Franz Mehring 18980506 Heinrich v. Treitschke

Franz Mehring: Heinrich v. Treitschke

6. Mai 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 193-198. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 453-460]

Als vor einigen Jahren Ludwig Windthorst begraben wurde, der berufenste aller „Reichsfeinde", der „Vater aller Hindernisse", die dem neuen Deutschen Reiche zwanzig Jahre lang bereitet worden waren, da lag auf dem Leichenwagen, der den Toten durch die Straßen der deutschen Hauptstadt zum Bahnhof führte, von wo er die letzte Reise ins Grab antreten sollte, ein einziger Kranz: Es war der Kranz des Kaisers. Und als in diesen Tagen Heinrich v. Treitschke begraben wurde, der Herold und Prophet des neuen Deutschen Reiches, der wortgewaltige Mann, der dreißig Jahre lang der heranwachsenden Jugend der besitzenden Klasse die Kunde eingeprägt hatte von dem überschwänglichen Segen, den die Hohenzollern über das deutsche Volk gebracht haben sollen, da fehlte unter den zahllosen Kränzen, die seinen Sarg bedeckten, ein einziger Kranz: Es war der Kranz des Kaisers.

Sentimentale Rührseligkeit ist unsere Sache nicht, und selbst wenn sie es wäre, würde sie in diesem Falle keineswegs am Platze sein. Es können menschlich sehr begreifliche Gründe gewesen sein – und wer den letzten von Treitschke veröffentlichten Band gelesen hat, wird sie sich leicht zusammenreimen können –, die den Kaiser veranlasst haben, dem getreuesten Gefolgsmanne seiner Dynastie einen Gruß zu verweigern, den er ihrem zähesten Gegner gespendet hat. Was uns an dem Zwischenfall interessiert, ist allein seine symbolische Bedeutung. Die neu-reichsdeutsche Legende besaß in Treitschke ihren begabtesten und ehrlichsten Vertreter; wenn er dennoch mit dem obersten Träger der deutschen Reichsgewalt in einem Zwiespalt, den selbst sein Tod nicht überbrücken konnte, auseinandergekommen ist, so braucht das nicht gegen die Personen zu zeugen, weder gegen die eine noch gegen die andere. Aber gerade wenn es nicht gegen die Personen zeugt, so zeugt es um so nachdrücklicher gegen die neu-reichsdeutsche Legende.

Selten mag über einem frischen Grabhügel die alte Forderung, dass man von Toten nur wohlwollend sprechen solle, selbst für die schroffsten Gegner des Toten so leicht zu erfüllen sein wie an dem Grabe Treitschkes. Er war ein Fanatiker, der von denen, die seine Sache für eine schlechte Sache hielten, je nach der Gefährlichkeit seines Treibens schonungslos bekämpft werden musste, aber er war auch ein Mann, der herbe Schicksale männlich zu tragen wusste. So mit Fäusten hat das Leben selten auf einen Menschen eingeschlagen wie auf Treitschke. Ein geborener Redner, verlor er in jungen Jahren das Gehör; ein feuriger Schwärmer für die deutsche Einheit, wurde er von seiner Familie und seiner Kaste verflucht; sein häusliches Glück wurde ihm durch die geistige Erkrankung seines Weibes und den frühen Tod seines einzigen Sohnes entrissen; in den letzten Lebensjahren drohte ihm nach dem Verlust des Gehörs auch noch der Verlust des Gesichts. Es ist wahr, die Sache, der er sein Leben gewidmet hatte, errang den Sieg, aber das war von allem gerade das Schlimmste. Denn um diesen Sieg zu sichern, musste Treitschke ein Vierteljahrhundert lang Jahr um Jahr immer tiefer hinabsteigen, immer verzweifelter kämpfen, immer hässlichere Waffen wählen, bis er dem ersten besten Byzantiner zum Verwechseln ähnlich sah, ohne dass er doch jemals auch nur von ferne ein Byzantiner gewesen wäre. Kein Zweifel, dass Treitschke seiner Sache, wenn sie unterlegen wäre, mit derselben Tapferkeit und Treue gedient hätte, wie jetzt, wo sie siegreich war.

