Franz Mehring 19100108 Paranoia professoris magistra

Franz Mehring: Paranoia professoris magistra

8. Januar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 545-548. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 516-519]

Der deutsche Professor ist – wenn man von ebenso rühmlichen wie seltenen Ausnahmen absieht – von jeher ein charakterloses Geschöpf gewesen, aber er pflegte der Tugend wenigstens noch den Zoll zu entrichten, als den ein französischer Schriftsteller einmal die Heuchelei gestempelt hat: Wenn er in der Regel niemals ein Charakter war, so hielt er es doch für angezeigt, den Charakter zu spielen. Er scheint nun aber dieses grausamen Spiels müde zu werden und die Zeit für gekommen zu erachten, wo er die letzte Larve von seinem holden Angesicht fallen lassen kann. Herr Professor Karl Lamprecht in Leipzig, der unter seinesgleichen wohl sicherlich nicht der erste beste ist, sondern von der Gilde als Geschichtsphilosoph wie als Geschichtsschreiber hoch gefeiert wird, erlässt ein feierliches Proklama, worin er das „Handeln nach starren politischen Maximen" und selbst das „Handeln nach Umständen" verfemt, dagegen die Geschichte als Lehrmeisterin und als ihren klassischen Schüler den gegenwärtigen Reichskanzler feiert: „Eine zweifellos stark historisch entwickelte Intelligenz tritt bei ihm aus ihrem latenten Zustand heraus in dem Bestreben, die Dinge ständig in ihrem weitesten Zusammenhang und in der starken Strömung ihres historischen Ablaufs und dadurch nach den ihnen, nicht aber der urteilenden Person an erster Stelle einwohnenden Prinzipien zu fassen."

Diese Offenbarung geht sogar dem „Berliner Tageblatt" über den Spaß, an dessen Spitze Herr Lamprecht seine neue Botschaft verkündet. Das Blatt verwahrt sich gegen die huldigende Kniebeuge vor Herrn v. Bethmann Hollweg, wenn auch freilich nur gegen sie. Die prinzipielle Verfemung aller Prinzipien lässt das „Berliner Tageblatt" ohne redaktionelle Verwahrung passieren, was im Vorbeigehen auch notiert zu werden verdient. Diese Zeitung tut sich viel darauf zugute, an politischem Charakter und politischer Einsicht dem landläufigen Freisinn überlegen zu sein, und in neuerer Zeit darf sie diesen Anspruch auch bis zu einem gewissen Grade erheben. Aber mit ihrer Lamprechtiade rutscht sie noch weit hinter die „Freisinnige Zeitung" zurück, und wenn das schon am grünen Holze passiert, so wird man verstehen, dass die Sozialdemokratie den freisinnigen Besserungsversuchen vorläufig mit einer gewissen abwartenden Reserve gegenübersteht. Doch das nebenbei! Herr Lamprecht überschreibt sein Orakel: Historia vitae magistra … und will untersuchen, ob gemäß dem alten Wort die Geschichte wirklich die Lehrerin des Lebens sei. Er führt diese Ansicht auf die pragmatisch-rationalistische Geschichtsschreibung zurück; „wer meint, die Geschichte gehe in dem Handeln hervorragender Kriegs- und Staatsmänner, vor allem aber .deren Potentaten' auf, und zugleich der Ansicht ist, der Mensch sei an allen Orten derselbe, heute und gestern und in Zukunft und ehedem, der wird naturgemäß nach anscheinend ganz vollkommen möglichen Präzedenzfällen des gegenwärtigen Handelns in der Vergangenheit suchen, um aus deren Hergang zu lernen". So beginnt Herr Lamprecht ganz nett, halb Buckle, halb Marx, um dann mit einem mächtigen Satz in einen bodenlosen Abgrund zu springen.

