4. Die militärische Reform

4. Die militärische Reform

Hand in Hand mit der agrarischen und in innerem Zusammenhang mit ihr ging die militärische Reform.

Das altpreußische Heer war ursprünglich ein Söldnerheer. Seine Rekrutierung erfolgte durch angeblich freiwillige, tatsächlich aber je länger je mehr mit Gewalt und List betriebene Werbung. Sie entartete oft zu grässlichem Menschenraub und führte selbst im In-, geschweige denn im Ausland zu blutigen Zusammenstößen. Und vor allem war sie auch sehr kostspielig. Diese betrübende Tatsache brachte die junkerlichen Kompaniechefs, die gegen ein Pauschquantum an Unteroffizier- und Gemeinensold aus der königlichen Kriegskasse für die etatsmäßige Stärke ihrer Kompanien zu sorgen hatten, auf den pfiffigen Gedanken, ihre erbuntertänigen Bauernsöhne als Rekruten einzustellen. Sie kosteten ihnen kein Handgeld, desertierten selten, und wenn sie je desertierten, so waren sie leicht durch einen ihresgleichen zu ersetzen.

Vor allem aber brauchten sie nicht ununterbrochen bei der Fahne gehalten zu werden wie die unsicheren Ausländer oder die inländischen Strolche, aus denen sich sonst das Heer rekrutierte. Sie wurden nur für die Exerzierzeit eingezogen, die sich erst auf einige Monate und schließlich nur auf einige Wochen im Jahre beschränkte. Daraus ergab sich sowohl der Vorteil, dass die Kompaniechefs den Sold dieser Beurlaubten für den weitaus größten Teil des Jahres in die Tasche stecken konnten, als auch der Vorteil, dass dem Ackerbau die nötigen Kräfte nicht zu lange entzogen wurden. Wann diese Rekrutierungsmethode zuerst begonnen hat, lässt sich nicht aktenmäßig nachweisen, sie ist vermutlich allmählich entstanden, jedenfalls aber so früh, dass sie schon in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in ein System gebracht werden konnte und sogar musste.

Denn auch diese Methode hatte ihre Schattenseiten. Unter ihr setzte sich die alte Gewohnheit der Regimenter, sich gegenseitig die Rekruten abzufangen, in verstärktem Maße fort, und auch insoweit kam der Appetit mit dem Essen, als die junkerlichen Offiziere nicht mehr bloß ihre erbuntertänigen Bauern, sondern auch die städtische Bevölkerung zu „enrollieren" begannen, wie der damalige Kunstausdruck lautete. Damit waren Handel und Handwerk, Industrie und Wissenschaft aufs schwerste bedroht, und die Könige mussten einschreiten, wenn sie nicht selbst kaputtgehen wollten und mit ihnen ihre ganze Kriegsherrlichkeit. Sie gaben deshalb jedem Regiment einen bestimmten „Rekrutenplatz", einen Bezirk, worin es „enrollieren" durfte, amtlich hieß er „Kanton". Dann aber nahmen sie zahlreiche „Exemtionen" von der „Kantonpflicht" vor; teils ganze Provinzen oder ganze Städte, teils einzelne Klassen der Bevölkerung wurden für „kantonfrei" erklärt.

