Franz Mehring 19130131 Treitschkes Briefe

Franz Mehring: Treitschkes Briefe

31. Januar 1913

[Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 639-645. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 482-489]

Heinrich v. Treitschkes Briefe. Herausgegeben von Max Cornicelius. Erster Band 1834 bis 1858. Mit vier Porträts in Lichtdruck. Verlag von S. Hirzel. 1912. 485 Seiten. Preis geheftet 10 Mark, gebunden 12,50 Mark.

Seit dem Tode Treitschkes – im Jahre 1896 – ist viel aus seinem Nachlass veröffentlicht worden: zwei starke Bände historischer und politischer Aufsätze, zwei nicht minder starke Bände Vorlesungen über Politik, ein Band parlamentarischer Reden, der Briefwechsel mit Gustav Freytag; es ist schon eine kleine Bibliothek. Treitschke selbst war kein Freund solcher postumen Veröffentlichungen und hat sich bei Lebzeiten manchmal dagegen ausgesprochen. Auch ist nicht mit jeder dieser Veröffentlichungen seinem Andenken ein besonderer Dienst erwiesen worden, am wenigsten wohl mit den Vorlesungen über Politik, die, als sie erschienen, in diesen Spalten schon ausführlich besprochen worden sind.

Nun kommt auch noch ein neuer, wiederum sehr starker Band Briefe hinzu, dem im nächsten Frühling ein zweiter Band folgen soll. Der erste Band, der bisher vorliegt, umfasst die jungen Jahre Treitschkes bis zu seiner Habilitation als Privatdozent in Leipzig, das will sagen bis an die Schwelle seiner öffentlichen Wirksamkeit. Es sind meistens Briefe an seinen Vater und daneben an einzelne Universitätsfreunde, von denen keiner in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, es sei denn, dass es einer, Wilhelm Nokk, zum badischen Minister gebracht hat. So scheint auch die neueste Veröffentlichung einer übergroßen Pietät geschuldet zu sein. Gleichwohl trügt dieser Schein. Die Briefe sind voll feinen psychologischen Reizes, wenigstens für den, der zu lesen versteht und ein größeres Vergnügen darin findet, einen eigentümlichen Charakter zu verstehen, als ihn zu verherrlichen oder zu verurteilen. Und was man sonst gegen Treitschke sagen mag, dies eine durfte er mit Recht von sich rühmen, dass ihm „Heuchelei die hassenswürdigste Sünde" war.

Treitschke entstammte einer königlich-sächsischen Beamtenfamilie, die angeblich einem böhmischen Emigrantengeschlecht angehört haben soll.

Sein Vater hatte die militärische Laufbahn eingeschlagen und es zu den höchsten Stellen in dem kleinen sächsischen Heere gebracht; er galt als ein sehr fähiger Offizier, wenn es ihm auch nicht vergönnt gewesen ist, kriegerische Lorbeeren zu erwerben. Seitdem er als blutjunger Leutnant das traurige Schicksal der sächsischen Truppen mit erlitten hatte, die im Jahre 1815 – wegen der Meuterei in Lüttich1 – heimgeschickt wurden, ehe sie an den Feind kamen, war er ein heftiger Preußenhasser, voll jener grünweißen Königstreue, die sein ältester Sohn später mit seinem bittersten Spotte überschüttet hat.

Immerhin war der alte Treitschke, obgleich zeitweise Flügeladjutant des sächsischen Königs, doch kein höfischer General; man darf es daraus schließen, dass sein Sohn schon früh die „höfische Mythologie" verachtete und im Frühjahr 1849 an den Vater, der selbst in Schleswig-Holstein stand, die kernigen Worte schrieb: „Wahrhaft stinkende Lobhudeleien auf den Prinzen Albert, ,den jugendlichen Helden von Düppel', der doch, als Adjutant, gar nicht gefochten hat, sowohl in Versen als in Prosa, bekommt man hier zu sehen, und man kann es den Demokraten nicht verdenken, wenn sie schlechte Witze darüber machen." Seine Abwesenheit in Schleswig-Holstein bewahrte den General v. Treitschke davor, an der Niedermetzelung der Dresdener Maikämpfer beteiligt zu sein; die Berichte über den Barrikadenkampf erhielt er durch seinen Sohn, der in ihnen eine politische Einsicht zeigt, die für einen fünfzehnjährigen Knaben aller Ehren wert ist. Das hinterhältige Spiel der Regierungen und namentlich der sächsischen Regierung mit der Frankfurter Reichsverfassung ist ihm die wahre Ursache des Aufstandes, von dem er auch richtig sagt, dass sich eine Stadt, aus der das Militär nicht vertrieben worden sei, niemals so lange gehalten habe wie damals Dresden.