Er behauptet nämlich, der Mensch sei in einem unablässigen physisch-psychischen Umwandlungsprozess begriffen, wofür schon der Vergleich des heutigen Menschen mit dem Homo Heidelbergensis und dem Neandertalmenschen zeuge. Aber auch in den paar tausend Jahren mehr oder minder beglaubigter Geschichte sei das Genus Mensch nicht konstant, sondern in einer dauernden physisch-psychischen Entwicklung geblieben. Nun sind wir gewiss nicht so unhöflich, Herrn v. Bethmann Hollweg physisch und psychisch auf dieselbe Stufe mit dem Homo Heidelbergensis oder dem Neandertalmenschen zu stellen, aber dass er, als er neulich zum Reichstag sprach, an geistiger und körperlicher Schönheit jenen Perikles übertroffen habe, der den Athenern die berühmte Grabrede hielt, dieses möchten wir doch nicht behaupten. Auch glauben wir, dass sich Äschylus noch nicht vor Herrn Sudermann oder Sophokles vor Herrn Lindau oder Praxiteles vor Herrn Begas zu schämen braucht. Die staatsrettende Kraft der Delatoren in der römischen Kaiserzeit war auch wohl nicht geringer als die patriotische Leistungsfähigkeit der heutigen Lockspitzel. Nun bezieht sich allerdings Herr Lamprecht nicht auf die antike, sondern auf die mittelalterliche Zeit, auf die Germanen und die mittelalterlichen Kaiser. Allein wir glauben auch hier, dass der Cheruskerhäuptling Armin, der den Varus schlug, sich physisch-psychisch wohl messen kann mit dem heutigen Germanenhäuptling Mugdan, der den roten Heerbann mordet, und dass auch die sächsischen, salischen und staufischen Kaiser keine niedrigeren Spezies des Genus Homo darstellen als die heutigen Hohenzollern, Wettiner und Wittelsbacher.

Mit anderen Worten: Für die paar Jahrtausende mehr oder minder beglaubigte Geschichte, auf die sich Herr Lamprecht bezieht und auf die sich das Wort von der Geschichte als Lehrerin des Lebens auch nur allein beziehen kann, sind die Menschen unter seinem Gesichtspunkt allerdings immer dieselben gewesen; nach ihren physisch-psychischen Naturanlagen besteht kein Unterschied zwischen den alten Griechen und Römern oder auch den alten Ägyptern und Babyloniern auf der einen und den heutigen Menschen auf der anderen Seite. Der ewige Wechsel unter den menschlichen Geschlechtern entsteht vielmehr aus dem ewigen Wechsel ihrer materiellen Produktionsweise, von der ihr geistiger, politischer und sozialer Lebensprozess abhängt. Und die Frage, ob die Geschichte eine Lehrerin für das Leben sein kann, hängt sehr einfach davon ab, ob das Bewegungsgesetz der menschlichen Geschichte verstanden wird oder nicht. Es kommt dabei viel mehr auf die Schüler als auf die Lehrer an. „Anders lesen Knaben den Terenz, anders Hugo Grotius." Diese Knaben können auch sehr alte Knaben sein. Wenn ein Mann wie Moltke einmal dem Reichstag vortrug, was er aus der großen französischen Revolution gelernt hatte, nämlich dass die Liberalen von den Demokraten, die Demokraten von den Kommunisten und die Kommunisten vom Lumpenproletariat regelmäßig aufgefressen werden, so hätte er sich sein Schulgeld mit gutem Gewissen wieder von der Lehrerin einfordern können. Aber wer die Klassenkämpfe der Französischen Revolution an der ökonomischen Struktur der damaligen französischen Gesellschaft richtig zu erkennen weiß, der kann daraus allerdings für das Leben lernen, für die Art, wie er heute den politischen Kampf führen muss.