Dies „Kantonsystem" wurde so zu einer Säule des altpreußischen Heeres, wenn auch nicht zur einzigen. Denn da es in dem menschenarmen Lande nicht die nötige Rekrutenzahl aufzubringen vermochte, zumal bei seinen zahlreichen Exemtionen, so blieb das Werben von Söldnern daneben bestehen. Ein fest bestimmtes Zahlenverhältnis zwischen den „Ausländern" und den „Einländern" bestand nicht; es wechselte nach den einzelnen Regimentern oder auch Waffengattungen; selbst zu König Friedrichs Zeit bestanden noch ganze Regimenter aus Geworbenen. Dieser König zog überhaupt die Söldner und selbst Kriegsgefangene den kantonpflichtigen Landeskindern vor, deren Zahl er im Anfang seiner Regierung auf ein Drittel der Gesamtheeresstärke zu beschränken suchte. Er wollte nicht zu viele Hände dem Ackerbau, dem Handwerk, der Industrie entziehen. Deshalb verkürzte er auch die Exerzierzeit, dehnte die Vollmacht zu Beurlaubungen aus, vermehrte die Exemtionen. Er entband die westlichen Provinzen ganz von der Kantonpflicht, ebenso die größeren Städte im Osten, Berlin, Potsdam, Brandenburg, Magdeburg, Breslau, Stettin; dazu ganze Stände, die Beamten, Fabrikanten, Kaufleute, Rentiers, die feineren Handwerke, selbst die „wirklich angesessenen Bürger und Bauern"; nur die ärmsten und widerstandslosesten Schichten der Bevölkerung blieben kantonpflichtig.

Unter seinem Nachfolger änderte sich das Verhältnis zugunsten der Inländer. Weniger weil das Überwiegen der Ausländer, die nach einem Worte Scharnhorsts eine Sammlung der Diebe, Trunkenbolde, Vagabunden, Taugenichtse und Verbrecher aus ganz Deutschland darstellten, das Heer verdarb, obgleich man sich dieser Einsicht unmöglich verschließen konnte, sondern weil die territorialen Umwälzungen um die Wende des Jahrhunderts die ergiebigsten Werbeplätze beseitigten. Das polnische Reich fiel zum größten Teil an Österreich und Russland, das linke Rheinufer an Frankreich; die geistlichen Staaten und die Reichsstädte verschwanden bis auf wenige Reste, und die Rheinbundstaaten, von denen sie hauptsächlich verschlungen wurden, mussten ihre französischen Vasallenheere stellen. So stießen die preußischen Werber fast überall, wo sie bisher heimisch gewesen waren, auf verschlossene Türen.

Gleichwohl kam es bis zum Jahre 1806 zu keiner wirklichen Reform des Heerwesens. Der Stamm der Inländer wurde zwar mehrfach erhöht, aber dank den zahllosen Exemtionen von der Kantonpflicht konnte das notwendige Rekrutenkontingent vom Lande selbst nicht aufgebracht werden. Bestand aber ein Teil des Heeres aus Söldnern, so blieb der Militärdienst so verachtet und eine grausame Disziplin so notwendig, dass an eine Beseitigung der Exemtionen nicht gedacht werden konnte. Aus diesem fehlerhaften Kreise kam man nicht heraus, bis ihn die Schlacht bei Jena sprengte. Nach dieser vernichtenden Niederlage desertierten die Ausländer, die immerhin noch die kleinere Hälfte des preußischen Heeres gebildet hatten, in hellen Haufen.

Wie der König nach dem Frieden von Tilsit die Immediatkommission niedersetzte, um den finanziellen Nöten abzuhelfen, so eine Reorganisationskommission, um das zertrümmerte Heer wiederherzustellen. In sie berief er neben einer Mehrzahl von altpreußischen Junkern zwei Offiziere, die sich in dem unglücklichen Kriege ausgezeichnet hatten: den Generalmajor Scharnhorst, der auch schon vor dem Kriege als der fähigste Kopf des Generalstabs bekannt war, und den Oberstleutnant Gneisenau, der nach zwanzigjährigem Frontdienst in obskuren Garnisonen sich durch die tapfere Verteidigung Kolbergs einen Namen gemacht hatte. Beide hatten zunächst einen schweren Stand mit den Vertretern des alten Schlendrians, aber auch hier musste schließlich der Geist in der Not angerufen werden. Nach heftigen Kämpfen schieden ein paar der unbelehrbaren Gamaschenknöpfe aus; für sie traten zwei jüngere Offiziere ein, die Majore Boyen und Grolman, die in die Ideen Scharnhorsts einzugehen bereit und fähig waren, so dass die Reformer nunmehr die Mehrheit in der Kommission hatten,

