11. Der russische Feldzug

11. Der russische Feldzug

Im Frühling des Jahres 1812 waren die Dinge reif für die Entscheidung durch das Schwert.

Russland schaffte sich durch den Frieden von Bukarest1, der ihm immerhin ein tüchtiges Stück Land sicherte, die Türken vom Halse; mit Schweden, dem es Finnland geraubt hatte, schloss es sogar ein Bündnis. Schwedischer Thronfolger war der ehemalige französische Marschall Bernadotte, der sich Norwegen statt Finnland und für den Fall, dass Napoleon gestürzt würde, sogar die französische Krone versprechen ließ. Auch mit England schloss der Zar offiziell Frieden, und sogar mit den spanischen Insurgenten knüpfte er an. Endlich berief er den Freiherrn vom Stein an seinen Hof, um Deutschland zu insurgieren.

Alles das waren aber mehr oder minder Fragen zweiter Ordnung. In der Hauptsache kam es auf die russischen Rüstungen an, und sie konnten nur geringes Vertrauen erwecken. Das Heer, das die Grenze decken sollte, belief sich höchstens auf 180.000 Mann. Auch war der Zar weit entfernt von den genialen Feldzugsplänen, die ihm später angedichtet worden sind; er ließ sich vielmehr von dem General Phull, einem methodischen Tüftler, der vor Jena schon großes Unheil im preußischen Heere angerichtet, aber gleichwohl das Vertrauen des Zaren gewonnen hatte, den unsinnigen Gedanken einreden, in einem verschanzten Lager bei Drissa die russische Streitkraft zum siegreichen Widerstand zu konzentrieren. Phull dachte dabei teils an das Lager von Bunzelwitz aus dem Siebenjährigen Kriege, teils an die Linien von Torres Vedras. Namentlich diese Linien übten damals eine faszinierende Wirkung aus, nur dass ihre Reflexwirkung sich bei Scharnhorst und seinen Freunden in verständiger, bei Phull in unverständiger Weise äußerte. Dem Lager von Drissa fehlte alles, was die Linien von Torres Vedras unüberwindlich machte: die nur mäßige Überlegenheit des Feindes, das Meer als Stützpunkt und als Reserve eine das Meer beherrschende Flotte.

Um so besser war Napoleon gerüstet. Auch er gewann noch einen Verbündeten in Österreich, das für seine Unterstützung – 30.000 Mann und 60 Geschütze – ungleich günstigere Bedingungen erhielt, als Preußen erhalten sollte. Doch war von diesem Bundesgenossen kaum mehr zu erwarten als im Kriege von 1809 vom russischen Bundesgenossen. Die entscheidende Kraft Napoleons lag in der gewaltigen Heeresmasse, die er aus Frankreich und den von ihm abhängigen Ländern (Rheinbund, Italien, Schweiz, Warschau) aufzubieten verstand. Sie belief sich auf 619.000 Mann, von denen auf die eigentliche Operationsarmee 467.000 Mann kamen. Am 29. Mai gab Napoleon von Dresden aus, wo er noch einmal Heerschau über seine deutschen Vasallen gehalten hatte, den Befehl zum Vormarsch. Die ersten Opfer des Krieges wurden die preußischen Provinzen. Sie verloren durch den Marsch der französischen Armee nach einer Rechnung des preußischen Finanzministeriums noch mindestens 140 Millionen Franken über den Rest der fälligen Kontribution hinaus, nach einer Rechnung Hardenbergs selbst zwar nur 94 Millionen Franken über den Rest der Kontribution, aber daneben erlitten sie einen Schaden von 309 Millionen Franken. Diese Rechnungen mögen mehr oder weniger übertrieben sein; sicher ist, dass die preußischen Provinzen noch einmal aufs grausamste verheert wurden.

Am 23. Juni überschritt das französische Heer den Njemen. Die Russen hatten ihre Truppen in zwei Heere geteilt, von denen das eine unter Barclay de Tolly sich langsam bis ins Lager von Drissa zurückziehen, das andere unter Bagration den einmarschierenden Feind in Flanken und Rücken beunruhigen sollte. Vor den französischen Heeresmassen zerfiel dieser Operationsplan in sich selbst; die russischen Heere mussten, um nicht sofort erdrückt zu werden, sich auf einem schleunigen Rückzug ins Innere des Reiches zu vereinigen suchen, was ihnen erst in Smolensk gelang. Das Lager bei Drissa verschwand wie ein Phantom, sobald die Dinge ernsthaft wurden. Erst in Smolensk konnte man an eine Schlacht denken; auch kam es hier zu heftigen Kämpfen, aber Barclay de Tolly wich, im Angesicht einer sicheren Niederlage, der letzten Entscheidung aus und setzte den Rückzug fort, bis er ein Schlachtfeld fände, wo er mit einiger Aussicht auf Erfolg kämpfen könnte.

