Franz Mehring 18950102 Treitschkes „Deutsche Geschichte"

Franz Mehring: Treitschkes „Deutsche Geschichte"

Januar 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 460-464, 498-505. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 461-476]

I

Seit fünfzehn Jahren ist Treitschkes „Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert" bis zum fünften Bande gediehen, ohne bisher in der „Neuen Zeit" anders als beiläufig erwähnt worden zu sein. Ob sie überhaupt eine ausführlichere Erörterung in diesen Blättern verdient, ist nach unserer Ansicht eher zu verneinen als zu bejahen. Ihr wissenschaftlicher Wert beschränkt sich darauf, dass sie eine Menge archivalischer Mitteilungen enthält, welche die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts näher zu beleuchten geeignet sind, soweit diese Mitteilungen durch sonst bekannte Tatsachen auf ihre Richtigkeit kontrolliert werden können. Prüft man die Art, wie Treitschke mit den gedruckten Quellen umspringt – und wir werden gleich einige Proben davon geben –, so darf man ihm leider auf sein ehrliches Gesicht nicht eine Silbe von dem glauben, was er aus ungedruckten Quellen beibringt. Man muss es erst einer kritischen Prüfung unterwerfen, ehe man es annehmen oder ablehnen oder als ungewiss dahinstellen kann. Dieser mühsamen und oft sehr undankbaren Arbeit kann sich aber nur der unterziehen, der über die deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts selbständige Studien gemacht hat; für den, der sich über den Hergang der Dinge überhaupt erst unterrichten will, hat Treitschkes Darstellung höchstens die Bedeutung eines historischen und in seinem eintönigen Pathos oft sehr einschläfernden Romans.

Schrumpft somit der wissenschaftliche Wert zusammen, den Treitschkes „Geschichte" im günstigsten Falle beanspruchen kann, so ist es auch mit ihrem typischen Wert nicht allzu weit her. Man darf die bürgerliche Geschichtsschreibung nicht ohne weiteres verantwortlich machen für Treitschkes Art, Geschichte zu schreiben. Wir denken dabei gar nicht einmal an Lamprechts „Deutsche Geschichte" oder ähnliche Werke, die sich mehr oder weniger dem historischen Materialismus nähern. Auch die jüngeren Borussen, wie Hans Delbrück und Max Lehmann, sind im Allgemeinen solcher Dinge unfähig, wie sie für Treitschke zum täglichen Brot gehören. Gerade von bürgerlicher Seite sind Treitschkes frühere Bände schon einer vernichtenden Kritik unterzogen worden, so der zweite Band von Baumgarten, der vierte von Nerrlich. Um so überflüssiger erscheint es, sich in der sozialistischen Presse noch allzu lange bei dem übertägigen Weske aufzuhalten. Wenn wir dennoch mit dem fünften Band eine Ausnahme machen und ihn etwas eingehender betrachten, so geschieht es wesentlich aus zwei Gründen: Einmal findet er in der Tagespolitik einen lebhaften Nachhall, und dann kommt er der Geschichte des deutschen Sozialismus ins Gehege und verunglimpft einige Männer, die unserem Herzen teuer sind, in so ungezogener Weise, dass ein völliges Schweigen dazu leicht missverstanden werden könnte. Was den ersten Punkt anbetrifft, so haben wir schon vor einigen Wochen auf die in ihrer Art diabolische Geschicklichkeit hingewiesen, womit Treitschke den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. als Bahnbrecher der Märzrevolution mit handgreiflichen Spitzen auf die Gegenwart darstellt. Gewiss war Friedrich Wilhelm IV. ein Bahnbrecher der Märzrevolution; es ist sogar das weitaus Beste, was an ihm gerühmt werden kann. Mag nun Treitschke auch von seinem Standpunkt aus darin ein großes Unglück sehen, so ist er doch weit entfernt, den Dingen mit irgendwelcher Unbefangenheit auf den Grund zu gehen. Was er an Friedrich Wilhelm IV. tadelt, läuft darauf hinaus, dass dieser König in seiner Art ein beweglicher und geistreicher Mensch war, weder ein so unheilbarer Schwachkopf wie sein Vater Friedrich Wilhelm III., noch ein so beschränkter Reaktionär wie sein Bruder, der spätere König Wilhelm I. Vor diesen beiden, die doch auch ihr reichliches Verdienst an der Märzrevolution haben, schwingt Treitschke das Weihrauchfass mit betäubendem Lärm. Nach Treitschkes Ansicht scheint das monarchische Handwerk nicht ohne ein beträchtliches Maß von Geistesträgheit segensreich ausgeübt werden zu können. Wir erlauben uns kein eigenes Urteil in einer Frage, in der wir so gänzlich unzuständig sind; dem Eifer, womit Treitschke seine Ansicht verficht, können wir aber unsere Anerkennung nicht versagen.

Ohne Zweifel bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm II., dem gegenwärtigen Kaiser: Schon die richtige Beherrschung ihrer Muttersprache unterscheidet sie grundtief von den sonstigen Hohenzollern; sie teilen diesen Vorzug nur noch mit dem Kaiser Friedrich. Merkwürdig aber, dass gerade die Proben einer doch unzweifelhaft anerkennenswerten Fähigkeit den Zorn der Treitschke und Genossen erregen, wie das Tagebuch Kaiser Friedrichs, so die Reden Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms II. Ist es denn wirklich der Beruf der Fürsten, „stumme Hunde" zu sein? Doch, wie gesagt, wir wollen nicht über Dinge reden, von denen wir nichts verstehen. Wir führen diese Ähnlichkeit nur an, um den Wert von Treitschkes Anspielungen zu kennzeichnen. Er selbst mag bestreiten, solche Anspielungen gemacht zu haben; gleich dem Fuchs, der vorsichtig die eigene Fährte verwischt, benutzt er die Erwähnung des „Julian Apostata" von David Strauß, um das boshafte Anspielen und versteckte Anwinken zu tadeln als ein schlechtes Handwerk, das sich mit der Würde der Geschichte nie vertrage. Das ist sehr hübsch gesagt, aber in dem besonderen Falle durchaus nicht beweiskräftig. Weder was Strauß noch was Treitschke anbetrifft. Wir sind auch keine Freunde des Anspielens und Anwinkens, nicht einmal für die Politik, geschweige denn für die Historie; wenn man noch in ehrlichem Deutsch sagen kann, was man zu sagen hat, soll man es auch so sagen, und ein kleines Endchen von Pressfreiheit haben wir heute ja noch in Deutschland, wenn auch morgen vielleicht nicht mehr. Strauß aber schrieb unter der Zensur, und soweit ihm die Spielraum ließ, machte er nicht das geringste Hehl daraus, wen er mit dem „Romantiker auf dem Throne der Cäsaren" meinte. Treitschke dagegen war durch nichts gezwungen, über Friedrich Wilhelm IV. in einem Tone zu schreiben, der nun schon seit Wochen die freisinnige Presse befähigt, lange Zitate aus seinem fünften Bande als feurige Proteste gegen die neuesten Ministerwechsel abzudrucken.