Diese Männer, Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Grolman, zu denen sich etwas später Clausewitz gesellte, haben – im Verein mit Stein, der Sitz und Stimme in der Kommission erhielt – das neue Heer geschaffen, das die siegreichen Schlachten gegen Napoleon schlagen sollte. Sie alle standen mit dem ostelbischen Junkertum in keinen oder höchstens sehr losen Beziehungen. Zwei waren Ausländer (Scharnhorst und Gneisenau), zwei auch Bürgerliche, obgleich sie ein frisch gestrichenes v. vor ihren Namen setzen durften (Scharnhorst war der Sohn eines Bauern, Grolman der Sohn eines richterlichen Beamten). Aber auch der Adel der übrigen war nicht weit her und berechtigte sie keineswegs zu dem stolzen Anspruch der brandenburgischen Granden, schon vor den Hohenzollern in der Mark gewesen zu sein. Gneisenaus Adel war etwas dunkler, angeblich österreichischer Herkunft, Boyen entstammte einem böhmischen Emigrantengeschlecht, das nach Ostpreußen verschlagen war, Clausewitz einer alten Theologenfamilie, die sich schon mehrere Generationen hindurch des Adels „begeben" hatte.

So auch war der borussische Patriotismus dieser Männer keineswegs waschecht, und es ist echt preußisch, dass keiner von ihnen je ein selbständiges Kommando in dem Heere geführt hat, das sie geschaffen hatten. Am ehesten waren die friderizianischen Überlieferungen noch in Boyen lebendig, aber gemildert durch die Ethik Kants, den Boyen bewunderte. Als diese Reformer an der Stupidität des Königs zu verzweifeln begannen, haben sie ihn ohne jedes Bedenken verlassen, um fremde Dienste zu nehmen: Gneisenau englische, Grolman erst österreichische und dann spanische, Boyen und Clausewitz russische. Nur Scharnhorst ist der preußischen Fahne treu geblieben trotz verlockender Anerbietungen, die ihm die englische Regierung wiederholt gemacht hatte. Allein auch er ließ seine Söhne in dem englischen Heere dienen mit dem melancholischen Seufzer, Mut und Patriotismus schadeten im preußischen Staate mehr als irgendein Laster.

Wie heute die Stellung zur Sozialdemokratie, so war damals die Stellung zur großen französischen Revolution der Prüfstein der Geister. Über sie dachten die militärischen Reformer ungefähr wie Stein. Sie standen ihr feindselig gegenüber, zumal wegen der Fremdherrschaft, die der Erbe der Revolution über Deutschland gebracht hatte, aber wie sich diese Feindseligkeit daraus erklärte, dass sie mehr Deutsche als Preußen waren, so sahen sie ein, dass die Wiederherstellung des altpreußischen Staates eine reaktionäre und mehr noch eine völlig sinnlose Utopie sei. Was sie gleich Stein an der Französischen Revolution bewunderten, war deren militärische Schlagfertigkeit und Spannkraft; sie begriffen sehr gut, dass die militärische Reform nicht möglich sei ohne die bürgerliche Reform, dass Napoleon nur durch Napoleon besiegt werden könne. „Bonaparte war mein Lehrer in Krieg und Politik", bekannte später Gneisenau als Sieger über Bonaparte, und mit diesem Worte ist das Wesen der militärischen Reformer am treffendsten gekennzeichnet.