Dieser Rückzug erfolgte unter heftigem Geschrei über den Verrat des heiligen Russlands durch die „Deutschen", die sich in der Umgebung des Zaren befanden; Barclay selbst war der Sohn eines protestantischen Pfarrers in Livland. In seinem eigenen Hauptquartier war der Lärm am lautesten; an der Spitze der Unzufriedenen stand der eigene Bruder des Zaren, der Großfürst Konstantin. Keiner der Schreier ahnte, dass der Rückzug tatsächlich die Rettung Russlands war. Von dieser Erkenntnis waren freilich auch Barclay und der Zar weit entfernt. Barclay war kein genialer Feldherr, aber ein tüchtiger General; er wollte nur nicht mit der unfehlbaren Aussicht auf eine Niederlage kämpfen, und der Zar, dem endlich eine Ahnung von der wirklichen Gefahr aufgegangen war, suchte ihn zu halten. Aber der allgemeine Unwille über den russischen Rückzug war so allgemein, das Geschrei über den „Verrat" der Deutschen so heftig, dass der Zar gezwungen war, den Oberbefehl an einen Nationalrussen zu übertragen, den Feldmarschall Kutusow, einen abgelebten und unfähigen Greis, dessen militärische Eigenschaften der Zar selbst sehr gering einschätzte. Am 7. September versuchte Kutusow sein Heil bei Borodino und verlor das Spiel; wenn diese gräuelvolle Schlacht immerhin noch zu einer ehrenvollen Niederlage der Russen wurde, so war es das Verdienst Barclays, nicht Kutusows, der hinter der Schlachtlinie zechte und die Unverschämtheit besaß, dem Zaren einen angeblichen Sieg zu melden. Die Antwort darauf gab am 14. September der Einzug Napoleons in Moskau.

Aber auch Napoleon gab sich einer gewaltigen Täuschung hin, wenn er nunmehr an sein Ziel gelangt zu sein glaubte. Schon vom ersten Tage seines Einmarsches in das eigentliche Russland begann die innere Auflösung seines gewaltigen Heeres. Die französischen Truppen fanden alles verödet, die Dörfer leer und verlassen: nicht auf Befehl der Regierung, wie die Franzosen meinten, sondern aus der Vorstellung heraus, die das russische Landvolk vom Wesen des Krieges hatte. Das innere Russland war lange von keinem Feinde heimgesucht worden, und in der Vorstellung der Bauern lebte nur die Erinnerung an das Brennen und Sengen, das Morden und Rauben von Tatarenhorden. Wie ihre Vorfahren vor diesen geflohen waren, so flohen sie vor den Franzosen. An ihren hölzernen Hütten, die sie in kurzer Zeit wieder aufzubauen wussten, lag ihnen wenig; was ihnen von wirklichem Werte war, ihre Ernte und ihr Vieh, retteten sie durch die Flucht.

Dadurch geriet das französische Heer von vornherein in die größten Verpflegungsschwierigkeiten, trotz aller noch so gewaltigen und umsichtigen Vorkehrungen, die Napoleon auch in dieser Beziehung getroffen hatte. Das Marodieren und Plündern begann sehr frühzeitig, und damit auch die Zerrüttung der militärischen Disziplin. Und jeder Marsch vorwärts steigerte das Unheil. Je mehr der Rückzug des russischen Heeres seine Widerstandskraft zu lähmen schien, um so mehr wuchs der Raum als ein unüberwindliches Element der russischen Macht. Früher als Kaiser und Zar erkannte Scharnhorst den historischen Charakter des russischen Feldzugs; er meinte, Napoleon müsse an den großen Dimensionen des russischen Reiches zugrunde gehen, wenn Russland diese gehörig ins Spiel bringe und unter keinen Umständen sich zu einem Frieden bequeme.

