten zurückzutreten vor dem modernen Junker, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht einmal den Liberalismus, geschweige denn den Sozialismus historisch zu begreifen vermag.

Der Canossa-Geschichte widmet Lamprecht nur wenige Zeilen, und mit Recht. Jede volkstümlich gewordene Vorstellung historischer Vorgänge pflegt einen richtigen Kern zu enthalten; wäre das Kaisertum seiner historischen Entwicklung nach nicht von der Kirche abhängig gewesen und hätte es sich ihr nicht immer wieder unterwerfen müssen, so wäre Canossa unmöglich gewesen. Und da es doch möglich war, so kann man in der dramatischen Szene von Canossa die anschaulichste Verkörperung der Demütigung finden, die das Kaisertum immer vom Papsttum zu befahren hatte. Insofern hat der sprichwörtliche Canossa-Gang seinen guten Sinn. Aber als historische Episode eines weltgeschichtlichen Zusammenhanges war Canossa ein Triumph nicht des Papstes, sondern des Kaisers. Indem Gregor VII. und die Fürsten ihre sehr weltlichen Pläne unter der ideologischen Heuchelei verbargen: dass sie den Kaiser um seiner angeblichen Frevel an seinem eigenen Seelenheil willen absetzen wollten, waren sie einfach mattgesetzt, als sich der Kaiser zur kirchlichen, ihm nach mittelalterlicher Vorstellung gar nicht zur Unehre gereichenden Buße für seine Sünden in Canossa einfand. Ein bisschen von dieser Diplomatie, die den Feind an seinen eigenen ideologischen Spinnweben aufknüpft – und Bismarck wäre in dem weltberühmten „Kulturkampf" nicht so schrecklich übertölpelt worden. So hinfällig wie die liberale ist übrigens auch die ultramontane Canossa-Legende. Es hat gar keinen Sinn, von dem „Siege des waffenlosen Mönchs durch moralische Mittel" usw. zu sprechen. Ganz abgesehen von dem „Siege", so war Gregor VII. weder „waffenlos" noch so unvorsichtig, sich auf die „moralischen Mittel" seiner Bannflüche allein zu verlassen. Ehe er zu seinem großen Schlage gegen das Kaisertum ausholte, hatte er enge Bündnisse mit den Normannen in Unter-, mit der Gräfin Mathilde in Mittelitalien geschlossen, und wenn die oberitalienischen Städte dem städtefreundlichen Kaiser anhingen, so wusste der Papst gar trefflich den Pfahl zu spitzen, den die Städte-Patrizier in den Städte-Plebejern schon im Fleische hatten. Er schloss mit den Eidgenossenschaften der Pataria, des „Lumpengesindels", erst ein heimliches und dann auch ein offenes Bündnis.

Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin, an einem köstlichen Beispiel aufzuzeigen, wie die sozialdemokratische Bewegung die bürgerliche Geschichtswissenschaft bis in die graue Vorzeit des Mittelalters hinauf umwälzt. In polizeilich-ordnungsstaatlicher Auffassung der Sachlage schildert Giesebrecht den vorhin erwähnten Kampf der Valvassoren gegen Mailand als „eine Bewegung von unten", als eine „planmäßige Erhebung der niederen Klassen gegen die höheren", und wenn der heutige patriotische Jargon zu seiner Zeit schon in der Mode gewesen wäre, so hätte er in dem Eintreten des Kaisers Konrad für den lombardischen Lehnsadel wohl gar den hehren Beruf der Monarchie gesehen, immer die Armen und Schwachen zu schützen. Dagegen fasst er die revolutionäre Erhebung der Städte-Plebejer, die Pataria, getäuscht durch die religiösen Denkformen, die jede proletarische Bewegung in dem kirchlichen Mittelalter annahm, als eine fromme, urchristliche Bewegung auf; er sieht in ihren Führern Ariald und Landulf beredte, unterrichtete, unerschrockene Männer. So Giesebrecht, der in den sechziger Jahren schrieb. Wie ganz anders Lamprecht, der in den neunziger Jahren schreibt! Über den Krieg der Valvassoren mit Mailand sagt er: „Die unabwendbar empor tauchende Wandlung der naturalwirtschaftlichen Zustände in geldwirtschaftliche hatte zu einem nur durch Feuer und Schwert heilbaren Zwiespalt zwischen der ländlichen Bevölkerung und dem niederen Adel einerseits und den Städten und deren Herren, den Bischöfen vornehmlich, andererseits geführt: Es kam zu Gewalttat und Empörung allenthalben: Eine soziale Revolution durchbrauste seit dem Jahre 1035 das Land." Aber der Genuss vom Apfel der Erkenntnis wirkt nun auch weiter, und Giesebrechts fromme Urchristen von Patarenern sind bei Lamprecht eine „wüste proletarische Bewegung", „Maulhelden" und was sonst in das Bumbum bürgerlich-sittlicher Entrüstung gehört. So spiegeln sich im Geiste der Geschichtsschreiber oft schärfer die Zeiten, in denen sie leben, als die Zeiten, welche sie schildern.

Doch trotz aller Schwächen bleibt Lamprechts „Deutsche Geschichte" ein verdienstvolles Werk, und wir empfehlen sie unseren Lesern um so mehr, als ihre Form durchaus ihrem Inhalt entspricht. Frei von dem aufgedonnerten Pathos der älteren und jüngeren Borussen, gewinnt Lamprechts Stil Farbe und Gestalt durch die plastische Herausarbeitung der Dinge selbst. Niemand wird diese beiden Bände ohne die vielfältigste Anregung und Belehrung aus der Hand legen. Auf die späteren Bände nach ihrem Erscheinen zurückzukommen, behalten wir uns vor.

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