Damit ist auch die Grenze ihres Wirkens gezogen, die namentlich von der liberalen Legende in dem Sinne verschoben worden ist, als ob Scharnhorst und seine Gehilfen demokratischen Anschauungen im modernen Sinne des Wortes gehuldigt hätten. Das lag noch ganz außerhalb ihres Gedankenkreises, und es beruht auf dem Missbrauch oder dem Missverständnis der „Miliz", die sie forderten, wenn man ihnen eine Abneigung gegen die stehenden Heere vorwirft. Scharnhorst hat seinen militärischen Ruf gerade dadurch begründet, dass er im Jahre 1792 und später als militärischer Schriftsteller nachdrücklich für die stehenden Heere eintrat, die von englischen, französischen und deutschen Denkern, ja selbst von friderizianischen Offizieren bekämpft wurden, wie von Berenhorst, dem Sohne des alten Dessauers und ehemaligem Adjutanten des Königs Friedrich. Was Scharnhorst unter „Miliz" verstand, drückte er treffender aus, wenn er von „Reserve- und Provinzialtruppen" sprach; er meinte eine Ergänzungstruppe des stehenden Heeres, die zunächst für defensive Zwecke bestimmt war, also etwa der französischen Nationalgarde entsprach. Unter dem Eindruck der Niederlage von Jena hat sich Gneisenau einmal sehr abfällig über die stehenden Heere geäußert, aber das war eine vorübergehende Stimmung. Grundsätzlich hielten die militärischen Reformer, die doch in erster Reihe Soldaten waren, an dem stehenden Heere fest, und nur insofern übertrafen sie das französische Muster, als sie unbedingt für die allgemeine Wehrpflicht eintraten, die in Frankreich durch das Stellvertretungssystem arg durchlöchert war. Arme Teufel von Haus aus, hatten die Scharnhorst und Genossen kein Verständnis für das Vorrecht der besitzenden Klassen, sich vom Wehrdienst loszukaufen.

Die Aufgabe, die sie zu lösen hatten, war schwierig genug. Das alte Heer bestand nur noch in Trümmern; von 233 Bataillonen gab es einige 50, von 255 Schwadronen noch 86. Aber auch diese Formationen konnten aus Mangel an Geld nicht aufrechterhalten werden. Als man den Etat für die ersten drei Monate des Jahres 1808 entwarf, standen einer Einnahme von 386.000 Talern Ausgaben im Betrag von 2.586.000 Talern gegenüber; es ergab sich ein Fehlbetrag von 2.200.000 Talern. Man musste sich mit einigen Barbeständen durchfristen. Und jede Aussicht auf bessere Finanzen war durch das drohende Gespenst der französischen Kriegskontribution ausgeschlossen. Wenn die Kommission ein Heer von 50.000 Mann aufzustellen gedachte, so musste sie auch diese bescheidene Ziffer noch auf etwa die Hälfte beschränken.

Dadurch wurden Tausende von Offizieren aufs Pflaster geworfen, und nicht bloß solche, die im Kriege ihre Pflicht versäumt hatten oder wegen gänzlicher Invalidität verabschiedet werden mussten. Wenn die Kriegsgerichte, die über die Schuldigen zu urteilen hatten, nur verhältnismäßig wenige Strafen verhängten, so war das nicht im Sinne der Kommission, die auf strenge Urteile drängte; sie selbst räumte unnachsichtig unter den Invaliden auf, so dass von den 143 Generalen, die das Heer 1806 gezählt hatte, 1812 nur noch 8 aktiv waren. Das musste schon eine Unsumme von Erbitterung und Hass gegen die Kommission erzeugen, die doch zumeist aus jüngeren Stabsoffizieren bestand; selbst Scharnhorst war erst nach dem Frieden von Tilsit zum Generalmajor ernannt worden. Aber nun gar die bittere Notwendigkeit, die dienstfähigen Offiziere, denen nichts vorzuwerfen war, mit einem Halbsold zu entlassen, von dem sie nicht leben und nicht sterben konnten! „Die Lage ist grausam", gestand Gneisenau, „3000 Offiziere zu verstoßen und nichts als Jammerbriefe."

Dabei hatte die Kommission am König nur ein schwankendes Rohr als Stütze. Er setzte der militärischen Reform sogar stärkeren Widerstand entgegen als der agrarischen, weil er, an kindische Soldatenspielereien gewöhnt, sich einbildete, von militärischen Dingen etwas zu verstehen. Dafür wusste allerdings Scharnhorst den Mann von Gottes Gnaden geschickter zu behandeln als Stein. Dieser schreckte ihn durch ungestümes Wesen; er sei zufrieden mit der Art, wie der König ihn fürchte, meinte er ein paar Monate nach seiner Rückkehr, ohne zu bedenken, dass der Bändiger um so größere Gefahr läuft, wenn der Schrecken einmal versagt. Scharnhorst dagegen kam dem einfältigen Tropfe mit den „historischen Beweisen". Das heißt: Er wusste ihm mit echter Bauernschlauheit einzureden, dass die jeweilige Reform, die auf den königlichen Widerstand stieß, alte Hohenzollernweisheit sei. So erfand Scharnhorst zum Beispiel jenes Prachtstück borussischer Legende, das heute noch in den patriotischen Historienbüchern prunkt: das Kantonreglement von 1733, durch das bereits Friedrich Wilhelm I. die allgemeine Wehrpflicht angeordnet haben sollte.