Zum ersten Male wurde Treitschkes Name weiteren Kreisen bekannt, als er am 5. August 1863 auf dem dritten deutschen Turnfest eine Rede zur Erinnerung an die Leipziger Schlacht hielt. In glänzender Sprache schilderte diese Rede den hohen Aufschwung, den die ökonomische Entwicklung des deutschen Bürgertums genommen hatte, und zog daraus den Schluss, die politische Einheit Deutschlands erscheine nur noch wie der Kranz der Zinnen und Türme, der den bereits fertigen Bau der Volkseinheit krönen solle. Die Rede hob sich bedeutend über das Niveau der damaligen Schützen- und Turnfestberedsamkeit empor, obgleich es wohl weniger ihr Inhalt, als ihre hinreißende Form war, die ihr einen großen Erfolg sicherte.

Im allgemeinen bekannte sich Treitschke, als er diese Rede hielt, zu dem Liberalismus der Konfliktsjahre, was in den Tagen Beusts auch eine ganz hübsche Leistung für den Sprössling einer sächsischen Junkerfamilie und den Sohn eines sächsischen Generals war. Sehr bald aber erfuhr Treitschke, was damals alle ernsteren und tieferen Naturen im liberalen Lager erfuhren: Der Ekel vor dem kraft- und saftlosen Gewäsch der liberalen Oppositionspolitik überwältigte ihn. Die Klagen der Fortschrittler über die grausame Art, womit Lassalle ihren Kampf für Wahrheit, Freiheit und Recht störte, sind nicht immer auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen; geht man aber die Akten selbst durch, so wird man zu dem Ergebnis kommen, dass Lassalle diesen Helden auch nicht ein Wort mehr gesagt hat, als sie verdienten. Im Grunde waren wie gesagt alle ernsteren und tieferen Naturen im liberalen Lager selbst empört über das lächerliche Gebaren der fortschrittlichen Opposition, die sich im Spiegel ihrer ohnmächtigen Proteste und Resolutionen gebärdete wie eine Riesin, deren Faust die preußischen Bajonette wie Halme knicken könne. Die urkundlichen Zeugnisse liegen vor, in denen sich Jacoby, Waldeck, Ziegler, Bucher, Rodbertus, Walesrode, Albert Lange, H. B. Oppenheim, Twesten und andere mehr sehr skeptisch zur damaligen Fortschrittspolitik stellten. Lassalle unterschied sich von ihnen nur dadurch, dass er den Humbug am ersten und schärfsten durchschaute und dass er tat, was die Notwendigkeit des historischen Fortschritts unter solchen Umständen gebot: dass er die Arbeiterklasse aus der Gefolgschaft dieser komischen Bourgeoisie löste. Die anderen taten das Notwendige entweder spät und zögernd, wie Jacoby und Lange, oder sie blieben im fortschrittlichen Sumpfe stecken, wie Waldeck und Ziegler, oder sie gingen zu Bismarck über, der ihnen zwar nichts von Freiheit, aber doch ein dürftiges Stück von Einheit zu bescheren bereit war. So Bucher, Rodbertus und auch Treitschke.

