Franz Mehring 18990201 Treitschkes Vorlesungen

Franz Mehring: Treitschkes Vorlesungen

1. Februar 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 609-612. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 477-481]

Aus dem Nachlass Treitschkes haben seine Freunde die Vorlesungen über Politik herausgegeben, die der verstorbene Historiker über dreißig Jahre lang erst in Freiburg und in Heidelberg und dann in Berlin regelmäßig jeden Winter zu halten pflegte. Es sind zwei ziemlich starke Bände, die S. Hirzel in Leipzig herausgegeben hat. Ihre literarische Besprechung, die ohnehin an eine andere Stelle der „Neuen Zeit" gehören würde, soll hier nicht gegeben werden; sie würde sich auch kaum lohnen; denn die beiden Bände enthalten nicht viel, was nicht in gleichem oder ähnlichem Sinne in Treitschkes historischen Werken gesagt wäre, wo zudem die Form durchweg gehaltener und gereifter ist. Treitschke hat sich vor seinen Studenten nur allzu sehr gehenlassen; wer ihn als Historiker kennenlernen will – und trotz alledem ist er wohl wert, als Historiker gekannt zu werden –, der tut besser daran, zu seiner „Deutschen Geschichte" zu greifen.

Dennoch haben seine Vorlesungen über Politik eine gewisse Bedeutung; sie sind für den, der die historische Entwicklung unserer Zeit in allen ihren Verzweigungen verstehen will, eine nicht zu unterschätzende Quelle der Belehrung. Treitschke ist für die Jugend der besitzenden Klassen ein Menschenalter hindurch der gefeiertste und einflussreichste Lehrer in politischen Dingen gewesen; der preußische Kultusminister Bosse hat erst neulich im Abgeordnetenhaus gesagt, auf dem Stuhle, den Treitschke leer gelassen habe, könne sich kein Nachfolger mit Würde fassen, und gewiss war Treitschke in seiner Weise eine durchaus eigentümliche, markige, temperamentvolle Persönlichkeit. Was er über Politik gelehrt hat, ist vielen Tausenden von jungen Männern, die heute einflussreiche Stellungen in den Behörden des Staates und der Gemeinde bekleiden, in Fleisch und Blut übergegangen; man kann aus diesen Vorlesungen erkennen, wie sich die Welt in den Köpfen der herrschenden Klassen spiegelt, man lernt daraus, weshalb, um nur ein Beispiel anzuziehen, deutsche Richter so oft Urteile fällen, die, höflich gesprochen, wie Geisterstimmen aus einer versunkenen Welt klingen.

Wenn in der alten guten Zeit der deutschen Gelehrsamkeit der eigentliche Zweck der Universitätsbildung darin gesehen wurde, die Hörer zum eigenen Studium anzuregen, ihnen die Wege zu den Quellen zu zeigen, wo sie ihren Wissensdurst löschen konnten, so ist Treitschkes Methode des akademischen Unterrichts das gerade Gegenteil davon. In den beiden Bänden landet sich nirgends ein Hinweis auf eine Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis; unaufhörlich prasselt ein Regenschauer apodiktisch gefasster Urteile hernieder, einseitig beschränkter und subjektiv gefärbter Urteile; oft genug sind es auch nur rein persönliche Schrullen. Wie man gewöhnlich am meisten hasst, woran man selbst am meisten leidet, so treffen Treitschkes unausgesetzte Tiraden über das phrasenhafte Geschrei der Zeitungen niemanden stärker als ihn selbst. Vor Jahren ist einmal die bedenkliche Frage aufgeworfen worden, ob Goethe wohl hätte Goethe sein können, wenn er jeden Morgen die „Vossische Zeitung" gelesen hätte, aber soviel kann man mit aller Sicherheit sagen, dass, wer alle Morgen die „Vossische Zeitung" liest, eine noch ungleich gediegenere politische Bildung gewinnen wird, als er aus Treitschkes Vorlesungen gewinnen kann. Da wird ein beliebiger Satz aufgestellt, mit einigen historischen Beispielen erläutert, die entgegengesetzte Ansicht mit einem billigen Witze abgetan, und damit basta! Da Treitschke ein belesener und gescheiter Mann war, so bietet, wie um der Billigkeit willen nicht verhehlt werden soll, seine Art, historische Parallelen zu ziehen, mitunter einige Anregung, nämlich dem, der in historischen Fragen festen Boden unter den Füßen hat, aber für den Erzieher der Jugend, die durch ein derartiges Spiel geistreicher Vergleiche eher noch mehr verwirrt wird, fällt auch dieser mildernde Umstand fort. So bedenklich das Ableiern langweiliger Kompendien als Methode des akademischen Unterrichts sein mag, und so oft es schon verspottet worden ist, so ist doch noch viel bedenklicher die Methode Treitschkes, die man als die Bildung markiger Charaktere durch einen markigen Charakter gefeiert hat. Wenn das Bildung von Charakteren sein soll, so ist der erste beste Biertisch eine Charakterschule ersten Ranges.