In einem wichtigen Punkte fanden die militärischen Reformer allerdings freie Bahn: Die Frage der ausländischen Werbung war durch die massenhafte Desertion der Ausländer ebenso einfach wie gründlich gelöst. Damit ergab sich aber die Möglichkeit nicht nur, sondern auch die Notwendigkeit, die grässlichen Körperstrafen zu beseitigen, die das altpreußische Heer entehrt hatten. Die Möglichkeit, weil die doppelte Rücksicht fortfiel, die auf die ausländischen Taugenichtse genommen werden musste: einmal, weil sie nur durch den Stock zusammengehalten werden konnten, und dann auch, weil sie bei der Kostspieligkeit der Werbung durch Freiheitsstrafen nicht zu lange dem Dienst entzogen werden durften. Die Notwendigkeit aber, weil die Aufhebung der Erbuntertänigkeit das Prügeln für die Grundherren zu einer misslichen Sache und für die Offiziere erst recht bedenklich machte. Man hatte allen Anlass, nachdem man das Söldnerheer endlich losgeworden war, nicht seinem chronischen Leiden, der Desertion, ein künstliches Leben zu fristen.

In dem Kampfe gegen die Leibesstrafen entwickelte die Reorganisationskommission eine anerkennenswerte Energie. Zwei ihrer Mitglieder, Gneisenau und Boyen, haben sogar die damals noch sehr ungebräuchliche Waffe der Presse ergriffen, um für die „Freiheit des Rückens" zu streiten. Im Wesentlichen haben sie auch ihren Willen durchgesetzt, was um so mehr sagen wollte, als selbst Stein aufs Prügeln versessen war. Er meinte, im Mittelalter seien Geistliche und Ritter geprügelt worden, ohne Schaden an ihrer Ehre zu nehmen, und erinnerte an die Prügelknechte bei den Turnieren. Jedoch fügte sich Stein, und auch der König vermochte von den unwürdigen Strafmitteln der Söldnerheere nur die Erlaubnis verächtlicher Schimpfworte und die Verlängerung des Dienstes zu retten.

Allein so sehr die Kommission davon durchdrungen war, dass im Kriege nicht nur physische, sondern auch moralische Kräfte entscheiden, so wusste sie doch nicht auf die Disziplin der Entnervung zu verzichten, die nun einmal von stehenden Heeren unzertrennlich ist. Es war noch das wenigste, dass sie eine zweite Klasse von Soldaten schuf: Strafkompanien für ganz unverbesserliche Subjekte, die auch fürderhin geprügelt werden durften. Schlimmer war das von Gneisenau selbst gegen den Einspruch des Generalauditeurs Könen durchgesetzte Recht des Offiziers, bei Widersetzlichkeit gegen seine Befehle den widerspenstigen Soldaten auf der Stelle niederzumachen; am schlimmsten aber die Abmessung und Einrichtung der Freiheitsstrafen, die sich als Folterwerkzeuge nicht gar sehr von den bisherigen Leibesstrafen unterschieden. Vom strengen Arrest, der noch nicht einmal die härteste der neuen Strafen war, hat der alte Ziegler, bei all seiner Verehrung der preußischen Disziplin, noch 1872 im Reichstag gesagt, eine Strafe von diesem Raffinement habe er nicht einmal im corpus juris militaris von 1712 gefunden, so viel darin von Arkebusieren, Füsilieren und Spießrutenlaufen gehandelt würde. An dem System der entnervenden Disziplin haben die militärischen Reformer also festgehalten, und so hat ihr Kampf gegen die körperlichen Misshandlungen im Heere, so beredt und eifrig er geführt wurde, doch nur erreicht, dass sich der Stock aus der Öffentlichkeit der Märkte und Gassen in die Heimlichkeit der Kasernen zurückgezogen hat.