Leser, welche nicht dazu verdammt sind, berufsmäßig freisinnige Blätter zu lesen, fragen vielleicht verwundert: Wie kommen Treitschke und die freisinnige Presse zusammen? Je nun, das ist ein neuer und sehr schlagender Beweis von der Konfusion, die dabei herauskommen muss, wenn man die Geschichte der vierziger Jahre schreibt mit schielendem Hinblick auf die Geschichte der neunziger Jahre. Treitschkes Vorrede ist vom 10. August vorigen Jahres datiert, also aus einer Zeit, wo Caprivi noch auf festen Füßen stand. Und die Ära Caprivi war Treitschkes Kummer. Er hat ihr einmal zum Vorwurf gemacht, dass sie in allem das Gegenteil von dem tun wolle, was die Ära Bismarck getan habe. Das war leider nicht richtig, aber doch auch nicht ganz falsch. Die ärgsten Auswüchse der Brutalität und Korruption, welche das System Bismarck verunziert hatten, wollte Caprivi allerdings kappen und hat er auch mehr oder weniger gekappt. Von daher fließen Treitschkes Tränen. Aber kaum hatte sein Buch das Licht der Welt erblickt, als Caprivi stürzte und Kontredampf zurück nach den schönen Gestaden der Ausnahmegesetze gegeben wurde. So setzte sich an die Tafel, die für Bismarcks getreuen Mob gedeckt war, vergnügt schmausend das Trauergefolge, das eben von Caprivis Leichenbegängnis heimkehrte. Ein tragikomisches Schicksal für Herrn von Treitschke! Aber das kommt davon. Thucydides wollte ein Werk von bleibender Bedeutung schaffen, keine Streitschrift für den flüchtigen Leser; Treitschke verfährt als Historiker umgekehrt und hat zum Schaden den Spott.

Natürlich bewundern wir deshalb nicht die Ungeniertheit, womit die ungeladenen Gevattern der freisinnigen Presse an Treitschkes Tafel hausen. Die Art, wie er in seinem fünften Bande die Opposition der vierziger Jahre behandelt, wie er beispielsweise Johann Jacoby schmäht, sollte liberale Leute von einigem Selbstbewusstsein hindern, von seinen geistigen Brosamen sich zu nähren. Treitschke selbst, das erkennen wir gerne an, würde sich zu solcher Erniedrigung nie verstehen. Die Augen, mit denen er die Geschichte ansieht, sind höchst eigentümlich konstruiert, aber es sind immer seine eigenen Augen. Sein Ideal ist der altpreußische Staat, und dies Ideal steht ihm in seinen beschränktesten und rückständigsten Formen am höchsten. Fürsten, die in der muffigen Luft der alten Kaserne nie das geringste Unbehagen empfunden haben, stellt er hoch über die Fürsten, die gelegentlich einen Fensterflügel aufgerissen haben, um einen Atemzug frische Luft zu schöpfen. Aber diese Fürsten stehen ihm immer noch hoch über den Volksmassen, die darauf bedacht waren, die verfallene Kabache abzureißen und an ihrer Stelle ein wohnliches Haus aufzurichten. Mag Friedrich Wilhelm IV. nach Treitschkes Ansicht noch so weit hinter seinem Vater und Bruder zurückstehen: er ist ihm immer gerecht, gütig, großmütig gegenüber der bürgerlichen oder gar der proletarischen Opposition. Darin ist Treitschke streng konsequent, und die Manier, in der sich jetzt die bürgerliche Opposition ungebeten bei ihm zu Gaste lädt, beweist an ihren Nachfahren allerdings den Mangel an Einsicht und Würde, den Treitschke ihren Vorfahren mit Recht oder Unrecht zum Vorwurfe macht.

Die proletarische Opposition wird sich auf so faulen Wegen nicht betreffen lassen. Sie quittiert dankend den wilden Hass, womit Treitschke sie beehrt, als eine durchaus verdiente Huldigung und braucht seine Hilfe nicht, um mit lebenden oder toten Königen fertig zu werden. Fragen wir nun aber, was die Welt dem fünften Bande Treitschkes, in dessen Mitte er die Gestalt Friedrich Wilhelms IV. rückt, an neuem Wissen über diesen König verdankt, so lautet die Antwort: sehr wenig. Dem tatsächlichen Gehalte nach gibt Treitschke kaum mehr, als was Biedermann von einem ähnlichen Standpunkte aus in viel anspruchsloserer Form und auf viel kleinerem Räume im ersten Bande seiner „Dreißig Jahre" gegeben hat, kaum mehr, als schon die alten Bände der Brockhausschen „Gegenwart" über die deutsche Geschichte der vierziger Jahre enthalten. Was Treitschke Neues in glaubhafter Form vorbringt, verändert das längst bekannte Bild nur darin, dass Friedrich Wilhelm IV. in einer ganz anderen Richtung, als Treitschke ihn verlieren machen möchte, allerdings verliert. Der König verliert durchaus nicht gegenüber seinem Bruder, dem späteren Könige und Kaiser Wilhelm I., der einfach die borniert-absolutistische Politik fortsetzen wollte und der seine stockreaktionären Tendenzen, die Treitschke trotz aller verherrlichenden Redensarten einfach anerkennen muss, mit nicht eben heldenhaften Schicksalen in den Märztagen von 1848 verdientermaßen gebüßt hat. In gewissem Sinne mag Treitschke ja recht haben, dass es mit dem damaligen Prinzen von Preußen besser gegangen wäre, als es mit dem Könige ging; vermutlich wäre es dann am 18. März nicht zu einer halben, sondern zu einer ganzen Revolution gekommen. Aber sonst braucht sich Friedrich Wilhelm IV., der doch wenigstens die Empfindung einer neuen Zeit hatte, in keiner Weise vor seinem Bruder zu verstecken.