Wir greifen eine beliebige Stelle heraus und lesen: „Stuart Mill hatte einen entsetzlichen Blaustrumpf zur Frau, mit der ich nicht acht Tage hätte zusammenleben können. Das imponierte aber dem gutmütigen Manne, und er kam nun zu der verflixten Idee, dass die Frau gleichberechtigt sei dem Manne. Er stellte also den bekannten Satz auf: Warum sollten die Frauen nicht Finanzminister werden können, da sie doch mehr wirtschaftlichen Sinn haben als die Männer? Man braucht nur die Gegenfrage zu stellen, ob denn unsere großen Finanzminister geeignet waren, Hausfrauen zu werden." Mit diesen Biertischwitzen im verwegensten Sinne des Wortes tut Treitschke ab, was ein bedeutender Denker über eine sehr wichtige, für die Entwicklung der modernen Kultur sogar entscheidende Frage zu sagen gehabt hat.

Ein paar Seiten vorher sagt Treitschke über die Zulassung der Frauen zu den Universitäten: „Es ist eine schändliche moralische Schwäche so vieler wackerer Männer, dass sie angesichts der Schreierei der Zeitungen davon reden, unsere Universitäten der Invasion der Weiber preiszugeben und dadurch ihren ganzen Charakter zu verfälschen. Hier liegt eine unbegreifliche Gedankenschwäche vor. Hermann Grimm hat leider auch mit in das Horn gestoßen. Die Universitäten sind doch mehr als bloße Lehranstalten für die Wissenschaft; namentlich die kleinen Universitäten bieten eine Kameradschaft, welche in ihren freien Formen für die Charaktererziehung eines jungen Mannes völlig unschätzbar ist. Soll man nun zwei Klassen Studenten haben, eine mit und die andere ohne akademische Freiheit? Wir dürfen aber den Frauen keine akademische Freiheit geben. Soll wegen einer Zeitungsphrase die herrliche Institution unserer Universitäten korrumpiert und auch den Männern die schöne akademische Freiheit genommen werden? Sie sehen, wie wir hier in den baren Unsinn hineingeraten." Allerdings stellten diese Ausführungen Treitschkes den „baren Unsinn" in höchster Potenz dar. Gerade an den „kleinen Universitäten" läuft die „Kameradschaft" gewöhnlich aufs Pauken und Saufen hinaus; diese „akademische Freiheit" könnte durch die Zulassung weiblicher Studenten doch nur insofern gefährdet werden, als weniger gepaukt und gesoffen, dafür aber eine edlere und feinere Form der Geselligkeit gepflegt würde. Über solche „Korruption einer herrlichen Institution" sollte ein gebildeter Mann doch nicht alle Fluchregister ziehen.

Von ähnlichen Stellen wimmeln die Vorlesungen Treitschkes; Hunderte gleichartiger Deklamationen ließen sich anführen. In demselben Stile wie die Frauenfrage misshandelt Treitschke alle sozialen Fragen; er versteht davon nicht das Geringste. In diesem Abschnitt sind die Vorlesungen nichts anderes als ein verwässerter Aufguss des Pamphlets, das Treitschke 1879 gegen die Sozialdemokratie richtete. Wenn er darin behauptete, dass der wissenschaftliche Kommunismus auf dem Wahnglauben an die „natürliche Gleichheit" aller Menschen beruhe, so mochte man vor einem Vierteljahrhundert den Unsinn in einer Kampfschrift passieren lassen, obgleich er auch damals schon arg genug war; nun zeigen Treitschkes Vorlesungen, dass er ihn jahraus jahrein der wissbegierigen Jugend der Bourgeoisie als die reifste Frucht wissenschaftlicher Erkenntnis vorgesetzt hat. Natürlich lassen sich, wenn man einmal eine so alberne, rein aus der Luft gegriffene Voraussetzung macht, schlechte Witze aller Art daran knüpfen, wodurch dann jene „markigen Charaktere" gebildet werden, die als Landräte und Landgerichtsräte mit ihren Weisheitssprüchen über die Sozialdemokratie das Erstaunen und das Grauen unterrichteter Leute erregen.

