Franz Mehring 18911229 Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung

Franz Mehring: Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung

29. Dezember 1891

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Erster Band, S. 449-453. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 490-495]

Vor einigen Tagen ist Johannes Janssen, der bedeutendste ultramontane Geschichtsschreiber der Gegenwart, in Frankfurt a. M. gestorben. Er hat sein Hauptwerk, die „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgange des Mittelalters", das bis zur Gründung des brandenburgisch-preußischen Staates führen sollte, nicht ganz, aber doch so weit vollendet, dass der noch ausstehende siebente Band nach seiner Anlage und großenteils auch nach seiner Ausführung veröffentlicht werden wird. Er hat damit im Wesentlichen das Ziel seines Lebens erreicht, um dessen ungestörter Verfolgung willen er vor einigen Jahren den roten Hut des Kardinals ausschlug, und die Genugtuung über diesen Ausgang werden auch die teilen, welche den Ergebnissen dessen, was Janssen leistete, ablehnend gegenüberstehen. Erscheinungen wie Janssen, der allen äußeren Ehren das bescheidene Los eines deutschen Gelehrten vorzog, um mit ehernem Fleiße ein ganzes Leben an eine große Aufgabe zu setzen, sind in der bürgerlichen Welt von heute so selten, dass ihnen auch von den Gegnern dieser Welt achtungsvolle Anerkennung nicht versagt werden darf.

Auch von den Gegnern dieser Welt nicht, oder genauer: gerade von ihnen nicht. Denn trotz des nahezu beispiellosen Erfolges, den Janssens Hauptwerk gehabt hat – irren wir nicht, so liegt von den ersten Bänden, so gelehrt und weitläufig sie geschrieben sind, schon die fünfzehnte oder gar noch eine höhere Auflage vor –, ist es doch von der bürgerlich-protestantischen, also der in Deutschland überwiegenden Masse der bürgerlichen Kreise beinahe ebenso beschimpft, geschmäht und „kritisch vernichtet" worden, als wäre Janssen nicht ein katholischer Priester, sondern ein roter Sozialdemokrat gewesen. Selbst dem Toten vermögen die liberalen Blätter fast durchweg nur mit einer sauersüßen Grimasse im „vermischten Teile" gerecht zu werden. Begreiflich genug, denn Janssen hat in die Pauke der bürgerlich-protestantischen Geschichtslegende ein mächtiges und für immer unheilbares Loch geschlagen. Aber ebendeshalb geziemt es sich um so mehr für die, welche grundsätzlich viel schroffere Gegner der ultramontanen Geschichtsschreibung sind, als der bürgerliche Protestantismus bei alledem nur sein kann, an Janssen anzuerkennen, was an ihm zu loben ist: seinen Fleiß, seine Kenntnisse, seine unbedingte Hingabe an die Wissenschaft, so wie er sie nun einmal nach den seiner geistigen Bildung gezogenen Schranken zu erfassen vermochte.