Worin er tatsächlich verliert, das ist in seinem Verhältnis zum Volke. Da zeigt er eine Gehässigkeit, eine Grausamkeit, eine Tücke, die wenig von dem romantischen Schimmer übrig lassen, der ihn bisher zu umgeben schien. Der Gottesgnaden-Dünkel beherrschte ihn nicht in irgendeinem religiösen, sondern in ganz gewöhnlich sultanischem Sinne. Wie oft ist die lange und brünstige Rede, womit er den Vereinigten Landtag eröffnete, das geflügelte Wort von dem Blatte Papier, das sich nicht zwischen unseren Herrgott und dies Land drängen solle, als ein Beweis für sein sozusagen tragisches Schicksal angezogen worden! Aber die Tragik verfliegt bis auf die letzte Spur, wenn man bei Treitschke den gleichzeitigen Brief des Königs an Bunsen liest, worin es heißt: „Der sehr kurze Sinn der sehr langen Rede, die ich gesprochen, aber nicht gelesen habe, ist der: Man wäre ein siebenfaches Rindvieh, erstens eine Verfassung zu fordern, zweitens ein noch viel größeres, eine Verfassung zu geben – wenn man schon eine hat." Nach solchen Offenherzigkeiten in diesem Könige noch einen tragischen Romantiker zu erblicken oder gutmütigerweise anzunehmen, ihm sei zu viel geschehen bei den bitteren Demütigungen, die ihm die siegreichen Massen nach dem 18. März auferlegten, dazu müsste man allerdings, um in dem geschmackvollen königlichen Vergleiche zu bleiben, ein siebenfaches Rindvieh sein.

Wir übergehen alles andere, was uns in dem fünften Bande Treitschkes zur Kritik herausfordern könnte. Es ist kaum eine kontrollierbare Seite des Buchs, auf der sich ihm nicht mindestens eine, oft aber ein halbes Dutzend tendenziöser Auslassungen oder Entstellungen nachweisen ließe. Hätten wir selbst Neigung, Raum und Zeit, dies weitläufige Exerzitium zu korrigieren, so wäre die Arbeit doch ganz zwecklos. Treitschke befindet sich auf einem Standpunkte der Rückständigkeit, vor dem für den modernen Kulturmenschen überhaupt die Diskussion aufhört. So erwecken die Verbesserungen, die der Kultusminister Altenstein in den zwanziger und dreißiger Jahren dem preußischen Volksschulwesen angedeihen ließ, fast die einzige Lichtseite der jammervollen preußischen Verwaltung der damaligen Zeit, in Treitschke einen – Stoßseufzer nach den schulmeisternden Unteroffizier-Invaliden der friederizianischen Zeit. „Sie hatten geholfen", so schreibt er wörtlich, „ein dürftig unterrichtetes, aber frommes, pflichtgetreues, zufriedenes Geschlecht zu erziehen; in der verbesserten Volksschule wirkten neben den aufbauenden auch zersetzende und zerstörende Kräfte." Treitschke versteht darunter die Unzufriedenheit der Lehrer mit ihrer kläglichen Besoldung, über die er selbst schreibt: „Gehalte von fünfzig bis hundert Talern jährlich waren nicht selten, selbst die alte bettelhafte Unsitte des Reihetisches bestand noch in einzelnen abgelegenen Gegenden." Ein Universitätslehrer, der dieses Dilemma durch die Rückkehr zu den Unteroffizier-Schulmeistern des alten Fritz beseitigen will, gehört nicht zu den Leuten, mit denen sich überhaupt noch streiten lässt. Wir begnügen uns, der Reaktion unseren aufrichtigen, durch keinerlei Neid getrübten Glückwunsch zu diesem Kündiger ihrer trautesten Geheimnisse auszusprechen.

Wohl aber möchten wir noch mit einigen Worten auf das eingehen, was Treitschke über die Geschichte des deutschen Sozialismus, über Männer wie Johann Jacoby und Heinrich Heine, zu sagen hat.

II

Für Treitschke ist der Sozialismus selbstverständlich ein heilloser Unsinn. Als Publizist hat er ihn seit zwanzig Jahren unzählige Male verdonnert, wie männiglich bekannt ist. Es wäre unbillig, wenn wir diese unfreiwillige, aber wirksame Förderung der sozialistischen Propaganda unterschätzen wollten. Dagegen brauchen wir es nicht als unser Voll zu nehmen, wenn Treitschke als Historiker uns sein Urteil über den Sozialismus in der Form eines Extrakts aus seinen publizistischen Scheltreden vorsetzt.

Eine wissenschaftliche Geschichte der vierziger Jahre hat auseinanderzusetzen, woher der deutsche Sozialismus, heilloser Unsinn wie er sein mag, damals entstanden ist, aus welchen Gedankenkeimen, aus welchen tatsächlichen Zuständen heraus er sich entwickelt hat, was er gewollt und was er nicht gewollt hat. Mag Treitschke ihn verdonnern, wenn er ihn erklärt hat: In diesem harmlosen Vergnügen wollen wir ihn nicht stören. Jedoch wer eine historische Erscheinung, sie sei welche sie wolle, nur mit Schmähworten zu überhäufen, aber ihre historischen Wurzeln nicht aufzudecken weiß, der sollte sich als Historiker lieber begraben lassen.