Man begreift auch das völlige Erlöschen des historischen Sinnes in den besitzenden Klassen, wenn man ihren „Herold und Propheten" über wissenschaftliche Geschichtsschreibung gleich im Anfang der Vorlesungen also orakeln hört: „Personen, Männer sind es, welche die Geschichte machen, Männer wie Luther, wie Friedrich der Große und Bismarck. Diese große, heldenhafte Wahrheit wird immer wahr bleiben, und wie es zugeht, dass diese Männer erscheinen, zur rechten Zeit der rechte Mann, das wird uns Sterblichen immer ein Rätsel sein." Diese geschichtsphilosophische Methode ist, um mit Treitschke zu sprechen, der „bare Unsinn"; kein Historiker kann auch nur einen Augenblick versuchen, sie ernsthaft anzuwenden, weil er damit aufhören würde, ein Historiker zu sein; Treitschke selbst hat sich auch keineswegs an sie gehalten, sobald er nicht bloß rhetorische Phrasen drosch, sondern wirklich Geschichte schrieb oder doch zu schreiben versuchte. Da hat er von seinem beschränkten Standpunkt aus und innerhalb der Scheuklappen, die ihm sein preußischer Fanatismus vorband, oft genug die immanenten Gesetze erkannt, die der historischen Entwicklung ihren Lauf vorschrieben und „zur rechten Zeit den rechten Mann" erscheinen lassen. Aber wie haltlos ist die Vorstellung, dass „markige Charaktere" gebildet werden sollen durch Vorlesungen über Politik, die damit beginnen, jedes historische Verständnis durch den krassesten Personenkultus abzuschneiden! Ein wirksames Gegengift gegen diesen Personenkultus vermögen wir auch nicht in denjenigen Stellen von Treitschkes Vorlesungen zu entdecken, wo er von den Gefahren der Monarchie handelt, von der Gefahr der „entsittlichenden Selbstvergötterung", wenn „die Persönlichkeit des augenblicklichen Königs mit ihren Launen und ihrer menschlichen Beschränktheit" die Monarchie darstellen will, oder wo er von der doch nur bedingten Geltung des Fahneneides sagt: „Man soll nicht zu unseren Soldaten sprechen, als ob sie auch Vater und Mutter auf Befehl ihrer Vorgesetzten totschlagen müssten; sind denn die Soldaten eines stehenden Volksheeres gleichzustellen den kindermordenden Söldnern des Königs Herodes?"Das ist alles ja ganz nett, läuft aber immer auf das bekannte Jesuiten- und Junkersprüchlein hinaus: Und der König absolut, wenn er unsern Willen tut. Treitschke selbst hatte Courage, und sein Fanatismus für Bismarck war durchaus ehrlich, aber seine Methode, erst seinen Hörern diesen Fanatismus einzupauken, den Fanatismus für einen Mann, der, wenn je ein Mensch, „seine Launen und seine menschliche Beschränktheit" für das Gemeinwohl versah, und dann moralische Betrachtungen über die „Selbstvergötterung" der Monarchen anzustellen, das ist, was immer es sonst sein mag, in keinem Falle eine stärkende Schule für Charaktere.

Ehrliche Charaktere werden das persönliche Regiment bekämpfen, gleichviel welche Person am Ruder sitzt. Jede Unterscheidung zwischen den Personen führt notgedrungen zu jenem Klatschkrieg, der in verfallenden Monarchien epidemisch um sich zu greifen pflegt, und zwar in erster Reihe unter den verfaultesten Schichten der Gesellschaft. Die modernen Proletarier dürfen ihren grundsätzlichen und zielbewussten Kampf gegen das persönliche Regiment nicht verwechseln lassen mit jenem lächerlichen und verächtlichen Treiben, das unter dem Schilde der Bismarckvergötterung heutzutage über das persönliche Regiment jammert. Gerade unter den Todfeinden der Arbeiterklasse grassiert dieser Klatschkrieg am schlimmsten. Man kann wohl sagen, dass er auch seinen Nutzen habe, indem er mittelbar dazu beitrage, das persönliche Regiment zu untergraben: Der Klatschkrieg, den die verrottetsten Schichten der französischen Aristokratie gegen die Königin Marie-Antoinette führten, war kein ganz unwirksamer Hebel der großen französischen Revolution. Aber die französischen Freiheitskämpfer haben die feudale Klatschsippe niemals als eine ehrliche Bundesgenossenschaft anerkannt, sondern sie verachtet, wie sie es verdiente, und Marie-Antoinette spielt in der Geschichte eine viel leidlichere Rolle als ihre Klatschfeinde aus den herrschenden Klassen. So mag man heute jeden fragen, der sich über das persönliche Regiment entrüstet: Wie dünket dich um Bismarck? und wenn er dann auch nur die geringsten Ausflüchte macht, so ist es klar, dass seine Gemeinschaft den ehrlichen Kampf der Arbeiterklasse gegen das persönliche Regiment beflecken würde.

Als wissenschaftliches Werk hätten Treitschkes Vorlesungen kaum die Druckkosten gelohnt, als Spiegel der Zeit sind sie lehrreich genug. Aus dieser Quelle hat namentlich die im engeren Sinne regierende Kaste, das Beamtentum in Gemeinde und Staat, ihre politische Bildung geschöpft, und wenn es einerseits einen betrübenden Eindruck gewährt zu sehen, wie dürftig und trübe die Quelle rinnt, so ist es doch auch wieder ein Trost zu erkennen, wie hoch die arbeitende Klasse an politischer Bildung schon der bürgerlichen Klasse über den Kopf gewachsen ist. Wir wollen keineswegs behaupten, dass es mit den wissenschaftlichen Vorträgen in Arbeiterschulen und Arbeiterversammlungen untadelhaft bestellt sei, dass nicht noch manches besser sein könnte und sein sollte, aber dass sich Arbeiterschulen und Arbeiterversammlungen über die wichtigsten Fragen der Zeit mit den wohlfeilen Witzen abspeisen ließen, womit Treitschke über dreißig Jahre lang die Jugend der Bourgeoisie abgespeist hat, das ist unmöglich.

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