Diese letztere Einschränkung kommt freilich auch den besseren von Janssens protestantischen Gegnern zugute. Es würde hier zu weit führen, in die ganze, sehr weitschichtige Janssen-Literatur einzudringen; wir greifen eine Arbeit heraus, welche nicht schlechter, sondern besser als ihresgleichen ist und dem Werke Janssens wirklich einige empfindliche Schlappen beigebracht hat. Sie eröffnet unter dem Titel „Die historische Methode des Ultramontanismus" Hans Delbrücks „Historische und politische Aufsätze". Herr Delbrück gehört zu den Vertrauten des Kaisers Friedrich und erzog einen Sohn desselben; er ist gegenwärtig Geschichtsprofessor an der Berliner Universität und Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher", also ein Mann, von dem man sich eine zulängliche Vertretung der bürgerlich-protestantischen Weltanschauung wohl versehen kann. In jenem Aufsatze weist er nun zunächst treffend nach, dass Janssen den Ritter Hutten ganz falsch beurteilt, insbesondere die Biographie Huttens von Trust in tendenziöser Weise ausschlachtet. Er setzt ferner der sonderbaren, auf ein missverstandenes oder missverständliches Zitat aus Grimms Altertümern gestützten Behauptung Janssens: „Die fälligen Natural- und Geldleistungen wurden vorschriftsmäßig von den Grundhörigen oder Diensthörigen dem Grundherrn oder dessen Beamten persönlich überbracht, und nicht selten durch Gegengaben vergütet, welche an Wert den dargebotenen Zins ausglichen oder selbst überstiegen", die verständige Frage entgegen: „Wovon haben denn die Herren in diesem Falle gelebt oder gar das Plus, was sie gaben, hergenommen, da eben in jenen Zinsen doch fast ausschließlich ihre Einnahmen bestanden?" Herr Delbrück weist dann weiter einen methodologischen Grundfehler Janssens auf, indem er einfach nebeneinander abdruckt, was derselbe im ersten Bande, um die mittelalterliche Wirtschaftsordnung als gesund darzustellen, über die glänzende Lage der bäuerlichen Bevölkerung im Ausgange des Mittelalters beibringt und was er im zweiten Bande, um den Ausbruch des Bauernkriegs zu erklären, über die elende Lage derselben Bevölkerung zu derselben Zeit beibringen muss. Auf Grund dieser ganz zutreffenden Kritik erhebt sich endlich Herr Delbrück zu jenem Brusttone der sittlichen Entrüstung, welcher zur bürgerlich-protestantischen Wissenschaft ebenso gehört wie das Klappern zum Handwerk; er nennt Janssen einen „Fürsten der Finsternis", einen „Judas", sein Werk aber eine „ungeheure Lüge" und fährt zu allem Überflusse noch fort: „Es ist, gleichgültig als Erzeugnis der Wissenschaft, eine Leistung ersten Ranges unter dem Gesichtspunkte der Politik. Es gehört in eine Reihe mit der Konstantinischen Schenkung, den pseudoisidorischen Dekretalien1; den Interpretationen in den Schriften der Kirchenväter und dem ganzen Aufbau der historischen Fälschungen, die notwendig waren oder sind zur Erhaltung der Fiktion eines von jeher in gleichem Charakter, Anerkennung und Heiligkeit stehenden Papsttums." Soweit gut gebrüllt! Schade nur, dass es gleich anders kommt!

In demselben Bande seiner gesammelten Aufsätze nämlich handelt Herr Delbrück auch über den „preußischen Landrat". Er gebraucht vier dicke Bücher von Bornhak, Meier, Isaacsohn und Philippson, um hinter das historische Geheimnis dieser eigentümlich preußischen Institution zu kommen, obgleich es für den profanen Blick auf der Hand liegt, dass der preußische Landrat in seiner geschichtlichen Entwicklung nichts anderes gewesen ist als sozusagen der Prügeljunge in dem ostelbischen Klassenkampfe zwischen Fürsten- und Junkertum; je nachdem dieses oder jenes obenauf kam, entwickelte sich das Amt des Landrats nach seiner bürokratisch-polizeilichen oder nach seiner feudal-junkerlichen Seite hin. Aber Herr Delbrück sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, und auf Grund seiner gelehrten Untersuchungen kommt er zu dem höchst eigentümlichen Ergebnisse: „Der überlieferte germanische Freiheitsbegriff war stark genug, sich in dem Landratsamte eine Sicherheit zu verschaffen, die auch in dieser harten Zeit und in diesem harten Staate dem Rechte und der Ehre fortzuleben ermöglichte." Und als Schlusstrumpf seiner Abhandlung sieht er in dem Amte des preußischen Landrats die Feststellung der Tatsache, dass „Preußen heute weiter als irgendein Staat sei in der Überwindung jenes Gegensatzes, der alle Regierungskunst bestimmt: zugleich der Regierung die größte Kraft zu verleihen und die Freiheit des Individuums darum nicht nur nicht einzuschränken, sondern ihm die weiteste Entfaltung zu ermöglichen". Über diesen Aufsatz hätte Janssen, wenn es ihm sonst beliebte, seinerseits sagen können: „Es ist, gleichgültig als Erzeugnis der Wissenschaft, eine Leistung ersten Ranges unter dem Gesichtspunkte der Politik. Er gehört in eine Reihe mit dem ganzen Aufbau der historischen Fälschungen, die notwendig waren oder sind zur Erhaltung der Fiktion eines von jeher in gleichem Charakter, Anerkennung und Heiligtum stehenden Hohenzollerntums." Kurzum: Janssen hätte Wort für Wort dem Herrn Delbrück seine Schmeicheleien zurückgeben können. Er hat es allerdings nicht getan, denn er liebte, was ihm nur zur Ehre gereicht, auf dem wissenschaftlichen Gebiete den sittlich dröhnenden Tamtam nicht, wie er denn überhaupt zu jenen altfränkischen, aber deshalb heutzutage nur um so genießbareren Geschichtsschreibern gehörte, die dem Leser nicht ihr subjektives Urteil über die Dinge aufdrängen, sondern die Dinge selbst an den Leser heranzubringen suchen.