Die tiefe Verachtung, die Treitschke dem Sozialismus widmet, veranlasst ihn, diese geistige Erkrankung ebenso kurz wie grob zu behandeln, und wir können die Proben ziemlich unverkürzt geben. Zuerst erwähnt er Marx, wo er von der „Rheinischen Zeitung" spricht. Er benutzt „eine Aufzeichnung des Herrn Geheimrats v. Mevissen in Köln", um uns mitzuteilen, dass Marx sich eines ungewöhnlichen Reichtums an schwarzen Haaren erfreut habe, was wohl auf einen ungewöhnlichen Reichtum an schwarzen Plänen deuten soll, die unter diesen Haaren ausgebrütet worden seien. Nach diesem symbolischen Auftakt wird die landesübliche Schimpfsalve abgebrannt: frecher, junghegelianischer Kritiker, herrisch, ungestüm, leidenschaftlich, unermessliches Selbstgefühl, jüdischer Scharfsinn. Darnach will Treitschke aber doch ein Übriges tun und haut glücklich daneben, wie gewöhnlich, wenn er sich aus dem Reiche seiner Phantasien in die Nähe von Tatsachen begibt. Er sagt, Marx sei tief ernst und gelehrt gewesen, ein rastloser Dialektiker, der jetzt schon durch strenge volkswirtschaftliche Studien seinen Übergang zum Kommunismus vorbereitet habe. Hätte Treitschke die „Rheinische Zeitung", ehe er über sie schrieb, einmal angeblättert, etwa die Aufsätze von Marx über die Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags oder seine Polemik mit der „Augsburger Allgemeinen Zeitung" über den französischen Kommunismus1, so würde er wissen, dass Marx damals noch reiner Hegelianer war, sich noch nicht, wie er selbst mit seiner charakteristischen Ehrlichkeit hervorhob, mit ernsten, volkswirtschaftlichen Studien abgegeben hatte, am wenigsten für den Zweck, seinen „Übergang zum Kommunismus" vorzubereiten, dem er durchaus kritisch gegenüberstand. Freilich sprach er die Absicht aus, die Schriften von Considerant, Leroux und Proudhon erst gründlich zu studieren, ehe er über sie aburteile, und das mag für die „historische Wissenschaft" des neuen Deutschen Reichs, die ihre gänzliche Unkenntnis des Sozialismus für die erste Vorbedingung seiner endgültigen Verdonnerung hält, eine „Dialektik" von einer wahrhaft verbrecherischen „Rastlosigkeit" sein.

Ein paar Seiten nach der „Rheinischen Zeitung" misshandelt Treitschke die „Deutsch-Französischen Jahrbücher". Zu seiner Ehre muss man annehmen, dass er auch sie nicht einmal angeblättert hat, denn die Aufsätze von Marx und Engels, die dieser Zeitschrift ihre eigentümliche Bedeutung geben, erwähnt er mit keiner Silbe. Der einzige Satz, den er daraus zitiert, stammt aus einem Briefe Ruges, den dieser später in seine gesammelten Schriften aufgenommen hat, und in diesen Schriften hat Treitschke allerdings, wie sich noch zeigen wird, gelegentlich geblättert. Von einer Kritik der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" ist natürlich mit keiner Silbe die Rede. Treitschke brennt auf Ruge eine Salve von Schimpfworten ab: Lästerungen, Schmähreden eines schamlosen Thersites, seichte und freche Kraftworte, gottlose Doktrinen, erklärt dann aber auch mit verblüffender Wendung Ruge für einen „grundehrlichen Polterer". Wir werden sehen, weshalb Treitschke so – grundunehrlich poltert.

Abermals eine Strecke weiter kommt Treitschke auf die „Lage der arbeitenden Klasse in England"2 zu sprechen. Er schreibt das Urteil ab, das sich seit vierzig Jahren in den Kompendien der Vulgärökonomie abgeleiert hat: geistreiches gründliches Buch, im Einzelnen parteiisch übertreibend, im Wesentlichen wahrheitsgetreu. Ein Versuch, aus eigenem etwas zuzufügen, verläuft wieder sehr unglücklich. Treitschke sagt, der junge Rheinländer Engels sei nach London gegangen, um die Macht und die Niedertracht der modernen Großindustrie an der Quelle kennenzulernen. Hätte er die „Lage" einmal angeblättert, so würde er wissen, dass Engels von Berufs wegen in Manchester lebte und von hier, nicht von London aus die englischen Arbeiterzustände studierte. Dann heißt es weiter: „Späterhin traten Engels und Marx in den großen internationalen Arbeiterbund, der einst durch den Deutschen Schapper in London gestiftet und mittlerweile stark angewachsen war. Marx war jetzt schon so weit, dass er Religion, Staat, Recht, jede göttliche und menschliche Ordnung verwarf. Im Anfang 1848 entwarfen die beiden Freunde gemeinsam das .Manifest der Kommunistischen Partei', das den Umsturz der Gesellschaft, Enteignung der Grundeigentümer, Abschaffung des Erbrechts forderte und rundweg aussprach: Wir unterstützen jede revolutionäre Bewegung! Das Kernwort lautete: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Das Programm des internationalen Umsturzes war aufgestellt, und seine Urheber waren zwei vaterlandslose Deutsche." Wir haben diese Sätze wörtlich angeführt, weil wir damit zugleich ihre kürzeste und vernichtendste Kritik liefern. Jedes weitere Wort wäre, um mit Treitschke zu reden, eine sündhafte Verschwendung. Was er über den Ursprung des wissenschaftlichen Sozialismus beibringt, füllt kaum eine von seinen fast achthundert Druckseiten, in denen der erbärmlichste Hofklatsch und Hofskandal oft bogenlang breitgetreten wird, die entsetzlichen Geisteskrüppel des preußischen, die spanischen Tänzerinnen des bayerischen Hofes seitenlang geschildert werden.

