2. Der Friede von Tilsit

2. Der Friede von Tilsit

Gewohnt, den Frieden zu diktieren, musste Napoleon zum ersten Mal mit einem zwar in der Schlacht besiegten, aber im Kriege doch unbesiegbaren Feinde sich über den Frieden einigen. Seinem Partner an genialer Begabung ungleich überlegen, übertölpelte er ihn scheinbar gründlich, aber indem er den wüsten Eroberungsinstinkten eines asiatischen Despotismus schmeichelte und sich ihnen anpassen musste, verschüttete er die eigentliche Quelle seiner Kraft. Und auf dem Gebiete des eigennützigen Schachers ist die gemeine Pfiffigkeit auf die Dauer dem Genie immer überlegen. Der Friede von Tilsit, der den französischen Kaiser auf den Gipfel der Macht zu führen schien, war in der Tat der große Sündenfall seines Lebens.

Russland und Frankreich verbündeten sich in Tilsit aufs engste: Alle Kriege in Europa sollten ihnen gemeinsam sein. Russland trat dem Kontinentalsystem bei und übernahm die Vermittlung zwischen England und Frankreich; falls diese Vermittlung versagte, was sich von selbst verstand, machte Russland mit Frankreich gemeinsame Sache gegen England. Schweden, Dänemark und Portugal sollten aufgefordert werden, an England den Krieg zu erklären, im Falle ihres Weigerns aber selbst mit Krieg überzogen werden. Frankreich übernahm die Vermittlung zwischen Russland und der Türkei, die im Kriege lagen; lehnte die Türkei diese Vermittlung ab oder schloss sie nach ihrer Annahme innerhalb dreier Monate nicht Frieden, so sollten ihre europäischen Provinzen mit Ausnahme der Stadt Konstantinopel und Rumeliens dem türkischen Joche entrissen werden. Endlich gab Napoleon „aus Rücksicht" auf den Zaren dem preußischen König die kleinere Hälfte der preußischen Monarchie zurück; für sich behielt er die preußischen Provinzen links der Elbe und die ehemals polnischen Provinzen, von denen er jedoch den Bezirk Bialystok, ein Gebiet von 206 Geviertmeilen mit 186.000 Einwohnern, an den Zaren abtrat.

Auf den ersten Blick scheint dieser Friede ein Löwenvertrag zugunsten Napoleons zu sein. Er gewann den Beistand Russlands gegen England, fast in den demütigenden Formen einer Vasallenschaft, und die größere Hälfte der preußischen Monarchie dazu, und was er gewann, war mit klaren und unzweideutigen Worten ausgesprochen. Dagegen erschien Russlands Anteil an der gemeinsamen Beute in ganz verschwimmenden Umrissen. Verabredet war, dass Russland das schwedische Finnland und die türkischen Donaufürstentümer erhalten solle, aber das ließ sich höchstens zwischen, nicht aber in den Zeilen des Friedensvertrages lesen. Der einzige greifbare Gewinn des Zaren war der Bezirk Bialystok, und er wurde demselben Fürsten abgenommen, mit dem der Zar eben ein feierliches Schutz- und Trutzbündnis geschlossen hatte. Ein schimpflicherer Erwerb ließ sich nicht denken, und selbst den in diesem Punkt keineswegs verwöhnten Zeitgenossen fiel es peinlich auf, wie der „mächtige Autokrat Russlands" in Tilsit sich von dem plebejischen Eroberer moralisch demütigen ließ, um ihn dafür mit ebenso brünstigen Freundschaftsversicherungen zu überschütten wie wenige Wochen früher den preußischen König.

Dennoch hatte Talleyrand recht, wenn er von dem Vertrag, den er als Napoleons Minister abschloss, achselzuckend sagte: „Dieser Vertrag ist nur ein Auskunftsmittel, das man für ein System ausgeben will"; er witterte Leichengeruch und begann alsbald mit dem Zaren gegen seinen Herrn und Meister zu konspirieren. Napoleon fiel in die Fehler der alten Kabinettspolitik zurück, wenn er sich einbildete, der Zar könne durch einen souveränen Federstrich sein Reich dem Kontinentalsystem einfügen. Genauso hatte sich der preußische König Friedrich in der Westminsterkonvention von 1756, die ihm den Siebenjährigen Krieg eintrug, der Einbildung hingegeben, die englische Regierung könne und werde den Handel mit Russland opfern, um ihm die Russen vom Leibe zu halten. Und England konnte den Handel mit Russland noch eher entbehren als Russland den Handel mit England. Der Anschluss Russlands an das Kontinentalsystem bedeutete die Vernichtung des russischen Handels und namentlich auch der russischen Finanzen, eine gänzliche und durchaus unberechenbare Verschiebung aller Vermögensverhältnisse im Innern des Reiches, den Ruin unzähliger Familien, und so war es die Frage einer absehbaren Zeit, wann das französisch-russische Bündnis in sich zusammenbrechen müsse.