Mit dem Verzicht auf die ausländische Werbung war die eine Säule des altpreußischen Heeres zusammengebrochen. Die andere, das Kantonsystem mit seinen Exemtionen, wollten die militärischen Reformer durch den breiten Unterbau der allgemeinen Wehrpflicht ersetzen. Allein wenn sie damit auf den stärksten Widerstand des Königs und der altfritzigen Gamaschenknöpfe stießen, so lagen auch in der Sache selbst große Schwierigkeiten. Bisher war der Militärdienst ein lebenslänglicher Beruf gewesen, der erst mit dem Tode oder völliger Invalidität endete; nur für die kantonpflichtigen Landeskinder hatte sich eine zwanzigjährige Dienstzeit gewohnheitsmäßig ausgebildet. Das System der Beurlaubungen verkürzte diese Zeit allerdings beträchtlich: Die frisch ausgehobenen Kantonisten mussten für ihre Ausbildung zunächst 3 Monate, dann aber jedes Jahr nur 1 Monat, die sogenannte Exerzierzeit, im ganzen also 22 Monate bei der Fahne bleiben. Scharnhorst wollte nun die gesamte Dienstzeit auf 6 Jahre verkürzen, aber selbst dann reichten die vorhandenen Kader, auf die man durch die Finanznot beschränkt war, nicht entfernt aus, um auch nur die kantonpflichtigen Landeskinder, geschweige denn die gesamte wehrfähige Mannschaft, auszubilden, wozu dann noch der vorläufig unbesiegbare Abscheu aller Klassen, die etwas zu verlieren hatten, vor dem verachteten Militärdienst kam.

So kam Scharnhorst auf den Gedanken, die wehrpflichtige Bevölkerung in zwei Klassen zu teilen, von denen die eine zur Ergänzung des stehenden Heeres, die andere zum Eintritt in die Provinzialtruppen bestimmt war, wie er damals die Miliz nannte. Ins stehende Heer sollten alle treten, die sich nicht selbst bekleiden, bewaffnen und während der Dienstzeit unterhalten könnten; in die Provinzialtruppen alle, die dazu fähig seien. Für die kriegerische Ausbildung der Provinzialtruppen waren in der ersten Zeit 8, dann jährlich 4 Wochen bestimmt; auch sollte den Wehrmännern eine entscheidende Mitwirkung bei der Wahl der unteren Offiziere eingeräumt werden. In Friedenszeiten sollten die Provinzialtruppen hauptsächlich den Garnisonsdienst versehen, um den stehenden Truppen größeren Spielraum für den Felddienst und das Scheibenschießen zu schaffen; im Kriegsfall sollten sie zunächst in ihrer Provinz verwandt werden, aber wenn es die Deckung der Monarchie erfordere, auch außerhalb. Dabei fasste die Kommission eine militärische Vorbildung schon für die Schulen ins Auge, unter Beseitigung der Kadettenhäuser, von denen die Reformer als Brutstätten adligen Standeshochmuts nichts wissen wollten.

Dieser erste Versuch, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, misslang vollständig, obgleich ihn die Reorganisationskommission einstimmig befürwortete. Nicht nur der König sträubte sich dagegen von seinem subalternen Korporalsstandpunkt aus, sondern auch ein Teil der bürgerlichen Reformer sah in der allgemeinen Wehrpflicht das Grab aller Kultur. Männer wie Altenstein und Niebuhr haben sich aufs schärfste dagegen ausgesprochen, und selbst Stein war nicht mit ganzem Herzen dabei. Er wollte zwar die Exemtionen aufheben, soweit sie sich unterschiedslos auf ganze Provinzen und Städte, aber nicht, soweit sie sich auf einzelne Gewerbe erstreckten, was gerade die gebildeteren Elemente aus dem Heere ausgeschlossen haben würde.