Er war freilich kein klassischer, kein für das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert der deutschen Geschichte abschließender Historiker. Mit Genuss und Nutzen kann man seine sechs dicken Bände nur unter fortlaufender Kritik lesen, aber wenn man diese Vorsicht beobachtet, wird man nirgends auf den Verdacht geraten, dass er absichtlich und wider besseres Wissen die Geschichte gefälscht hat. Die grobe Handgreiflichkeit solcher Irrtümer, wie ihm Delbrück und andere nachgewiesen haben und die der aufmerksame Leser des Werks fast in jedem Kapitel von selbst findet, widerlegt diese Ansicht nicht, sondern bestätigt sie nur. Janssen schrieb eben im Bann der katholischen Weltanschauung, wie die Delbrück, Sybel, Treitschke im Banne der preußischen Weltanschauung schreiben. Sie alle befahren das Meer des Irrtums, aber jener immerhin wie ein Weltumsegler, diese aber nur wie Küstenfahrer der Ostsee. Daraus erklärt es sich auch, dass Janssen trotz so manchen ihm nachgewiesenen groben Irrtums in der unaufhörlichen Fehde mit seinen bürgerlich-protestantischen Gegnern doch gemeiniglich den Sieg davongetragen hat. Auch als ein Gegenschlag gegen die jahrhundertelange Geschichtsfälschung von bürgerlich-protestantischer Seite hat sein Werk das relativ bessere Recht für sich, und ein halbwegs kritisch veranlagter Kopf kann aus demselben über das Reformationszeitalter noch immer viel mehr lernen als aus der entsprechenden bürgerlich-protestantischen Literatur, das vielgepriesene Werk von Ranke mit eingerechnet.

Im letzten Grade schreibt Janssen freilich doch nicht Geschichte, sondern nur katholische Geschichtslegende. Dies gleichfalls scharf hervorzuheben ist um so notwendiger, als sein Werk aus den eben angedeuteten Gründen gelegentlich auch wohl von sozialistischer Seite überschätzt worden ist. Er war eben auch nur ein bürgerlicher Geschichtsschreiber. Vielleicht könnte ein Schlaukopf auf den Einfall geraten, die historische Wahrheit über das Reformationszeitalter durch einen kritischen Vergleich zwischen der katholischen und der protestantischen Legende zu ermitteln, etwa in der Voraussetzung, dass nach Streichung dessen, was beide sich gegenseitig als falsch nachgewiesen haben, die unanfechtbare Wirklichkeit zurückbleiben müsse. Allein diese Methode wäre ganz hoffnungslos, weil bei ihrer Anwendung nichts übrigbleiben würde, als der – größte Irrtum, dem man bei der Betrachtung des fünfzehnten Jahrhunderts verfallen kann. Wenn die bürgerlichen Geschichtsschreiber, katholischer und protestantischer Richtung, zwar in allem andern auseinandergehen, so sind sie doch darin einig, dass die Reformation eine geistig-religiöse Bewegung war und nicht, was sie in Wirklichkeit gewesen ist: eine ökonomisch-soziale. Zwar vertritt Janssen auch in dieser Beziehung einen großen Fortschritt gegenüber Ranke, indem er der Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung einen sehr beträchtlichen Raum widmet und sie gelegentlich „noch eindringender" nennt als die geistige und kirchliche Entwicklung, aber er leitet doch immer jene von dieser ab, er macht nicht, wie es richtig wäre, die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse für das Eindringen des römischen Rechts, sondern das Eindringen des römischen Rechts für die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse verantwortlich; er lässt im günstigsten Falle beide Bewegungen nebeneinander herlaufen, und nirgends erhebt er sich dazu, mit grundsätzlicher Klarheit in der geistig-religiösen Bewegung nur die Widerspiegelung der ökonomisch-sozialen Entwicklung aufzuzeigen. Die Lösung dieser Aufgabe war ihm als einem bürgerlichen Geschichtsschreiber versagt; sie ist nur möglich vermittelst der materialistischen Geschichtsauffassung, und ein glücklicher Zufall will, dass sie gerade für das Zeitalter, um welches Janssen und seine bürgerlich-protestantischen Gegner so heftig gestritten haben, bereits erfolgt ist durch die Aufsätze von Engels über den Bauernkrieg, einige historische Exkurse im „Kapital" von Marx2 und das Buch von Kautsky über Thomas More. Zwei Schriften beiläufig, deren Vergleich auch zeigt, welcher Entwicklung und Vertiefung die materialistische Geschichtsauffassung fähig ist, womit der ihr gelegentlich von bürgerlicher Seite gemachte Vorwurf der oberflächlichen Schablonenhaftigkeit hinfällig wird.*