Bereits anderthalb Jahre nach seiner Rede auf die Leipziger Schlacht schrieb Treitschke: „Seit langem harren wir der gesegneten Stunde, da die Phrasendrescher mit Ruten aus dem Tempel der Einheitspartei gepeitscht werden." Er klagte: „Es ist die alte niederschlagende Erfahrung: Solange beim schäumenden Becher gesungen und geredet wird, scheinen wir eine Nation; kommt es zum Handeln, so sind wir unser dreiunddreißig!" Und als eine süddeutsche Volksversammlung beschlossen hatte, der Abgeordnetentag in Frankfurt a. M., eine Vereinigung von einzelstaatlichen Volksvertretern, die damals alljährlich zusammentraten, um noch extra an der Kurbel der Resolutionsmaschinerie zu drehen, solle sich als Vorparlament konstituieren, höhnte Treitschke: „Wollte Gott, unter den Hunderten, die diese Tollheit beschlossen, wäre auch nur einer wirklich toll gewesen vor Leidenschaft! Aber diese braven Leute befanden sich allesamt in der friedfertigsten Gemütsstimmung, sie könnten morgen die Einsetzung eines Wohlfahrtsausschusses dekretieren und würden übermorgen mit der Ruhe des Weisen ihren Kohl bauen, ihre Steuern zahlen und vor dem Feldjäger den Hut ziehen." Treitschke wurde nicht müde, den liberalen Bismarck-und Preußenhass zu verspotten, der für Herrn v. Beust schwärmte, weil dieser verunglückte „Staatsmann" das deutsche Lied für eine Macht erklärt hatte, für denselben Herrn v. Beust, welcher im Zuchthause von Waldheim die tapferen Volkskämpfer von 1849 mit niederträchtigen Martern folterte oder der für das legitime, obzwar längst gegen bares Geld verschacherte Erbrecht des lächerlichen Augustenburgers Gut und Blut einzusetzen verhieß, natürlich mit dem stillen Vorbehalt, niemals einen Pfennig zu zahlen und niemals einen Säbel zu ziehen.

Es versteht sich, dass Treitschke alsbald von dem vulgären Liberalismus für einen Renegaten und Verräter erklärt wurde. Und doch lag auf der Hand, dass vom bürgerlich-liberalen Standpunkt aus seine Taktik konsequenter war als die vulgär-liberale Taktik. Je mehr sich die schleswig-holsteinische Angelegenheit verwickelte, um so lauter rief Treitschke seinen Gesinnungsgenossen zu: Bismarck will ja offenbar euer kleindeutsch-monarchisches Spiel spielen, dasselbe Spiel, das ihr in den Revolutionsjahren so wunderschön verfahren und verritten habt; einigt euch mit dem Manne, solange ihr ihm etwas bieten könnt; schlagt liberale Zugeständnisse aus ihm heraus, solange er euch braucht. Ohne Zweifel hätte es der Liberalismus mit dieser Taktik weiter gebracht als mit der tatsächlich von ihm beliebten. Aber Treitschke predigte tauben Ohren. Lasker erklärte, bei Treitschkes „rednerischen Floskeln lasse sich nichts, gar nichts denken", und protestierte weiter, um dann nach Königgrätz unter Bismarcks Tisch zu kriechen und die Brosamen aufzuschnappen, die ihm dieser in großmütiger Siegerlaune hinwerfen mochte.

Dreimal im Rechte war Treitschke, wenn er als Liberaler von dem Partikularismus und nun gar von dem dynastischen Partikularismus nichts wissen wollte. Sein Kleinkrieg mit diesen vermufften Rückständigkeiten ist heute noch ergötzlich zu verfolgen. Mit der Redensart, dass Treitschke den kleindeutsch-reaktionären Standpunkt vertreten habe, ist nichts oder doch lange nicht alles gesagt. Gewiss war der kleindeutsche Standpunkt reaktionär, verglichen mit dem großdeutsch-revolutionären Programm, wie es Marx, Engels und auch Lassalle vertreten: Deutschland als einige, unteilbare Republik, das war die einzig gründliche Lösung der deutschen Frage. Aber innerhalb der bürgerlichen Klasse war das kleinbürgerliche Programm in seiner Art revolutionär gegenüber dem großdeutschen Programm. Jenes wollte wenigstens ein einiges Rumpf-Deutschland, während dieses mit dem österreichisch-deutschen Dualismus und den dreißig kleinen Dynastien die alte Zerrissenheit in Ewigkeit erhalten wollte. So gewiss das Deutsche Reich ein historischer Fortschritt war über den Deutschen Bund hinaus, so gewiss standen die bürgerlichen Kleindeutschen auf einem historisch entwickelteren Standpunkt als die bürgerlichen Großdeutschen.