Von früh an litt der junge Treitschke aber an einer körperlichen Krankheit, die ihn mehr und mehr von der Außenwelt abschloss, in die er eben mit frischen Augen zu blicken begonnen hatte: an einem Gehörleiden, das sich nach und nach zu völliger Taubheit entwickelte. Wie er mit diesem tückischen Feinde kämpfte, der ihm jeden harmlosen Lebensgenuss verkümmerte, hoffnungsloser mit jedem neuen Tage und doch niemals völlig verzagend, lässt sich in den Briefen an seinen Vater nicht ohne menschliche Teilnahme verfolgen. Auch in der Wahl seines Berufs wurde er dadurch empfindlich behindert, und doch musste er, da die Familie arm war, darauf bedacht sein, dem Vater möglichst bald aus der Tasche zu kommen. Er entschied sich für das Studium der Staatswissenschaften mit der Aussicht auf einen akademischen Lehrstuhl oder auch auf eine Unterkunft in den Dresdener Regierungsbüros.

Als er später seine hässlichen Pamphlete gegen den Sozialismus losließ und damit selbst bei der zünftigen Gelehrsamkeit argen Anstoß erregte, meinte er stolz, er habe nach allen Regeln der Zunft die Staatswissenschaften studiert und schon in seiner Habilitationsschrift über die Gesellschaftswissenschaft seine nationalökonomischen Kenntnisse bekundet. Das mochte sich als Einwand gegen den zahmen Kathedersozialismus hören lassen; wenn wir jetzt aber in seinen Briefen über die Lehrmethoden lesen, durch die er in die Staatswissenschaften eingeführt werden sollte, so werden wir unwillkürlich an das Wort von Marx erinnert: „Das nicht ganz unterdrückbare Gefühl wissenschaftlicher Ohnmacht und das unheimliche Gewissen, auf einem in der Tat fremdartigen Gebiet schulmeistern zu müssen, suchte man zu verstecken unter dem Prunk literarhistorischer Gelehrsamkeit oder durch Beimischung fremden Stoffes, entlehnt den sog. Kameralwissenschaften, einem Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegfeuer der hoffnungsvolle Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehn hat."2 An diesem „Mischmasch" hat Treitschke keine Freude gehabt; er selbst schrieb, Marx vorahnend, schon im November 1854 verächtlich von dem „elenden Mischmasch, den man Kameralwissenschaft nennt". „Das ist ein Haufen von Namen und empirischen Regeln zu einem rein äußerlichen Zwecke, dem des größtmöglichen Erwerbes, zusammengestoppelt; das einzig Wissenschaftliche in dem ganzen Kram sind Sätze der Nationalökonomie oder der Naturwissenschaften. Das muss ich als Gedächtnisballast aufnehmen, um hoffentlich nächsten Sommer auf einer Reise durch die Fabriken des Erzgebirges die toten Namen lebendig werden zu lassen." Zu dieser Reise ist es leider nie gekommen; durch seine Taubheit blieb Treitschke zu einem „einsiedlerischen Studium immer aus toten Heften und Büchern" gezwungen.