So blieb es bei dem Kantonsystem, wie es zuletzt durch das Kantonreglement von 1792 angeordnet worden war. Um aber wenigstens die kantonpflichtigen Landeskinder sämtlich auszubilden, erwirkte die Kommission einen Kabinettsbefehl, worin verfügt wurde, dass jede Kompanie der Infanterie drei bis fünf oder auch noch mehr Mann beurlauben und dafür ebenso viele Kantonisten einziehen, diese einen Monat lang exerzieren, dann wieder entlassen, an ihre Stelle aber andere Kantonisten einziehen sollte. Die Mannschaften, die auf diese Weise ausgebildet wurden, hießen im Volksmund „Krümper", ein Name, dessen Ursprung nicht mehr nachzuweisen ist. Erfunden ist diese Einrichtung von Scharnhorst, obgleich er dem argwöhnischen König vorspiegeln musste, ein altpreußischer Offizier habe sie angeraten.

Spielte die Aufhebung der Erbuntertänigkeit eine bestimmende Rolle bei der Reorganisation des Mannschaftsbestandes, so die Freiheit des Güterverkehrs bei der Reorganisation des Offizierskorps. Im friderizianischen Staate hatten die adligen Monopole des Großgrundbesitzes und des Offiziersberufs innerlich zusammengehört; fiel das eine fort, so musste auch das andere fallen. Wie bei der Zulassung bürgerlicher Rittergutsbesitzer, so handelte es sich bei der Zulassung bürgerlicher Offiziere nur darum, zur Regel zu machen, was bis dahin Ausnahme gewesen war; Scharnhorst selbst war ja ein lebendiger Zeuge dafür, dass die bürgerliche Intelligenz auch im altpreußischen Heere nicht völlig hatte entbehrt werden können und selbst bis in leitende Stellen vorgedrungen war. Da es zudem einen Überfluss an junkerlichen Offizieren gab, so ist diese Reform vorläufig von keiner großen praktischen Bedeutung gewesen.

Zumal da Scharnhorst und seine Gehilfen weit entfernt davon waren, den aristokratischen Charakter des Offizierskorps zu beseitigen. Nicht von ihnen ging der Vorschlag aus, fortan die Unteroffiziere durch die Soldaten und die Subalternoffiziere durch die Unteroffiziere wählen zu lassen, sondern von dem ehemaligen Minister Hardenberg. Die militärischen Reformer widersetzten sich dem vielmehr in der nachdrücklichsten Weise. Sie wollten die Wahl der Offiziere nicht ihren Untergebenen, sondern ihren künftigen Kameraden und Vorgesetzten anheimgeben, was – da das Offizierskorps für absehbare Zeit doch aus Junkern bestand – von diesen die Zulassung bürgerlicher Offiziere abhängig machte. Wie sehr diese Bestimmung dazu gedient hat, tatsächlich das adlige Monopol des Offiziersberufs aufrechtzuerhalten, bedarf nach einer mehr als hundertjährigen Erfahrung keiner Begründung mehr.

Nun sollte der Eintritt in die Offizierslaufbahn künftighin noch von zwei Bedingungen abhängig sein: einem Mindestalter von 17 Jahren und einem gewissen Maße von Kenntnissen. Dadurch sollte der Unfug ausgerottet werden, dass die Junker schon mit 14, mitunter selbst mit 13 und 12 Jahren in das Heer eintraten, oft nicht einmal im Besitz der dürftigsten Elementarkenntnisse, woraus die Kommission erklärte, dass „die Offiziere in ihrer Bildung gegen alle übrigen Stände so weit zurück seien". Aber es ist doch nur in bedingtem Sinne richtig, wenn ihr nachgerühmt worden ist, dass sie die Aristokratie der Geburt durch eine Aristokratie der Bildung habe ersetzen wollen. Auch diese Seite der Reform hatte sehr ihre zwei Seiten. Denn einmal war das Maß der Kenntnisse, das für das Fähnrichs- und Offiziersexamen vorgeschrieben wurde, so bescheiden bemessen, dass es noch keine „Aristokratie der Bildung" begründen konnte, dann aber wieder so reichlich, dass es für die Klassen, aus denen sich die Unteroffiziere rekrutierten, unerreichbar blieb. Die Bestimmung also, dass die Unteroffiziere zu Offizieren befördert werden könnten, ohne dass zu ihren Gunsten eine Ausnahme von dem Bildungsminimum gemacht werden dürfe, war eine in Goldschaum getauchte, aber hohle Nuss.