Doch um auf Herrn Lamprecht zurückzukehren, so verneint er von seinem physisch-psychischen Standpunkt aus den Satz, dass die Geschichte die Lehrerin des Lebens sei, jedoch nur um hinzuzusetzen, dass der Satz in einem verwandelten Sinne doch wahr, ja noch ganz anders als früher stärkstes Motiv und Elixier unseres Lebens sei. Und es folgt nun ein Haufe gebildeter Redensarten über das „Pathos der Distanz", über den „tiefen Atem", den wir aus der Überzeugung unergründlicher Energieanhäufung in der Geschichte des Menschengeschlechtes holen, und ähnliche schöne Dinge, die wenigstens den einen Vorzug haben, dass sie den seligen Julian Schmidt im Lichte eines klaren und tiefen Denkers erscheinen lassen. Doch mag der Leser selbst nach folgenden Kernsätzen des Artikels urteilen:

Unser Denken ist darum historisch nicht mehr in dem Sinne, dass es für irgendeinen Einzelvorgang der Gegenwart oder gar für die Beschlussfassung in einem bestimmt gegebenen Falle Analogien in der Vergangenheit suchte und ihnen vielleicht gar unmittelbare Direktiven entnehmen zu können glaubte. Nein: Sein geschichtlicher Charakter ist jetzt in ganz anderen Tiefen verankert. Es ist das Bewusstsein, in einer unendlichen Abfolge wohlgeordnet einander ablösender menschlicher Entwicklungen zu stehen; es ist die Empfindung der Einheit der Zeit und des Ortes hin durch die Jahrtausende und hinweg über alle Räume des Erdenrundes. Und es ist, auf dieser Grundlage, das Glück und das Bewusstsein zugleich, nicht bloß einem einzigen Zeitalter anzugehören, sondern durch das Mittel einer historisch gegängelten Phantasie hindurch auch an dem Leben anderer Zeitalter teilzunehmen und dadurch, gegenüber früheren Geschlechtern, um vieles reicher zu sein an Lebenserfahrung und Lebensgenuss. Und mehr noch: es ist zugleich auch das Glück und der Lichtglanz, der, zu hohen Zielen verklärend, auf jene unsere Resignation fällt, die, ein Erzeugnis aller hohen Kulturen, sich da einstellt, wo der Baum der Erkenntnis seine kalten Schatten über alternde Völker breitet. So ist es ein höchst wertvoller integrierender Bestandteil unseres geistigen Daseins, der auch jede eigentliche historische Kenntnis erst beleben muss, soll sie fruchtbar sein: und der dann sehr wohl imstande ist, sie in ihren größeren Zusammenhängen auch fruchtbar für unser direktes Handeln im Einzelfall zu gestalten. In diesem Sinne ist die Historie also doch eine magistra vitae geblieben, nur dass man das Wort jetzt nicht so sehr mit Lebenslehrerin wie mit Lebensmeisterin zu übersetzen geneigt sein wird."

Bimbam! Bambim! würde Lassalle sagen. Was uns betrifft, so gestehen wir aufrichtig und bescheiden, dass unser Verständnis dieses Evangeliums nicht weiter reicht, als es auch beim Homo Heidelbergensis oder dem Neandertalmenschen gefunden haben würde.

Daran schließt dann Herr Lamprecht sein Anathema über das Handeln nach starren politischen Maximen und sogar über das Handeln nach Umständen, das ja bei dem raschen Kanzler- und Ministerwechsel in Deutschland auch für die gewandtesten Umdenker sein Lästiges und Unbequemes haben mag. Erklären wir uns also für charakterlos aus der Tiefe der Geschichtsphilosophie und feiern wir den hilflosesten Greis, der je auf dem Dache eines preußischen Ministerhotels gesessen hat, als den philosophischen Ehrengreis, der aus erhabener Höhe gelassenen Blickes den Strom der Weltgeschichte vorüberrauschen sieht!

Auch die Charakterlosigkeit der deutschen Professoren erklärt sich aus den ökonomischen Bewegungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft, allein in diesem besonderen Falle wollen wir gern zugeben, dass sie sich auch nach der historischen Methode des Herrn Lamprecht erklären lässt: als paranoia professoris magistra, das heißt in höflichem Deutsch ausgedrückt: des Herrn Professors Lehrerin ist eine physisch-psychische Umwandlung seiner Gehirnfunktionen.

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