Einmal glaubte er dem „elenden Mischmasch" entrinnen zu können, und er verlängerte sein Universitätsstudium sogar um ein Semester, um in Heidelberg einen – heute verschollenen – Dozenten Kiesselbach über politische Ökonomie und deutsche Wirtschaftsgeschichte zu hören. Wenn man erwägt, dass Treitschke zuerst bei Dahlmann – ausgerechnet bei Dahlmann! – Nationalökonomie und Finanzwissenschaft gehört hatte, so begreift man seinen Widerwillen „gegen die doktrinäre Einseitigkeit, die in allen Verfassungskämpfen nur einen Streit um politische Theorien erkennt", und so begrüßte er lebhaft die Lehre Kiesselbachs, dass die einzige oder mindestens die allerwichtigste Triebfeder des politischen Lebens in den wirtschaftlichen Zuständen zu suchen sei. Aber er kam auch hier vor die unrechte Schmiede; Kiesselbach war ein Renegat des Liberalismus und predigte seine „deutsche Wirtschaftsgeschichte" nur im Sinne der feudal-romantischen Schule, die den mittelalterlichen Ständestaat auf den wirtschaftlichen Verhältnissen wiederherzustellen gedachte. Über diesen „unseligen Rückschritt", der glücklicherweise zwar eine Unmöglichkeit sei, aber doch tatsächlich – trotz aller Verwahrungen – unsere Kultur um dreihundert Jahre zurückschrauben wolle, war sich Treitschke bald im klaren. Und noch mehr empörten ihn Kiesselbachs Lehren über die „sozialkulturlichen Aufgaben der Kirche in der Gegenwart" als ein Versuch, „gebildete Ungläubige" zu einer elenden Heuchelei zu verführen. So blieb es denn für Treitschke bei dem „Mischmasch" der Rau und Roscher.

Größere Freude als an diesem Studium „nach allen Regeln der Zunft" hatte er während seiner Universitätszeit an seinen poetischen Versuchen. Er besaß ästhetischen Geschmack und hegte einen natürlichen Widerwillen gegen die Goldschnittlyrik, wie sie damals aufwucherte, das leere Reimgeklingel der Redwitz und Putlitz, der Roquette und Rodenberg, gegen die „Jugendblüten", wie er spottete, gegen „die Pilgerfährtchen des Röschens", „Was ich den Vöglein abgelauscht" usw. Einem Freunde, der sich dafür begeisterte, machte er einen „freundschaftlichen Schweinehund" über solche Verirrung des Geschmacks. An Paul Heyse schalt er die herzlose zierliche Spielerei, auch von Storm wollte er nicht viel wissen, über den er zu ungünstig urteilte, wie über Scheffel zu günstig, wobei als mildernder Umstand ins Spiel kam, dass Treitschke ein tapferer Zecher war.

Er meinte: „Das alte Wort: ,Ein politisch Lied, ein garstig Lied' ist Unsinn, denn wenn man dem Dichter erlaubt, von Liebchens kaltem Herzen zu singen, wie viel erhabener ist es, den Schmerz eines großen Volkes zu besingen!" In manchem erinnert sein ästhetisches Urteil an Lassalle; auch er hat oft erwogen, Hutten dichterisch zu verherrlichen, „dessen kurze glänzende Laufbahn ihm das wahre Vorbild eines männlichen Lebens zu sein" schien. Freilich flößte ihm sein Abscheu vor der weichlichen Versdrechslerei eine unzeitige Vorliebe für Julian Schmidt ein, der zwar nichts von Kunst verstehe und sehr einseitig sei, aber doch einseitig wie Lessing. Später mäßigte sich seine Anerkennung dieses Genius, als er eine Gedichtsammlung an Julian Schmidt sandte und der Grobian ihm antworten ließ, er denke nicht daran, das Zeug zu lesen. Immerhin hat Treitschke auch späterhin noch die Partei Julian Schmidts gegen das bekannte Pamphlet Lassalles genommen.

Die beiden Gedichtsammlungen, die Treitschke in seiner Universitätszeit herausgegeben hat, sind heute verschollen. Er selbst hat mit ihnen der Poesie überhaupt Valet gesagt, weil er ehrlich genug war, einzusehen, dass sein dichterisches Talent für das Schaffen eines ganzen Lebens nicht ausreiche. Dafür kam er nun um so tiefer in die Politik hinein. Und hier eröffnen seine Briefe wieder sehr lehrreiche Aussichten in die Zeit der fünfziger Jahre. Sie bestätigen, dass kräftige Naturen die Schande der Gegenrevolution viel mehr auf nationalem als auf liberalem Gebiet empfanden. Die Tage von Bronzell3 und Olmütz, die im Grunde doch nur die verdienten Quittungen über den Leichenraub waren, den die preußische Regierung an der deutschen Revolution verübte, sind nicht nur von Lassalle, sondern auch von Engels und Marx als Tage nationaler Schmach empfunden worden. Die Briefe Treitschkes legen neues Zeugnis dafür ab, wie sehr der einzelne mit seinem ganzen Denken im Banne seiner Zeit steht, wie dieser Bann in den verschiedensten Geistern dieselben Erscheinungen hervorruft.