Ebenso wie Marx und Engels werden natürlich auch sonst die „frechen Junghegelianer" abgetan. Über Stirners Schrift heißt es: „Sie zertrümmerte Geist und Menschheit, Recht und Staat, Wahrheit und Tugend als Götzenbilder der Gedankenknechtschaft und bekannte frei: Mir geht nichts über Mich!" Damit basta. Stirner war also „soweit" wie Marx; in der Nacht dieser Unwissenheit sind alle junghegelschen Katzen grau. Von Bruno Bauer weiß Treitschke zweierlei. Wegen seiner Evangelienkritik habe ihn die Theologie „unmöglich" in ihren Reihen dulden können; er sei also mit Recht als Privatdozent gemaßregelt worden. Darauf habe „der Entlassene" den Bund „der Freien" gestiftet, der selbst den Ekel des radikalen Ruge erregte. Nun wissen Treitschkes Leser, wer Bruno Bauer war! Schlagen wir die Stelle bei Ruge nach, auf die Treitschke sich bezieht, so lautet sie in einem Privatbriefe Ruges an Prutz vom 18. November 1842: „Um in meiner Litanei fortzufahren, so muss ich Dir erzählen, dass ich die Berliner Freien als die ekelhaftesten Renommisten, die Gott oder ihre eigene Blasiertheit geschaffen hat, kennengelernt. Leider stimmt auch der alte Bauer in diesen Ton ein, und ich habe vergeblich die gröbsten Philippiken gegen sie losgelassen. Halb und halb hab' ich ihre Gesellschaft gesprengt, aber es wird nichts nutzen. Man kann ihnen keine neue Seele einsetzen. Dieses hohle, eitle, dumme, geniale, renommistische, blasierte, von allem honetten Pathos entlöste Unwesen verstimmte mich mehr als die allgemeine Niederträchtigkeit und Aberweisheit des Berliner Lebens, in dem doch am Ende eine solche Frucht wurzelt." Wir kommen noch darauf zurück, dass und weshalb Ruges Urteile namentlich in seinen vertraulichen Briefen nur einen sehr bedingten Wert haben, aber man nehme die Worte, wie sie sind, und stelle daneben, was Treitschke daraus gemacht hat: „Der Entlassene stiftete alsbald in Berlin mit seinem Bruder Edgar und einigen anderen Wortführern der souveränen Kritik einen Bund ,der Freien', der durch seine bodenlose Frechheit, seine Lästerungen, Zoten und Unflätereien selbst den Ekel des radikalen Ruge erregte", und man hat einen Begriff von den „abschließenden" und „maßgebenden" Urteilen dieses Historikers über die hervorragenden Träger der deutschen Geistesgeschichte.

Gegen Johann Jacoby – wohlgemerkt den Johann Jacoby der „Vier Fragen", die in den bescheidensten und maßvollsten Formen nichts weiter verlangten als die Ausführung eines königlich-preußischen Gesetzes aus dem Jahre 1815, die Einlösung des königlichen Wortes, das für eine preußische Verfassung verpfändet war – brennt Treitschke folgende Schimpfsalve ab: vordringliche Dreistigkeit, zeternder Wucherer, der Gedanke, eine Revolution zu entfesseln, hatte für ihn keine Schrecken, wer anders dachte, war dem Fanatiker kaum mehr denn ein Tor oder ein Schurke. Doch das wäre das wenigste; es wäre ein Pech für Jacoby, wenn er von Treitschke besser behandelt würde, als sonst die ehrlichen Leute der vierziger Jahre von ihm behandelt werden. Ganz anders steht es aber mit Folgendem. Der schändliche Versuch Friedrich Wilhelms IV., Jacoby wegen der „Vier Fragen" um Ehre und Freiheit zu bringen, scheiterte schließlich an einem weißen Raben unter den preußischen Richtern, dem alten Grolman, der lieber sein Amt preisgab als seine Ehre. In erster Instanz zu entehrender Festungsstrafe verurteilt, wurde Jacoby in zweiter Instanz vollständig freigesprochen. Die Wut des Königs war grenzenlos. Sie entlud sich u. a. darin, dass die Urteilsgründe zweiter Instanz nicht an Jacoby mitgeteilt werden sollten, worüber Treitschke sagt: „Eine Abschrift dieser Urteilsgründe wurde dem Freigesprochenen, gemäß den Grundsätzen des geheimen Gerichtsverfahrens, nicht mitgeteilt, weil man voraus wusste, dass er alles sofort veröffentlichen würde. Auch der König verweigerte, trotz der dringenden Bitte Jacobys, die Erlaubnis dazu." Wir wollen mit Treitschke nicht über den Grund rechten, durch den er den tückischen Streich des Königs zu rechtfertigen sucht. Anders als sonst in Menschenköpfen malt sich in diesem Kopfe die Welt, und in den Augen preußischer Hofhistoriographen mag es an Hochverrat und Majestätsverbrechen streifen, wenn ein ungerecht angeklagter und in erster Instanz zu entehrender Strafe verurteilter Staatsbürger die freisprechenden Urteilsgründe der zweiten Instanz seinen Mitbürgern mitzuteilen wünscht. Aber es ist denn doch ein starkes Stück, wenn Treitschke sich zu der Behauptung versteigt, der König habe „gemäß den Grundsätzen des geheimen Gerichtsverfahrens" gehandelt. Nein, der König brach wissentlich das Recht des Landes, um aus sultanischer Laune einen Ehrenmann zu misshandeln. In der Eingabe Jacobys an den König vom 25. April 1843 ist das Ministerialreskript vom 12. November 1831 angezogen, welches weitläufig die „Grundsätze des geheimen Gerichtsverfahrens" in dieser Beziehung auseinandersetzt und mit den Worten schließt: „Es ist demnach jeder Angeschuldigte befugt, auf seine Kosten eine Abschrift oder Ausfertigung der wider ihn ergangenen Kriminal-Erkenntnisse mit den dazu gehörigen Gründen, soweit sie ihn betreffen, zu verlangen, und weist demnach das Justizministerium sämtliche königliche Gerichtsbehörden hierdurch an, für die Folge hiernach zu verfahren." Auf diese Eingabe erhielt Jacoby vier Monate später eine Antwort des Justizministeriums, worin ihm „in Folge Allerhöchsten Befehls eröffnet" wurde, „dass Se. Majestät der König sich nicht bewogen gefunden haben, Ihrem Gesuche stattzugeben". Die Dreistigkeit, diese ordre du Mufti3 als im Einklänge mit dem bestehenden Kriminalrecht darzustellen, besaß weder der König noch das Justizministerium. Das ist ein Monopol des Herrn v. Treitschke.