Die sechziger Jahre waren Treitschkes Glanzzeiten. Sobald sein Ideal auf den böhmischen und französischen Schlachtfeldern erkämpft worden war, war er fertig. Eine Entwicklung gab es für ihn nicht, oder doch nur eine Entwicklung nach rückwärts. Je mehr das neue Deutsche Reich von dem historischen Fortschritt überholt wurde, um so mehr geriet sein Prophet ins Hintertreffen. Heftiger noch als in den sechziger Jahren die Partikularisten bekämpfte Treitschke in den siebziger Jahren die Sozialisten. In seiner Art war er dabei von einem feinen historischen Instinkt geleitet. Es ist gar nicht wahr, was die ultramontanen Blätter in ihren Nekrologen auf Treitschke behaupten, dass er nämlich ein fanatischer Kulturkämpfer gewesen sei. Er hat sich nicht viel mehr um den ultramontanen Partikularismus gekümmert, nachdem er mit dem liberalen Partikularismus fertig geworden war. Dagegen begriff er recht gut, dass in der Sozialdemokratie die historische Macht heranwachse, die über alle seine mühsam mit Blut und Eisen zusammengekitteten Ideale siegenden Fußes fortschreiten werde.

Insofern war nichts erklärlicher als die anfangs allgemein verblüffende Erscheinung, dass Treitschke wenige Jahre nach der Gründung des neuen Deutschen Reiches als der leidenschaftlichste und selbst gehässigste aller Sozialistentöter hervortrat. Nach seinem ganzen Bildungs- und Entwicklungsgang hätte man annehmen müssen, dass er etwa zum Kathedersozialismus gehören würde. In der Tat hatte er sich auch an der Gründung des Vereins für Sozialpolitik beteiligt und die „Preußischen Jahrbücher", die er in den siebziger Jahren herausgab, den publizistischen Vertretern des Kathedersozialismus geöffnet. Dann aber brach er plötzlich in ebendieser Zeitschrift berserkerhaft gegen allen Sozialismus los, gegen die kathedersozialistische Limonade wie gegen den unverfälschten Wein des wissenschaftlichen Kommunismus.

In all dem fürchterlichen Poltern steckte nichts als eine unüberwindliche Angst. Und wie immer war die Angst auch diesmal eine schlechte Beraterin. Es ist Treitschke nie gelungen, der Sozialdemokratie ein Haar zu krümmen, wohl aber gab er seinem wissenschaftlichen Ansehen mit seinen Aufsätzen über den Sozialismus einen Stoß, den er niemals wieder verwunden hat. Es lohnt sich heute nicht mehr, die damals schon abgedroschenen Redensarten, mit denen Treitschke der Sozialdemokratie an den Kragen wollte, näher zu zergliedern. Ebenso wenig halten wir uns bei der heiteren Tatsache auf, dass die Bismärckerei in all ihren konservativen und literarischen Schattierungen den nun endlich erstandenen und unwiderstehlichen Drachentöter jubelnd auf den Schild hob. Wohl aber ist es der Erinnerung wert, wie ernsthafte Politiker der bürgerlichen Klassen das groteske Kartenhaus Treitschkes sofort zusammenwarfen. Schmollers Gegenschrift ist bekannt; weniger bekannt ist eine Kritik des Statistikers Engel, aus der wir einige auch heute noch interessante Sätze wiedergeben: „Glänzend geschrieben, blendet Treitschkes Aufsatz viele Leser; dass er sie nachhaltig belehrt haben sollte, erlauben wir uns deshalb zu bezweifeln, weil sein Inhalt für die tiefere national-ökonomische Bildung seines Autors und für dessen Kenntnis der realen Zustände kein günstiges Zeugnis ablegt. Die Lava sittlicher Entrüstung ersetzt sowenig die Überzeugung, wie das Schreien im Streite das Recht… Herr v. Treitschke bekennt sich als ein Freund der sozialen Statistik und hält dafür, dass dieselbe vorzugsweise eifrig in dem Kreise der deutschen Freihändler gepflegt werde. Da die zwei oder drei von ihm zitierten Schriften unseres Erachtens nicht zu denjenigen gehören, welche vor einer strengen Kritik standhalten, und andere uns nicht bekannt sind, obschon die uns zu Gebote stehende Bibliothek sich rühmen darf, eine der vollständigsten auf diesem Gebiete überhaupt vorhandenen zu sein, so sind also die Früchte jener nur in eingeweihten Kreisen bekannten eifrigen Pflege noch zu erwarten. Wir werden sie mit Freuden willkommen heißen; bis dahin aber möge Herr v. Treitschke uns gestatten, ihm zu sagen, dass die Regierenden und die Regierten in Deutschland, und anderswo ist's nicht viel besser, über die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse so ununterrichtet sind wie möglich … Die angesehensten und in der Presse einflussreichsten und deshalb maßgebendsten Freihändler waren es, welche noch vor zwölf bis fünfzehn Jahren meinten, dass man dergleichen Tatsachen überhaupt nicht zu ermitteln brauche, weil die Volkswirtschaft von unwandelbaren Naturgesetzen beherrscht werde. Gegenteilige Ansichten drangen nicht durch. Desto besser, wenn die Freihändler nun von diesen extremen Ansichten zurückgekommen und gewillt sind, mit Hand an die sorgfältige, nicht bloß scheinbare Erforschung der Dinge zu legen, ohne welche die soziale Gesetzgebung nur im Finstern tappt und Gefahr läuft, größere Kalamitäten zu schaffen, als sie zu beseitigen gedenkt." Diesen vernichtenden Hohn musste sich Treitschke ruhig bieten lassen, denn in der Tat hatte er sich seine kühne Behauptung, dass die deutschen Freihändler epochemachende Taten auf dem Gebiete der sozialen Statistik verrichtet hätten, rein aus den Fingern gesogen, und ähnlich wie Engel diese kühne Entdeckung, hieb Schmoller Treitschkes andere, nicht minder kühne Entdeckung zusammen, dass die englischen Freihändler die Väter der englischen Fabrikgesetze seien.