Auf den Frieden setzte Napoleon seine einzige Hoffnung, nachdem er in Moskau eingezogen war. Seine Streitkräfte waren schon arg zusammengeschmolzen; die Schlacht bei Borodino hatte er nur noch mit etwa 120.000 Mann geschlagen. Er sandte seine Botschaften nach Petersburg, aber er bedachte nicht, dass nicht jener Zar, den er schon zweimal, nach der Schlacht bei Austerlitz und nach der Schlacht bei Friedland, elend hatte zusammenklappen gesehen, über den Frieden zu entscheiden hatte, sondern die russische Nation. Und wessen diese Nation fähig war, hätte ihn der Brand von Moskau lehren sollen. Was den Zaren standhaft machte, war nicht der eigene Heldenmut, von dem er nichts besaß, auch nicht der Freiherr vom Stein, wie der deutsche Patriotismus sich gerne einreden möchte, sondern das Schicksal seines Vaters und seines Großvaters.

Nachdem Napoleon nahezu fünf Wochen in Moskau zwecklos vertrödelt hatte, musste er am 19. Oktober den unvermeidlichen Rückzug antreten. Er wurde dabei durch einen ungewöhnlich milden und warmen Herbst begünstigt; noch im November war der Frost gelinde. Erst am 4. Dezember stieg die Kälte auf 16, an den folgenden Tagen auf 18 bis 24, am 8. auf 28 Grad. Sie hat dem innerlich schon völlig zerrütteten Heere nur den letzten Stoß gegeben und die letzten Spuren der Disziplin aufgelöst. Seit der Mitte Dezember durchzogen die Schatten der Großen Armee in langen, todesstillen Zügen das von ihr vor einem halben Jahre grausam ausgeplünderte Ostpreußen, ungeordnete Haufen aller Nationen und Truppengattungen, ein wüstes Gespensterheer, Gestalten, die dem Grabe entstiegen zu sein schienen, zu Skeletten abgemagert, viele verstümmelt oder mit erfrorenen Gliedern, leichenfarbenen Gesichtern, mit blutunterlaufenen, erloschenen Augen, manche fast erblindet oder blödsinnig, in Lumpen, Pferdedecken, Schafpelze, Tierhäute gehüllt, fast alle entwaffnet, die meisten an Krücken und Stöcken einher humpelnd. „Seit zwei Tagen", so berichtete der Präsident Auerswald am 18. Dezember aus Königsberg nach Berlin, „sind größtenteils zu Fuß oder auf Bauernschlitten, ausgeplündert, mitunter ohne Hemden und Stiefel, sogar in Winterkleidern mit erfrorenen Gliedern angekommen: 84 Generale, 106 Obristen, 1171 Offiziere; alle Gemeine, die die Provinz in allen Richtungen truppweise und einzeln durchziehen, sind größtenteils entwaffnet." Und drei Tage später: „Nach dem Rapport sind in Königsberg noch befindlich 255 Generale, 699 Obristen, 4412 Kapitäns und Leutnants, 26 950 Unteroffiziere und Gemeine, fast alle im erbärmlichsten Zustand." Aus diesen kurzen Berichten schon blickt eine sehr bezeichnende und sehr folgenreiche Tatsache hervor: die verhältnismäßig große Zahl von Offizieren und Unteroffizieren, die sich aus dem furchtbaren Schiffbruch des französischen Heeres gerettet hatten. Damit war für Napoleon die Möglichkeit gegeben, bei seinen noch immer unermesslichen Hilfsquellen verhältnismäßig schnell neue Heere zu schaffen; und diese Möglichkeit hatte ihm die klägliche Kriegführung der Russen verschafft. Kutusow wagte nicht, den Stier bei den Hörnern zu packen, selbst dann noch nicht, als der Stier schon bis auf den Tod verwundet war; er versäumte bei Krasnoi, bei Wjasma das feindliche Heer bis auf den letzten Mann aufzuheben, und die Führer der Seitenheere, der Admiral Tschitschagow und der General Wittgenstein, machten es nicht besser; selbst an der Beresina trug Napoleon mit den elenden Resten seines Heeres noch in den letzten Novembertagen eine Art Sieg davon.