Ganz unzurechnungsfähig wird Treitschke, sobald er auf Heine zu sprechen kommt: Hier brennt er Schimpfsalven ab, gegen die alles, was er gegen Marx oder Bruno Bauer oder Jacoby sagt, noch als eitel Lobgesang erklingt. Ein Ham, der seines Vaters Scham entblößt, blödsinniges Wutgeheul jüdischen Hasses, orientalisches Marktgeschrei, sodomitische Schmutzereien usw. usw. Es ist eine geradezu kindische Wut, kindisch namentlich auch in dem Bestreben, aus Heine einen „Franzosen" zu machen. Nicht genug, dass dieser Quark im Texte selbst schon breitgetreten wird: Treitschke fügt dem fünften Bande noch eine besondere Beilage hinzu, um denselben Quark noch einmal zu zerstampfen. Im Jahre 1854 hat Heine sich ausführlich über seine sozusagen offiziellen Beziehungen zu Frankreich ausgelassen. Er wiederholt in dem Aufsatze die schon früher über seine französische Pension abgegebene Erklärung: „Ich nahm solche Hilfsgelder in Anspruch kurz nach jener Zeit, als die bedauerlichen Bundestagsdekrete erschienen, die mich, als den Chorführer eines sogenannten Jungen Deutschlands, auch finanziell zu verderben suchten, indem sie nicht bloß meine vorhandenen Schriften, sondern auch alles, was späterhin aus meiner Feder fließen würde, im Voraus mit Interdikt belegten und mich solchermaßen meines Vermögens und meiner Erwerbsmittel beraubten, ohne Urteil und Recht." Über seine angebliche Naturalisation in Frankreich fügt Heine hinzu: „Ich will heute rücksichtslos bekennen, dass ich mich nie in Frankreich naturalisieren ließ, und meine Naturalisation, die für eine notorische Tatsache gilt, dennoch nur ein deutsches Märchen ist. Ich weiß nicht, welcher müßige oder listige Kopf dasselbe ersonnen … Aus missmutiger Fürsorge erfüllte ich einst die Formalitäten, die zu nichts verpflichten und uns doch in den Stand setzen, nötigenfalls die Rechte der Naturalisation ohne Zögernis zu erlangen. Aber ich hegte immer eine unheimliche Scheu vor dem definitiven Akt. Durch dieses Bedenken, durch diese tief eingewurzelte Abneigung gegen die Naturalisation geriet ich in eine falsche Stellung, die ich als die Ursache aller meiner Nöte, Kümmernisse und Fehlgriffe während meinem dreiundzwanzigjährigen Aufenthalt in Paris betrachten muss." Heine erzählt dann, wie oft ihm der Eintritt in den französischen Staatsdienst, namentlich von Thiers als Ministerpräsidenten, angeboten worden sei, aber er habe sich nicht zur notwendigen Vorbedingung der Naturalisation entschließen können. Er sagt: „In Bezug auf das, was wir gewöhnlich Patriotismus nennen, war ich immer ein Freigeist, doch konnte ich mich nicht eines gewissen Schauers erwehren, wenn ich etwas tun sollte, was nur halbwegs als ein Lossagen vom Vaterlande erscheinen mochte. Auch im Gemüte des Aufgeklärtesten nistet immer ein kleines Alräunchen des alten Aberglaubens, das sich nicht ausbannen lässt; man spricht nicht gern davon, aber es treibt in den geheimsten Schlupfwinkeln unserer Seele sein unkluges Wesen." Man sieht: Heine spielt sich durchaus nicht auf den deutschen Patrioten aus; er verleugnet keineswegs sein gutes Recht, sich den infamen Verfolgungen der deutschen Regierungen dadurch zu entziehen, dass er seine deutsche Staatsangehörigkeit aufgab, wie es denn selbstverständlich sein gutes Recht war; er sagt nur, der „närrische Hochmut des deutschen Dichters" habe ihn davon abgehalten, auch nur pro forma ein Franzose zu werden. Die Erklärung, von der wir hier leider nur wenige Sätze wiedergeben können, malt den ganzen Heine und trägt in jeder Silbe den Stempel der Wahrheit; seit vierzig Jahren ist ihr nie von irgendeiner Seite widersprochen worden, auch von Thiers nicht, auf den sich Heine ausdrücklich bezieht; was Treitschke über die ganze Sache in den preußischen Archiven gefunden hat, eine im Jahre 1843 erfolgte Anfrage des französischen Gesandten in Berlin, ob gegen Heines Naturalisation von preußischer Seite etwas einzuwenden sei, bestätigt zwar Heines Angabe, dass er alle Formalitäten erfüllt habe, um sich im Notfall schnell naturalisieren zu lassen, enthält aber nicht den geringsten Beweis dafür, dass die Naturalisation erfolgt sei.

Um nun aber doch das Märchen vom Franzosen Heine in die Welt setzen zu können, begibt sich Treitschke auf Wege, auf denen man einen Mitmenschen nur mit aufrichtiger Betrübnis wandeln sehen kann. Er sagt, „allem Anscheine nach" sei die Naturalisation Heines erfolgt, die französische Regierung habe Heine fortan amtlich als Franzosen behandelt. Im Einzelnen begründet er diese Ansicht wie folgt: „Als im Januar 1845 Guizot die Mitarbeiter der unterdrückten radikalen Zeitschrift .Vorwärts!', sämtliche Ausländer, auszuweisen beschloss, da wurde nur der Franzose Heine ausgenommen. A. Ruge, der damals beständig mit ihm verkehrte, schrieb in einem Briefe vom 26. Januar 1845: ,Heine ist naturalisiert, also nicht auszuweisen', und das Nämliche sagt er in seinen ,Studien und Erinnerungen aus den Jahren 1843 bis 1845' (Sämtliche Werke 5, 401). Ist es wahrscheinlich, dass Heines nächste Freunde über eine solche Frage, die im Augenblick geradezu eine Lebensfrage war, nicht Bescheid gewusst hätten? Ist es glaubhaft, dass die französische Regierung, die vor kurzem wegen Heines Naturalisation einen diplomatischen Schriftwechsel geführt hatte, sich über die Staatsangehörigkeit dieses Mannes, dessen Name in den Listen ihrer geheimen Pensionäre stand, gröblich geirrt haben sollte?" Treitschke will natürlich beide Fragen verneint wissen und erklärt für sein Teil kraft seiner „historischen Wissenschaft" die Angabe Heines: er habe sich nicht naturalisieren lassen, für eine Lüge. Sehen wir nun, wie es damit steht.