Darüber hinaus aber errang der Zar gerade in dem Punkte, wo er am schmählichsten unterlegen zu sein schien, einen bedeutenden Erfolg. Obgleich die ersten Verhandlungen zwischen Alexander und Napoleon unter vier Augen gepflogen wurden, so unterliegt es nach Äußerungen, die sie selbst oder ihre Minister gemacht haben, so gut wie keinem Zweifel, dass Napoleon die gänzliche Auflösung des preußischen Staates gefordert und die Zustimmung des Zaren mit dem Angebot der polnisch-preußischen Provinzen und der polnischen Königskrone zu erlangen gesucht hat. Wie lockend immer dies Angebot für Alexander sein musste, so ist er doch nicht darauf eingegangen. Es ist ganz gleichgültig, ob dabei etwa moralische Bedenken mitgespielt haben, obgleich die gänzliche Entthronung des Hohenzollern mit russischer Zustimmung so kurze Frist nach dem Vertrag von Bartenstein selbst für das robuste Gewissen des Zaren eine starke Leistung gewesen wäre. Sein eigenstes Interesse aber gebot ihm, das Ansinnen Napoleons abzulehnen.

Es ergibt sich auch hier eine Analogie aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges. In dessen letzten Jahren konnte die Zarin Katharina der preußischen Monarchie den Gnadenstoß geben und an ihrem Teil die Provinz Ostpreußen einstecken, die schon seit dem Anfang des Krieges von russischen Truppen besetzt war und ihnen durch den preußischen König nicht entrissen werden konnte. Jedoch zog es Katharina vor, diesen König als ihren Vasallen zu erhalten, der ihr das polnische und das türkische Wild ins Garn treiben musste, und sie hatte dabei vortreffliche Geschäfte gemacht, was ihrem Enkel Alexander durchaus nicht unbekannt war. Allein selbst wenn er diese Überlieferung der zarischen Politik hätte missachten wollen, so brannte ihm das Feuer auf den Nägeln. Seine Generale und Minister hatten ihn eben gezwungen, den Krieg einzustellen: aus Furcht, dass die französischen Heere, wenn sie die russische Grenze überschritten, die ehemals polnischen Provinzen zum Aufstand bringen würden, wie in den ehemals polnischen Landstrichen des preußischen Staates beim Herannahen der Franzosen der Aufstand ausgebrochen war, und sie fürchteten selbst für das eigentliche Russland, wenn die Franzosen den Leibeigenen die Freiheit versprächen. Der Zar würde also im eigenen Lager auf einen unüberwindlichen Widerstand gestoßen sein, wenn er die Ausdehnung der französischen Herrschaft bis an die Weichsel geduldet hätte.

Für Napoleon war die Weigerung des Zaren eine empfindliche Schlappe. Als er nach der Schlacht bei Eylau mit dem König von Preußen anknüpfte, war seine Absicht gewesen, sich in dem preußischen Staate eine Vormauer gegen Russland zu schaffen. Nachdem er damit gescheitert war, mochte sich ihm dieselbe Überzeugung aufgedrängt haben, die damals der russische General Budberg zu einem preußischen Beamten mit den Worten äußerte: „Mit einem Monarchen wie dem Ihrigen kann niemand den Staat retten. Er hört und befolgt immer nur den Rat der Schwachen und der Schurken. Durch ihn geht Preußen zugrunde." So wollte Napoleon nunmehr die preußische Monarchie beseitigen, offenbar in der Absicht, wie er auch gelegentlich angedeutet hat, seinem Bruder Jerôme die preußischen Stammlande zu übergeben, als französischen Vasallenstaat gewiss, aber auch mit der Aufgabe, sie auf moderner Grundlage umzuschaffen. Auf verkleinertem Fuße hat er diese Absicht dann ja mit dem Königreich Westfalen ausgeführt, dessen Kern die ehemals preußischen Landesteile links der Elbe bildeten.