Als Treitschke ein Semester in Tübingen studierte, lernte er die schwäbische Kantönlidemokratie kennen und schilderte sie in Worten, die Engels geschrieben haben könnte. „Die Leute sind meist nicht über die schwäbische Grenze hinausgekommen und entwickeln nun einen so unausstehlichen königlich-württembergischen Partikularismus, dass er für jeden, der etwas Nationalgefühl hat, eine wahre Plage ist… So kann man auch mit einem Schwaben über Politik gar nicht reden; sein Standpunkt besteht darin, keinen zu haben als das Bewusstsein, dass außerhalb der schwarzroten Grenzpfähle ein Land der schwarzen Heiden ist." Und wie sehr erinnert es an Lassalle, wenn Treitschke im Frühling 1855 einem Freunde schreibt: „Bevorrechtet sind bei uns die Fürsten, an deren heiligen Nimbus kein Mensch mehr glaubt, seit sie Spielbälle fremder Macht geworden, und ein Adel, für dessen Elend ich keine Worte finden würde, wenn es nicht preußische Kammerverhandlungen gäbe. Dieser Zustand ist traurig, ganz gewiss, aber er ist unvermeidlich, denn vorderhand haben Fürsten und Adel entschieden noch die Macht; sie haben ihre Bajonette und Beamten; durch welche Mittel sie dieselben an sich ketten, ist gleichgültig; genug, sie haben sie. Dagegen die Gesellschaftsschichten, denen in Hinsicht auf Bildung und Wohlstand die meiste Lebensfähigkeit innewohnt, sind politisch machtlos:… Die Garantie ihrer Rechte ist eine Verfassung, die auf dem Papier steht und darum täglich verhöhnt wird. So reduziert sich also die ganze Frage über unsere politische Zukunft auf eine reine Machtfrage; es gilt, denjenigen, welche politische Lebensfähigkeit besitzen, auch die politische Macht zu verschaffen." Treitschke untersucht dann, wie dies möglich zu machen wäre, und kommt zu dem Ergebnis, es sei sehr zu wünschen, aber sehr unwahrscheinlich, dass es auf dem Wege des positiven Staatsrechtes geschehe; so bliebe nur die Revolution, die eine doppelte Bedeutung haben würde, eine politische und eine sittliche.

Aber für den Sohn des sächsischen Generals, dem dazu durch sein Gehörleiden jedes Verständnis von Massenbewegungen abgeschnitten war, blieb die Revolution am Ende doch nur ein bloßer Begriff, es sei denn, dass die Revolution von oben kam. Treitschke studierte eifrig Machiavelli, worin er sich mit Schweitzer berührte. Aber da ihm der revolutionäre Grundgedanke fehlte, so geriet er in den, wie er selbst sagte, „langweiligen Professorenhaufen" der Gothaer, die Schweitzer eben von seinem revolutionären Grundgedanken aus aufs heftigste bekämpfte. Die Gothaer waren, was heute die Nationalliberalen sind: Sie führten ihren Namen daher, dass sie im Jahre 1849 in Gotha die Reichsverfassung, der sie eben Treue bis in den Tod geschworen hatten, den preußischen Bajonetten opferten; „ein Produkt der bloßen Furcht vor Ernst, Krieg, Revolution, Republik und ein gutes Stück Nationalernst" nannte sie Lassalle. Bei alledem waren die Gothaer in den fünfziger Jahren die einzige Partei, die der siegreichen Gegenrevolution noch einen ängstlichen und schüchternen zwar, aber doch immerhin einen Widerstand entgegensetzte, während die bürgerliche Demokratie bekanntlich die Hände in den Schoß legte aus Abscheu vor dem oktroyierten Dreiklassenwahlrecht, das sie einige Jahre später als Kleinod deutscher Freiheit ins Herz schließen sollte.