Bei alledem hatte Treitschke noch einen zweiten Strang auf seinen Bogen gespannt. Ließ ihn etwa die freihändlerische Doktrin im Stiche, so konnte ihn die naturwissenschaftliche Doktrin retten. Kam die alleinseligmachende Konkurrenz als Regulator der menschlichen Gesellschaft etwa in Misskredit, so segelte es sich ebenso bequem unter der Flagge des Kampfes ums Dasein. Die Entwicklung des menschlichen Geschlechts hängt von der ewigen Ungleichheit der Menschen ab, denn sie nährt sich vom Elend der Massen, und sie verjüngt sich im Blutbad der Schlachtfelder. Was Darwin in aller Gewissenhaftigkeit des Forschers als unbewussten Erhaltungstrieb des tierischen Daseins dargestellt hatte, das rief Treitschke als Sittengesetz der Menschheit aus. Diesen Teil seiner Aufsätze über den Sozialismus fasste Guido Weiß bei ihrem Erscheinen in die Worte zusammen: Die Bestialität hat sich ihres Namens fürder nicht zu schämen, gehet hin und lernet vom Raubtier. Und Treitschke ließ es leider nicht bei der theoretischen Bestialität bewenden; nach den Attentaten Hödels und Nobilings gebärdete er sich wie ein rasender Schamane, und indem er die deutsche Sozialdemokratie als eine unheimliche Verschwörerbande darstellte, welche die Hohenzollern als die Träger moderner Kultur wie die Spatzen einen nach dem anderen abzuschießen beabsichtige, verlangte er, dass die Unternehmer alle sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter aufs Pflaster werfen und dem Hungertod überliefern sollten.