Dieser Plan wurde durch den Zaren vereitelt, aber Napoleon tat sofort einen doppelten Gegenzug. Aus den ehemals polnischen Provinzen des preußischen Staates, die ihm durch den Frieden von Tilsit abgetreten wurden, machte er das Herzogtum Warschau, das er dem neugebackenen König von Sachsen übergab, der sich bald als der gehorsamste seiner deutschen Vasallen entpuppen sollte. Einstweilen blieben 30.000 Franzosen in diesen Provinzen stehen „zur Sicherung der Grenzen", bis die neue Regierung ganz eingerichtet und die polnische Armee vollkommen reorganisiert sei. So hatte sich Napoleon doch an der russischen Grenze eingenistet, an der entzündlichsten und gefährlichsten Stelle; wie leicht konnte sich an diesen Anfang eines neuen polnischen Reiches eine für Russland äußerst gefährliche Fortsetzung knüpfen! Der Zar begriff sofort die Gefahr und hat hartnäckig geschachert, um die Grenzen des neuen Herzogtums einzuschränken; für diesen Zweck nahm er selbst die Schmach auf sich, ein Stück von der preußischen Beute zu beanspruchen, das sonst dazu gedient hätte, das Herzogtum Warschau zu vergrößern.

Dann aber zog Napoleon seine Folgerung aus der Tatsache, dass die preußische Monarchie durch den Zaren gerettet worden war und nunmehr als russisches Vorland gelten musste. Was irgend in seinen Kräften stand, um diese Monarchie selbst in dem verkümmerten Zustand, worin sie aus den Tilsiter Verhandlungen hervorgegangen war, zu erniedrigen und zu knebeln, das hat er mit wahrer Lust getan. Sein besonderer Hass gegen Preußen war nach Tilsit ebenso unverkennbar, wie vor Jena seine besondere Vorliebe für den preußischen Staat. Die persönlichen Gründe für diesen Hass, nach denen die bürgerlichen Historiker in ihrer Art spüren: enttäuschte Illusionen, ebenso grenzenlose wie berechtigte Verachtung des preußischen Königs, unheimliche Angst vor den norddeutschen „Ideologen" – alles das mag mitgespielt haben oder nicht: Entscheidend war das politische Interesse Napoleons, die russische Vormacht niederzuhalten.

Dabei kam ihm die Unfähigkeit der preußischen Generale und Minister auf halbem Wege entgegen. Die Konvention, die der Feldmarschall Kalckreuth am 12. Juli mit Berthier, dem Generalstabschef Napoleons, über die Räumung des Landes durch die französischen Truppen schloss, ist ein Unikum in der Geschichte diplomatischer Verträge. Kalckreuth war einer der bösartigsten und zugleich schwachköpfigsten unter den preußischen Junkern, ebendeshalb aber ein Liebling des Königs; was er in den Verhandlungen mit Berthier leistete, machte ihn nach dem Worte eines preußischen Patrioten reif für den Galgen oder das Irrenhaus. In der Konvention vom 12. Juli wurde allerdings bestimmt, dass mit der Räumung der von den Franzosen besetzten Provinzen des preußischen Staates sofort begonnen werden und dass sie am 1. November 1807 beendet sein sollte. Aber nach einem anderen Paragraphen sollte die Räumung erst beginnen, wenn die dem Lande auferlegten Kontributionen bezahlt seien. Bis dahin sollten auch die Staatseinkünfte der besetzten Landesteile in die französischen Kassen fließen, die französischen Truppen aber vom Lande verpflegt werden. Es blieb dem Belieben Napoleons überlassen, ob sich die Truppenzahl bis in die Tausende oder Zehntausende oder Hunderttausende belaufen sollte. Ebenso wenig war etwas über die Höhe der Kontribution bestimmt. Nach Abschluss der Konvention bemaß Napoleon sie erst auf 73, dann auf 80, danach auf mehr als 120 Millionen Franken, mit der frivolen Bemerkung an seine Bevollmächtigten: Wenn man die Summe auf 200 Millionen bringen kann, wird es um so besser sein. Endlich blieb er bei 150 Millionen stehen, einer Summe, die das arme, durch den Krieg ausgesogene und erschöpfte Land erst nach langen Jahren aufbringen konnte.

Solange blieb der preußische Staat in der Faust des Eroberers, der mit ihm noch viel rücksichtsloser umspringen konnte als mit seinen freiwilligen Vasallenstaaten, denen er doch schon in seinem eigenen Interesse mehr oder weniger schonend begegnen musste. Er hat sich denn auch gegenüber dem preußischen Staate niemals irgendeinen Zwang auferlegt, dadurch aber einen Hass erweckt, der ihm dermaleinst verderblich werden sollte.

So enthielt der Tilsiter Frieden die unzerstörbaren Keime neuer Zwietracht. In allen Versicherungen brünstiger Freundschaft, womit sich Kaiser und Zar überhäuften, waren beide betrogene Betrüger.

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