Einem radikaler gesinnten Freunde schrieb nun Treitschke: „Ich habe Dir gegenüber, um Dich mit Deinem Radikalismus zu necken, vielleicht zu sehr den Gothaer gespielt. In Wahrheit ist es nicht so schlimm damit. Vor allen Dingen bin ich ganz radikaler Unitarier. Ich halte die Freiheit usw. für reine Phrasen, solange kein Volk vorhanden ist, die einzige Grundlage jeder staatlichen Entwicklung. Der Weg, der am raschesten zu dieser nationalen Einigung führt, ist mir der liebste, und sollte es der Despotismus sein; ich glaube, dass jede unnatürliche Verfassungsform, wenn eine nationale Einigung unseres Volkes erreicht ist, nur von kurzer Dauer sein könnte. Ich halte mich also an die Partei, bei der ich den meisten nationalen Eifer finde; das sind in meinen Augen trotz alledem die Gothaer. Du musst nicht glauben, dass ich ihre monarchistischen Ideen teile … Die Verehrung der angestammten Fürstenhäuser ist mir stets lächerlich gewesen. Ebenso wenig kann ich die Bewunderung des herrlichen Kriegsheeres teilen. Nachdem eines ihrer edelsten Glieder, Bonin, die hündische Gemeinheit eines Hentze gebilligt, und nachdem der Prinz von Preußen, das Ideal dieses Heeres, die denkwürdigen Worte gesprochen: Ich werde mit Ihnen Front machen, nach welcher Seite hin es unser Herr gebietet – da kann ich über dieses, der Theorie nach sicher auf einer herrlichen demokratischen Idee ruhende Heer nicht anders urteilen als: Es ist der würdige Nachfolger jener heimatlosen Landsknechte, die mit der gleichen gedankenlosen Tapferkeit für die Lilien wie für den Doppeladler fochten."

Die „hündische Gemeinheit" des Hentze bezog sich auf die infame Lockspitzelrolle, die der preußische Leutnant Hentze in dem Prozess gegen Ladendorf und Genossen gespielt hatte; da in Offizierskreisen die höchst unpatriotische Meinung auftauchte, dass Hentze dadurch „des Königs Rock" geschändet habe, so bekundete nicht nur ein unzurechnungsfähiger Gamaschenknopf wie Feldmarschall Wrangel, sondern auch der „liberale" Kriegsminister v. Bonin in öffentlichen Armeebefehlen, dass Lockspitzelei und Offiziersehre sich sehr wohl miteinander vertragen.

Treitschke meinte, dass ihn nur ein „geringer" Unterschied von der Demokratie trenne; vor allem ihr „Pessimismus", der sie auf jedes Programm verzichten lasse. Äußerliche Gründe hätten ihn nicht von ihr ferngehalten; mit seinem elterlichen Hause und dem ganzen Kreise, worin er aufgewachsen war, kam er durch seine nationale Gesinnung in viel schärfere Konflikte als durch seine liberale und als er selbst durch eine demokratische Gesinnung gekommen sein würde. Ähnlich stand es mit seinen Aussichten in seinem Heimatland; er wusste, dass er sich mit dem schroffen Hervorkehren seiner nationalen Gesinnung an der Leipziger Universität unmöglich machte, was er denn auch bald nach seiner Habilitation als Privatdozent erfuhr, an derselben Universität, die den demokratischen Professor Wuttke ruhig duldete. Noch mehr verscherzte er sich jede Aussicht auf eine Beamtenlaufbahn; statt sich dem Dresdener Leben anzupassen, ließ er sich durch dessen völlige Nichtigkeit vielmehr in seinen rebellischen Ansichten bestärken. „Wenn ich diese frivole Borniertheit sehe, womit mir z. B. neulich ein Verwandter (eine Zierde vornehmer Kreise) riet, statt der Dozentenkarriere, die sich für Leute ,von Erziehung' nicht passe, doch lieber die Stallkarriere zu ergreifen; wenn ich bedenke, wie selbst der bessere Teil dieser Kreise zwar zu viel Takt hat, um diesem Heroismus der Dummheit beizustimmen, aber im stillen doch keine andere adlige Beschäftigung anerkennt als den Mistwagen und den Exerzierstock; wenn ich diesen kindlichen Eifer sehe, womit man jeden Schritt und Tritt der .Herrschaften' vergöttert; oder gar wenn ich mein besseres Selbst ausziehe und mich in die unergründliche Weisheit sächsischer Regierungsblätter vertiefe – dann habe ich zwar alle Ursache, empört zu sein, aber doch den stillen Triumph, dass ich recht habe!" Mit diesen Bildern unerhörter Verderbtheit, einer Knechtsgesinnung ohnegleichen vor Augen, haderte Treitschke mit seinem Schicksal, dass er sich sein Brot nicht anders werde verdienen können als auf dem Tummelplatz der Lüge, den man Staatsdienst nenne.