Zunächst ist es sehr irreführend, wenn Treitschke sagt, Guizot habe die Mitarbeiter des „Vorwärts!" auszuweisen beschlossen. Vor Jahren hat Kautsky schon einmal in der „Neuen Zeit" gegenüber einem Vertuschungsversuche des Herrn Georg Adler festgestellt, dass die preußische Regierung die Ausweisung betrieb und dass es ihr namentlich auf Marx ankam. Guizot, der bei aller reaktionären Gesinnung doch ein Mann von literarischer Bildung war, sträubte sich anfangs gegen den barbarischen Akt. Wie Engels mehrfach erwähnt hat, gab sich Alexander v. Humboldt zu der traurigen Rolle her, ihn zu überreden; daneben kann auch die Mitteilung Ruges zu Recht bestehen, dass die preußische Regierung aus den Artikeln des „Vorwärts!" ein Ragout herstellen und ins Französische übersetzen ließ, um es Guizot vorzulegen, der nach Kenntnisnahme des Gebräus ausgerufen haben soll: Das geht ja noch über 1789! Wie preußische Polizisten solche Ragouts herstellen, wissen wir aus den Tagen des Sozialistengesetzes, und dass diese Stützen der Gesellschaft in den vierziger Jahren von demselben Kaliber waren wie in den achtziger Jahren, wird schon durch die eine Tatsache bewiesen, dass sie Ruges Namen unter die Mitarbeiter des „Vorwärts!" einschmuggelten, obgleich Ruge mit dem Blatte und seinen Mitarbeitern in heller Feindschaft lebte. Als Ruge sich bei Guizot beschwerte, zog dieser den Ausweisungsbefehl gegen ihn zurück und schob alle Schuld auf die preußische Gesandtschaft. Siehe den Brief Ruges an den preußischen Minister des Innern, v. Bodelschwingh, vom 10. März 1846, worin er erst sagt, Guizot habe den Ausweisungsbefehl gegen ihn zurückgenommen, und dann fortfährt: „Ich erfuhr bei der Gelegenheit in den Büros und Salons, dass Herr Guizot zu der Vertreibung der deutschen Schriftsteller durch das Andrängen der Gesandtschaft Sr. Majestät des Königs bewogen worden war, und zwar hatte zu diesem Schritte des Herrn v. Arnim das kleine Blättchen Vorwärts!' den Anlass gegeben, ein Journal, zu dessen Geranten und Redakteuren ich in prinzipieller, persönlicher, und ich brauche nicht zu sagen, auch in ästhetischer Feindschaft lebte." Genug, Guizot war in der widerlichen Affäre nicht der Schiebende, sondern der Geschobene; ihm war dabei durchaus nicht wohl zumute, und die Geschichte bekam ihm auch übel genug. Die französische Zivilisation verstand die preußische Barbarei sehr schlecht, und vor dem Sturme der öffentlichen Entrüstung zog Guizot den Ausweisungsbefehl auch gegen die wirklichen Mitarbeiter des „Vorwärts!" zurück, wogegen sie sich verpflichteten, den „Vorwärts!" nicht mehr herauszugeben, der nicht, wie Treitschke behauptet, unterdrückt, sondern mit Kautionsforderungen und dergleichen mehr schikaniert worden war. Für Guizot und seine preußischen Hintermänner mochte dieses Kompromiss um so annehmbarer sein, als Marx, der natürlich für keine Konzessionen zu haben war und deshalb von dem gewaltigen Recken Georg Adler noch jetzt den Vorwurf mangelnder „Kühnheit" erdulden muss, schon vorher Paris verlassen hatte und nach Brüssel übergesiedelt war. Der Ausweisungsbefehl gegen ihn wurde nicht zurückgenommen; Marx wurde erst von der republikanischen Regierung des Jahres 1848 in ehrenvoller Weise nach Frankreich zurückgerufen.

Treitschkes Beweisführung ist nun die: Heine war Mitarbeiter am „Vorwärts!" und stand doch nicht auf der Liste der auszuweisenden Schriftsteller, also war er naturalisierter Franzose. Nach dem, was wir eben über Guizots Stellung zu der ganzen Ausweisungsgeschichte dargelegt haben, springt die Lächerlichkeit dieser Beweisführung in die Augen. Sie hätte nur dann Hand und Fuß, wenn französische Minister verpflichtet wären, auf Geheiß der preußischen Polizei jede Brutalität auszuführen, die sie nach dem formalen Recht ihres Landes ausführen dürfen. Neben dieser geistreichen Konjektur darf sich vielleicht noch die hausbackene Annahme sehen lassen, dass Guizot, der schon sehr ungern daran ging, ein Dutzend ihm unbekannter deutscher Schriftsteller auszuweisen, sich einfach gehütet haben wird, einen deutschen Dichter von damals schon europäischem Rufe, der seit dreizehn Jahren die französische Gastfreundschaft genoss und vom französischen Volke sehr geschätzt wurde, auf einen Wink des preußischen Polizeiknüppels wie einen tollen Hund über die Grenze zu jagen. Wir geben zu, dass dies nur eine Annahme ist, eine Annahme, die zwar ungleich näher liegt als Treitschkes tiefsinnige Unterstellung, aber die mindestens in einem Falle hinfällig sein würde, in dem Falle nämlich, dass Guizot sich auch noch dazu entwürdigt hätte, Heines Namen auf die Liste zu setzen. Wäre dem so, dann käme Treitschke freilich wieder viel schlechter fort als wir: Wir hätten Guizot ein wenig überschätzt, aber Treitschkes ganze Hypothese von der Naturalisation Heines wäre in die Luft geflogen. Denn so „gröblich irren" konnten sich Guizot und seine Beamten freilich nicht, um einen naturalisierten Franzosen auf die Ausweisungsliste zu setzen.

Nun gibt es Leute oder es gibt wenigstens einen Mann, der, im Widerspruch mit anderen Zeugen, wirklich behauptet, Heine habe auf der Liste gestanden, auf der kein naturalisierter Franzose stehen konnte. Und dieser eine ist – Treitschkes Schwurzeuge für Heines Naturalisation, ist – Ruge. Die beiden Stellen, die Treitschke aus Ruges Briefen und Schriften anzieht, lauten in ihrem wirklichen Wortlaut so. Am 26. Januar 1845 schreibt Ruge an seine Mutter über die Ausweisung: „Es versteht sich, dass die Vorwärtser alle dabei sind, Heine, Marx usw. Heine glaubt es noch nicht, aber er steht auf der Liste. Er ist aber naturalisiert, also nicht auszuweisen. Die Schriftstellerei der unberufenen Schweinigel wird damit zugleich aufgehoben, und wenn Herr v. Arnim, der preußische Gesandte, mich konsultiert hätte, ich würde ihm zu diesem Schritte geraten haben." Und in Ruges Sämtlichen Werken 5, 401 heißt es: „Von mir red' ich nicht, denn Sie wissen, dass ich nicht mitgewirkt, sondern nur aus Versehen mit totgeschlagen werde. Auch Heine ist auf der Liste gewesen und German, die beide naturalisiert sind." Weshalb Treitschke diese kurzen Sätze nicht wörtlich zitiert, ist leicht einzusehen. Ihr Wortlaut zeigt, dass Ruges Ansicht über Heines Naturalisation ohne jede Beweiskraft, nichts anderes als der Nachhall eines allgemeinen Geklatsches ist. Ruge sagt dreierlei: 1) Heine steht auf der Liste; 2) Heine ist naturalisiert; 3) ich habe mit der Schriftstellerei der „unberufenen Schweinigel" Heine und Genossen nichts zu tun und bin nur aus Versehen in diese Gesellschaft geworfen worden. Mit Punkt 3 gibt Ruge zu, dass er nur vom Hörensagen über Heine spricht, und da die Produkte dieses Hörensagens, Punkt 1 und 2, sich ausschließen, da Heine nicht auf der Liste stehen konnte, wenn er naturalisiert war oder aber wenn er auf der Liste stand, nicht naturalisiert sein konnte, so sind die flüchtigen brieflichen Äußerungen Ruges ohne jeden urkundlichen Wert. Und das weiß Treitschke sehr gut.