Die Kommission ließ es an Bemühungen nicht fehlen, das moralische Bewusstsein des Offizierskorps zu heben. Die Offiziere wurden angewiesen, die Mannschaften menschlich zu behandeln, die Rekruten beim Exerzieren nicht zu schimpfen und zu schlagen; auch sollten sie es an Bescheidenheit und Achtung vor Personen vom Zivilstand nicht fehlen lassen. Immerhin konnte die Wirkung dieser Ermahnungen nicht dadurch gestärkt werden, dass die Strafen für Offiziere eine wesentliche Milderung erfuhren. Wenn im altpreußischen Heere der angehende Offizier, sei es auch nicht mit dem Stocke, so doch mit der flachen Klinge gefuchtelt werden durfte, so wurde diese Leibesstrafe nicht wie bei den Mannschaften durch eine Freiheitsstrafe ersetzt, sondern nur durch mündliche oder schriftliche Verweise. Nur für diejenigen Offiziere, die ein Vergehen oft wiederholt oder ein grobes Verbrechen begangen hatten, wurde als schwerste Disziplinarstrafe die Verweisung in die Offizierarreststube angedroht. Ehrengerichte sollten dem liederlichen Lebenswandel der Offiziere steuern; die einzige Strafe, die sie verhängen durften, war die Erklärung, dass der Angeklagte bis zur erfolgten Besserung des Avancements unfähig sei. Diese Einrichtung war gut gemeint, aber man weiß heute, wie sehr sie sich zum Bollwerk eines abgeschmackten und selbst gemeingefährlichen Standesdünkels ausgewachsen hat. In der Beseitigung der Militärgerichtsbarkeit blieb die Kommission auf halbem Wege stehen. Sie nahm die Familien und das Gesinde des Militärs davon aus, auch die bürgerlichen Rechtssachen der Offiziere und Mannschaften, nicht aber die Kriminalsachen, auch wenn sie in keinem Zusammenhang mit der militärischen Disziplin standen.

Ganze Arbeit machte die Kommission jedoch mit den verrotteten Übelständen, die die militärische Schlagkraft des altpreußischen Heeres gelähmt hatten. Sie beseitigte die schmutzige Kompaniewirtschaft, die nach einem Worte Boyens aus den Offizieren „wuchernde Krämer" gemacht hatte; sie beseitigte auch den schwerfälligen Tross, so entsetzlicher Jammer darüber entstand, dass die Subalternoffiziere kein Reitpferd mehr haben und die Truppen nicht mehr in der altvaterischen Weise des Siebenjährigen Krieges verpflegt werden sollten. Sie stellte den Wachtdienst hinter den Felddienst, ließ die Mannschaften im Scheibenschießen und im zerstreuten Gefecht üben, sandte Offiziere ins Land, um die alten Beurlaubten an Sonntagen in der neuen Taktik zu unterweisen.

In alledem ließ sich die Kommission von dem französischen Vorbild leiten, bei allem Franzosenhass ihrer Mitglieder. Ebendies war ihr historisches Verdienst, und namentlich Scharnhorst erwies sich dabei als eine organisatorische Kraft ersten Ranges. Er war ein praktisch wie theoretisch gleich durchgebildeter Soldat, und er verstand bei überaus beschränkten Mitteln mit der zähen Geduld des niedersächsischen Bauern die schwersten Hindernisse zu überwinden.

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