In diesem Zusammenhang mag auch erwähnt sein, dass die deutsch-russische Legion, die Freiherr vom Stein als Kern eines künftigen deutschen Heeres zu organisieren bemüht war, nicht gedeihen wollte. Sie blieb ein unglückliches Zwittergeschöpf und ist auch nie mehr geworden. Stein hatte sich Ernst Moritz Arndt kommen lassen, einen deutschen, ihm in halb mittelalterlichen und halb modernen Anschauungen kongenialen Patrioten, und sie schmiedeten gemeinsam Pamphlete, um die rheinbündlerischen Soldaten im französischen Heere zum Abfall zu verleiten. Arndt verstand es trefflich, die biblische Sprache nachzuahmen, und was er in seinem „Kurzen Katechismus für deutsche Soldaten" über die moralische Bedingtheit des Fahneneids sagte, ist trefflichste Weisheit, die heute noch nicht auf Märkten und Gassen des neudeutschen Reiches gepredigt werden darf, ohne auf Hochverrat und Majestätsverbrechen angeklagt zu werden. Schade nur, dass sie im Jahre 1812 unter Väterchens Schutz verkündet und schon ein Jahr darauf durch ihren Verkünder schamhaft verleugnet wurde!

Hatte Napoleon sich aus dem großen Zusammenbruch noch die Mittel und Möglichkeiten gerettet, rasch neue Heere zu bilden, so sah es damit auf russischer Seite um so trauriger aus. Denn das russische Heer war arg zusammengeschmolzen; es war nicht so völlig aufgelöst wie das französische, aber es bestand auch nur noch aus Trümmern, die unfähig waren, den Krieg über den Njemen hinaus zu führen, sobald sie auf einen ernsthaften Gegner stießen. Rechnete man selbst die Reste der Großen Armee für nichts, so ließen sich doch aus den Flügelheeren, von denen eines unter Macdonald in Kurland, das andere unter Schwarzenberg in Wolhynien, beide unter verhältnismäßig geringen Verlusten, gekämpft hatte, noch etwa 40.000 waffenfähige Mannschaften zusammenraffen, meist Polen und Rheinbündler; die Festungen der Weichsel- und Oderlinie waren von 70.000 Franzosen besetzt, und in der Mark Brandenburg standen noch, oder trafen demnächst ein, über 20.000 Mann. Es gibt wenig dreistere Geschichtslügen als die Behauptung, dass der Zar als „Befreier der Deutschen" am Njemen erschienen sei; er befand sich in noch misslicherer Lage als Napoleon, da er aus finanziellen und räumlichen Rücksichten nicht gleich schnell neue Heere schaffen konnte. Dazu hatte er noch einen besonderen Klotz am Bein, da eine starke Partei seines Heeres, mit Kutusow an der Spitze, sich dagegen sträubte, den Krieg über die russische Erde hinauszutragen.

Nicht bei ihm lag die Entscheidung, sondern bei den Polen und Preußen, an deren Grenzen er nunmehr stand. Sie waren Napoleons Verbündete gewesen, und die Polen hielten auch jetzt an der französischen Sache fest. So entwickelte der Zar eine überfließende Zärtlichkeit für die Wiederherstellung des preußischen Staates, die als solche in Berlin gewiss nicht zu rühren brauchte. Aber auch von den heroischen Entschlüssen, die man im eigenen Interesse hätte fassen sollen, blieb man in Berlin weit entfernt. Der König und Hardenberg waren über die furchtbare Niederlage Napoleons vollkommen durch die Berichte der ostpreußischen Beamten unterrichtet, ja durch Napoleon selbst, der am 5. Dezember sein Heer verlassen hatte und am 14. Dezember von Dresden aus den König gebeten hatte, das preußische Hilfskorps auf 30.000 Mann zu verstärken. Allein bei alledem war die Angstmeierei im König und seiner Umgebung obenauf, und selbst Hardenberg wusste nichts Besseres zu tun, als in erster Reihe jeden leidenschaftlichen Ausbruch der Massen zu hindern und dann mit dem Wiener Kabinett diplomatisch über eine bewaffnete Vermittlung zwischen Frankreich und Russland zu verhandeln.

Da aber geschah es, dass die kühne Tat eines preußischen Junkers dem Könige und seinem Minister die Entscheidung über den Kopf wegnahm.

1 Im Frieden von Bukarest am 28. Mai 1812 musste die Türkei Bessarabien und einen Teil der Moldau (Pruth als Grenze) an Russland abtreten und den Serben eigene Gerichtsbarkeit zugestehen.

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