Nun braucht er aber für seine aus den Fingern gesogene Behauptung, dass Heine naturalisiert gewesen sei, einen halbwegs namhaften Zeugen, und Ruges Punkt 2 ist ihm ein gefundenes Fressen. Er zitiert ihn also wörtlich, lässt Punkt 1 und 3 aber nicht bloß unter den Tisch fallen, sondern verkehrt sie – es ist ja nur ein Aufwaschen – in ihr gerades Gegenteil, um Punkt 2 zu stützen. Verfolgen wir einen Augenblick dies schöne Duett! Ruge: Heine stand auf der Liste der auszuweisenden Schriftsteller. Treitschke: Gewiss, der Franzose Heine war von der Liste ausgenommen. Ruge: Heine stand auf der Liste, obgleich er naturalisiert war. Treitschke: Genau was ich sage, weil Heine nicht auf der Liste stand, so ist es klar, dass er naturalisiert gewesen sein muss. Ruge: Ich hatte mit den „unberufenen Schweinigeln" nichts zu tun und wurde nur aus Versehen in ihre Gesellschaft geworfen. Treitschke: Versteht sich, Sie waren ihr nächster Freund und lebten damals in beständigem Verkehr mit ihnen. Und so mit Grazie weiter.

Doch es mag des grausamen Spiels genug sein. Nur noch ein paar Worte über Ruge, den wir durch Treitschkes Schuld in etwas zweideutigem Lichte erscheinen lassen mussten. Ruge war einerseits ein Stimmungsmensch, der sich in seinen vertraulichen Briefen je nach Laune über Freund und Feind mit den derbsten Kraftausdrücken seiner pommerschen Heimat erging, andererseits ein geborener Philister, der, durch die unergründliche Verbohrtheit der preußischen Reaktion in die radikale Opposition gedrängt, sehr bald von der politischen Entwicklung überholt wurde und nun mit der Verdrießlichkeit des verkannten Genies über Menschen und Welt herzog. Demgemäß finden sich in seinen vertraulichen Briefen bald die lobendsten, bald die wegwerfendsten Urteile über dieselben Zeitgenossen, über Herwegh, Heine, Bruno Bauer, Stirner, Marx und andere, nur dass auf die Dauer die genialsten Naturen, mit denen Ruge am wenigsten gleichen Schritt halten konnte, am schlechtesten wegkommen. Als Geschichtsquelle ist sein Briefwechsel deshalb keineswegs ganz zu verwerfen; man muss nur immer genau unterscheiden, in welcher Stimmung und Zeit, unter welchen Umständen und Verhältnissen Ruge schrieb.

Solche Unterscheidungen gehen aber über den Horizont Treitschkes. Er macht sich's bequemer. Soweit Ruge bedeutende Interessen der deutschen Nation vertreten hat, bekommt er, wie wir gesehen haben, die gebührende Ehrensalve an Schimpfworten, als schamloser Thersites etc.; soweit er über genialere Naturen lästert, wird er der „grundehrliche Polterer", der Ehrenmann, den trotz seines Radikalismus Ekel vor den „letzten Zielen seiner Kumpanei" überfällt, den sein „derber pommerscher Menschenverstand und das reizbare Ehrgefühl des alten Burschenschafters" vor dem Kommunismus bewahren, „obgleich er selbst arm blieb". Man kann die Großmut auf fremder Leute Unkosten nicht weitertreiben, als Treitschke sie treibt, indem er höchsteigenhändig Ruges Vermögen in den Schornstein schreibt, bloß damit des „armen" Ruge Abscheu vor dem Sozialismus um so glänzender hervortritt. Mit einem Worte: Treitschke treibt mit Ruge, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Schindluderchen, und das hat Ruge nicht verdient.

Ruge hat seinen bestimmten Platz in der deutschen Geistesgeschichte. Er hat ihn nicht lange zu behaupten gewusst, aber ganz hat er die Erinnerungen seiner Jugend doch nie vergessen. Sobald er die Geistesgrößen des neuen Deutschen Reichs auftauchen sah, wurde der Geist der „Halleschen Jahrbücher" wieder in ihm lebendig, und seine Urteile über sie waren von ganz einseitiger und deshalb sehr wohltuender Frische. Als der Historiker Treitschke zuerst in seinen Gesichtskreis trat, schrieb er: „v. Treitschke! ei Herr Jäses, was für ein Getratsche! Was für ein eingebildeter, ungebildeter, von Stichworten ohne Verstand vollgetrichterter …! Als Autor und einer, der über Philosophie und Geschichte mit Autorität reden will, ist er zu nichts gut als zur Vogelscheuche!" Soviel zur Ehrenrettung Ruges. Unser eigenes Urteil über Treitschkes Geschichtsschreibung in ein Kern-und Kraftwort zusammenzufassen, unterlassen wir gerne.

3 Ordre du Mufti (franz.) – Der Rechtsspruch des Mufti (arabisch: Rechtsprecher). Der Mufti ist in den islamischen Ländern der Rechtsgelehrte, der das Recht nach dem Koran und den Hadis (Traditionen) auslegt und sogenannte Feteras (religiös-gesetzliche Gutachten) abgibt, nach denen der Kadi (Richter) das Urteil fällt.

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