Der preußischen Regierung hielt er deshalb nicht weniger den Spiegel vor als der sächsischen. Als das Ministerium Manteuffel im Jahre 1855 die berüchtigte Landratskammer zusammengebracht hatte, durch die ehr- und schamlosesten Wahlbeeinflussungen, deren die Regierung sich gar noch öffentlich rühmte, schrieb Treitschke: „Unsittliche Mittel sind oft genug von gekrönten Sündern, konstitutionellen und absoluten, gebraucht worden, das ist nichts Neues. Aber stets hat man sie verleugnet; dass sie eingestanden und unter dem Jubel einer Volksvertretung verteidigt werden – das ist ein Zynismus, für den sich weder in der Geschichte der Stuarts noch unter den Bourbonen Analogien finden … Ob das Schicksal unseres Vaterlandes sich auf gesetzlichem Wege wird ändern lassen – das ist eine Frage, die mir immer unklarer wird. Ein paar Gedanken drängen sich mir immer wieder auf; der englische Grundsatz: Sofortige Selbsthilfe bei jedem Unrecht von oben ist nicht nur, wie Macaulay sagt, der Grundpfeiler der englischen Freiheit und der Stolz jedes Briten, sondern das notwendige Ergebnis jeder hohen Volksbildung. Ferner: Es ist eine unbezweifelte historische Tatsache, dass jede Bewegung in einem Volke gewaltsamer ist als die Richtung, welche sie bekämpft und lange geduldet hat. Wenn ich nun denke, dass die gegenwärtigen deutschen Verhältnisse nicht dauern können, weil sie im lächerlichsten Kontrast zu unseren Volksbedürfnissen stehen; wenn ich ferner denke, dass das Maß der Rechtsverhältnisse jetzt ziemlich erschöpft ist und nur noch durch blutige Mittel überboten werden kann – wer mag da noch so blind sein, an eine friedliche Lösung zu glauben?" So kommt der junge Treitschke wieder und wieder auf die Revolution zurück, die er doch niemals verstand und auch niemals verstehen konnte.

Zur Zeit, wo der spätere Treitschke den Sozialismus in gehässiger Weise bekämpfte, meinte ein Arbeiterblatt, er sei selbst ein Schwurzeuge gegen die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft, denn wenn er nicht der Sohn eines Generals wäre, hätte ein solcher Dummkopf nicht studieren dürfen. Treitschke besaß Humor genug, über den ungehobelten Scherz zu lachen; immerhin – die Briefe aus seiner Jugend zeigen in fesselnder und manchmal ergreifender Weise, wie auch der aufrichtige und kräftige Charakter, der ehrlich mit seinem Schicksal ringt, doch in die sozialen Schranken gebannt bleibt, worin er lebt.

1 Am 2. Mai 1815 weigerte sich eines der sächsischen Grenadierregimenter, die "in Lüttich bei der Armee Blüchers standen, sich entsprechend der auf dem Wiener Kongress seit dem Februar ausgehandelten Teilung Sachsens nach der nunmehrigen neuen (sächsischen oder preußischen) Staatsangehörigkeit teilen zu lassen. Sieben Mann wurden erschossen.

3 Während des kurhessischen Verfassungsstreites stießen am 8. November 1850 bei Bronzell (bei Kassel) die bayrisch-österreichischen und preußischen Vortruppen zusammen. Es wurden fünf österreichische Jäger und ein preußisches Trompeterpferd verwundet („der Schimmel von Bronzell").

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