Es ist eben so und nicht anders: einer niedergehenden Klasse werden ihre reellen Leistungen ebenso zum Verhängnisse wie ihre unreellen. Bei aller Anerkennung, die man dem Forscher und dem Menschen Janssen widerfahren lassen muss, ist er der geschichtlichen Entwicklung doch nur ein Werkzeug wider Willen geworden. Was er als treuer Sohn seiner Kirche erstrebte, kommt nicht dieser zugute; der von ihm entfachte Kampf hat nur gezeigt, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung nicht mehr große historische Probleme zu bewältigen vermag und dass auch in diesem Betracht nur noch die Arbeiterklasse bereit wie fähig ist, das geistige Erbe der Nation anzutreten.

1 Pseudoisidorische Dekretalen – eine Sammlung meist unechter, angeblich päpstlicher Verordnungen, um 850 von einem unbekannten Geistlichen zusammengestellt. Unmittelbarer Zweck war, die Kirche von der Staatsgewalt zu befreien, die Macht der Erzbischöfe zu brechen und den Primat des Papstes zu festigen. Sie gingen in das Corpus iuris canonici als Grundsätze des mittelalterlichen Kirchenrechts ein.

* Wenn oben von einem glücklichen Zufall gesprochen wurde, so ist es für den Schreiber dieser Zeilen ein unglücklicher Zufall, dass der Verfasser von Thomas More zugleich der Redakteur der „Neuen Zeit" ist, so dass die obige Andeutung nicht wohl weiter gesponnen werden kann, ohne Missdeutungen zu erregen. Hoffentlich sind aber wenigstens loyale Missdeutungen ausgeschlossen, wenn das oben angeschlagene Thema in dieser Fußnote ergänzt wird durch einige Sätze, die der Verfasser schon vor mehreren Jahren und ehe er mit Kautsky in kollegialen Beziehungen stand, im Feuilleton einer bürgerlich-demokratischen Zeitung veröffentlicht hat. Dieselben lauten: „Neuerdings hat ein jüngerer Forscher, Karl Kautsky, in seiner wissenschaftlichen Biographie Thomas Mores von dem eben gekennzeichneten Standpunkte aus" (nämlich dem Standpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung) „höchst lehrreiche Streiflichter gerade in die Geschichte der Reformation geworfen. Für die ideologische Geschichtsschreibung ist Thomas More ein wahres Kreuz. Er war ein Vorkämpfer der bürgerlichen Klasse, ein feingebildeter und freidenkender Mann, ein gelehrter Humanist und der erste, welcher das soziale Problem der neuen Zeit mit scharfem Blicke zu erfassen vermochte. Aber er war auch der Minister eines tyrannischen Fürsten, ein Gegner Luthers und ein Ketzerverfolger, ein Blutzeuge des Papsttums, und er ist heute, wenn auch noch kein offizieller, was er möglicherweise noch werden wird, so doch ein offiziöser Heiliger der katholischen Kirche. Was kann nun die ideologische Geschichtsschreibung, gleichviel ob katholischer oder protestantischer Tendenz, mit einem solchen Charakter anfangen? Die einen können ihn verherrlichen, die andern können ihn verunglimpfen, aber verstehen können ihn weder die einen noch die andern. Wohl aber hat Kautsky in jenem Werke, indem er die Reformationsgeschichte unter den einzig zutreffenden Gesichtspunkt der materialistischen Geschichtsauffassung rückte, in überzeugender Weise dargelegt, dass Thomas More ein ganzer Mann war und dass alle jene anscheinenden Widersprüche seines Wesens in der Tat unlöslich zusammenhängen. Es versteht sich am Rande, dass die katholischen und protestantischen Geschichtsschreiber der Reformationszeit, während sie sich gegenseitig ihre ideologischen Perücken so kräftig ausklopfen, dass der hervorquellende Staub erst recht die Geschichte der Reformation verfinstert, von der Schrift Kautskys nicht die geringste Notiz genommen haben. Hochmut kommt bekanntlich immer vor dem Falle."

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