Seit dem Ende der siebziger Jahre hat sich Treitschke wenig mehr an der politischen Debatte beteiligt. Wie jener Tischlermeister Hebbels verstand er die Welt nicht mehr, in der von Rechts wegen alles so herrlich gehen sollte und tatsächlich alles so schief ging. Er machte nun die Probe, die von hinten nicht glücken wollte, sozusagen von vorn, wo ihn nicht mehr die Ereignisse zurechtsetzen konnten, wohl aber er die Ereignisse. In seinem Werke über die deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts suchte er das neue Deutsche Reich als das Erzeugnis aller edlen, großen, erhabenen Kräfte darzustellen, die je im Leben des deutschen Volkes tätig gewesen seien. Was er sinnloserweise einmal von Marx behauptet, dass für diesen das zu Beweisende von vornherein festgestanden habe, das galt gerade von ihm selbst. Der preußische Staat als Werk der Hohenzollern ist der Vater, die klassische Literatur und Philosophie ist die Mutter des Deutschen Reiches: Um diese kuriose These zu erhärten, schleppte Treitschke mit einem emsigen Fleiße, von dem nur bedauert werden kann, dass er nicht an einen würdigeren Gegenstand verwandt worden ist, eine gewaltige Masse historischen Materials herbei. Seine Methode oder, um richtiger, wenn auch unhöflicher zu sprechen, seine Mache ist dieselbe wie die Mache Janssens. Wer diese Mache kennt und selbständig den Stoff beherrscht, den solche Historiker behandeln, der wird aus ihnen immer noch viel lernen können, vorausgesetzt, dass es wirklich Persönlichkeiten sind, die etwas zu sagen haben, was sowohl Janssens wie Treitschkes Fall war. Aber objektiv-wissenschaftlich geben ihre Geschichtswerke natürlich nur mehr oder minder groteske Zerrbilder von dem wirklichen Verlauf der Dinge. Vor Janssen zeichnete sich Treitschke nicht nur durch ein glänzendes Formtalent, sondern auch dadurch aus, dass er, wie man es nehmen will, unehrlicher oder ehrlicher verfuhr. Janssen schlich viel vorsichtiger um die historischen Tatsachen herum, während Treitschke sie wie ein strammer Husar niedersäbelte, sobald sie ihm irgend im Wege standen. Er ist viel leichter zu ertappen als Janssen. Aber die größere Unehrlichkeit ist in der Tat eine größere Ehrlichkeit. Treitschke wurde durch einen wirklichen Fanatismus verblendet, und deshalb ließ er sich auf Dingen festnageln, die ein berechnender Fälscher leicht hätte vermeiden können. Dem Lebenden musste man diese Geschichtsklitterungen rücksichtslos bestreiten, dem Toten kann man gern die Entschuldigung des guten Glaubens einräumen. Nach all seinen Anlagen und Gaben war Treitschke zum Redner geschaffen, zum Agitator, der sich mit heftigen Ellenbogenstößen im Getümmel des öffentlichen Marktes Bahn bricht; nur sein Gehörleiden zwang ihn in die Einsamkeit des Studierzimmers, wo seine heißen Leidenschaften ihn in ein Traumleben spannen, das zwar nur ein Schattenspiel an der Wand, aber ihm wenigstens historische Wahrheit war.

So wie Treitschke nun einmal geworden war, konnte es keinen Lehrer geben, welcher der historischen und politischen Bildung der besitzenden Klassen so verhängnisvoll werden musste wie gerade er. Doch darüber zu klagen ist nicht unser Beruf. Uns interessiert nur noch, dass es nicht einmal Treitschkes Begeisterung und Talenten gelungen ist, das neue Deutsche Reich mit der neu-reichsdeutschen Legende zu versöhnen. Dies Reich will durchaus nur auf den Spitzen der Bajonette sitzen, und die bloße Zumutung, mit geistigen Mächten irgend etwas zu schaffen zu haben, geht ihm schon wider den Strich. Und gewiss mit Recht. Es ist mit seiner Legende wie mit dem „Glücke von Edenhall" in Uhlands Ballade. Als seltenes Prunkstück mag sie in verschlossenem Schranke stehen, aber in den Händen eines ungestümen Zechers, wie Treitschke doch immer war, zerbricht sie leicht wie alle gläserne Herrlichkeit.

Dies etwa sagt jene Lücke in den Kränzen, die auf Treitschkes Sarge lagen. Und sie stellt dem Toten das gerechte Zeugnis aus, dass er nie um die Gunst der Könige gebuhlt hat, dass er trotz alledem der Täter seiner Taten war und als Chorführer einer entnervten und weibisch entarteten Klasse immer noch ein Mann.

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