7. Die städtische Reform

7. Die städtische Reform

Der Verfall des altpreußischen Staates wurde nicht zuletzt, sondern selbst in erster Reihe dadurch verschuldet, dass es in ihm keine Städte gab. Keine Städte im historischen Sinne des Wortes; die Gemeinwesen, die sich so nannten, waren zur einen Hälfte Domänen und zur anderen Hälfte Garnisonen.

In den mittelalterlichen Städten hatte ehedem der Handel das Kaufmanns- und Wucherkapital gesammelt, das die Manufaktur schuf, den Ausgangspunkt der modernen industriellen Entwicklung, zu der das zünftige Handwerk aus sich selbst heraus nicht zu gelangen vermochte. Die Städte wurden so die Haupthebel der politischen und sozialen Umwälzungen, durch die sich im westlichen Europa der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog. In ihnen war jener dritte Stand vertreten, aus dessen Kampf mit dem feudalen Adel sich die moderne Monarchie und der moderne Staat, die Zentralisation der Verwaltung, das stehende Heer, ein ergiebiges Finanzsystem entwickelte.

Östlich der Elbe fehlte diese Entwicklung oder kam doch nicht über kümmerliche Ansätze hinaus. Zwar waren auch an diesen Landesteilen die ökonomischen Umwälzungen des Reformationszeitalters nicht spurlos vorübergegangen; sie hatten aus dem ritterlichen Grundherrn einen warenproduzierenden Gutsherrn gemacht. Je mehr sich die westeuropäische Geldwirtschaft entfaltete, um so mehr wurden das östliche Deutschland und Polen die „europäischen Speicher", die Kornkammern für Spanien, Frankreich, Flandern, England. Allein jene Entwicklung der nationalen Produktion, die im westlichen Europa zur unumgänglichen Vorbedingung des historischen Fortschrittes wurde, vollzog sich hier nicht; sie wurde dadurch abgeschnitten, dass die getreideproduzierenden Grundherren auch den ganzen Getreidehandel an sich rafften und die Handelskapitalien in einem luxuriösen Leben verzehrten, statt sie in gewerblicher Produktion anzulegen.

Die klassische Stätte dieser Erscheinung war Polen, in dessen Geschichte sich von Jahrhundert zu Jahrhundert verfolgen lässt, mit welcher raffinierten Konsequenz die Junker den Getreidehandel monopolisiert und die städtische Entwicklung im Keime erstickt haben. Dass Polen am Mangel eines dritten Standes untergegangen ist, gehört ja auch zu den landläufigsten Behauptungen der bürgerlichen Geschichtsschreibung, in der die Tatsache freilich nur in irgendwelcher ideologischen1 Verkleidung aufzutreten pflegt, am liebsten in der Form, dass keine Nation ohne die herrlichen Tugenden der biederen Bürger bestehen könne. Nicht so offen wird jedoch zugestanden, dass sich die Dinge in den preußischen Stammlanden ganz ähnlich zugetragen haben; auch hier rafften die Junker den Getreidehandel an sich und trieben, wie der Landesherr einmal sagte, eine „ihrem Stande missständige Kaufmannschaft und Nahrung". Sie ließen sich nicht einmal am Handel genügen, sondern warfen sich auch auf den Gewerbebetrieb, monopolisierten zum Beispiel für sich die Bierbrauerei in widerrechtlicher Ausdehnung ihres Vorrechtes, für ihren eigenen Bedarf steuerfrei Bier zu brauen. Sie umgingen so die Bierziese, die auf dem platten Lande wie in den Städten erhoben werden sollte, aber tatsächlich nur in den Städten erhoben wurde, deren Gewerbebetrieb dadurch arg ins Hintertreffen geriet gegenüber dem junkerlichen Gewerbebetrieb. Und nun gar die Akzise, ein wahrer Rattenkönig indirekter Steuern, die, gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts eingeführt, jedoch nur in den Städten erhoben wurde, erstickte Gewerbe und Handel in den Städten, während sie Gewerbe und Handel der Junker völlig frei ließ.

Die Landesherren haben gegen diese Auspowerung der Städte sich wohl gelegentlich aufgelehnt, aber ohne dauernden Erfolg, zumal da sie selbst die größten Grundbesitzer waren und somit den größten Anteil an der junkerlichen Beute erhaschen konnten. Um aus der Akzise möglichst viel herauszuschlagen, verstaatlichten sie die ganze Stadtverwaltung, und um die Kosten des stehenden Heeres möglichst tief herabzudrücken, verlegten sie ihre Bataillone und Schwadronen in die Städte. Der Garnisonchef und der Steuerrat waren die Gebieter, denen die städtischen Behörden gänzlich unterworfen wurden.

Im ostelbischen Deutschland vollzog sich dieser Prozess der Entartung nicht so schnell wie im benachbarten Polen, da die deutschen Städte immerhin seit den Tagen der Hansa mehr zuzusetzen hatten. Aber er vollzog sich doch unaufhaltsam, und es ist die beste Tat Steins gewesen, dass er ihn zu steuern unternahm. Sein eifrigster Helfer dabei war der Königsberger Polizeidirektor Frey, dem es wohl zu danken ist, dass manche Gedanken der französischen Revolutionsgesetzgebung in die preußische Städteordnung aufgenommen worden sind. Jedenfalls hat aber Stein nichts dagegen eingewandt; man kann seiner Städteordnung kein besseres Kompliment machen, als dass die heutige Städteordnung, diese berühmte Urkunde bürgerlicher Selbstverwaltung, nur ein verkümmertes Abbild von ihr ist.

Stein war kein unbedingter Gegner der Zünfte; er hat sie nur für die Ernährungsgewerbe aufgehoben, für die Müllerei, Bäckerei, Schlächterei und Hökerei; die Befugnis, seine ersten Lebensbedürfnisse sich selbst zu bereiten, wollte er dem Volke wiedergeben. Aber die Herstellung oder den Verkauf von Getränken, Brauereien, Schankwirtschaften, Konditoreien rechnete er schon nicht mehr zu den Ernährungsgewerben. Sie blieben zünftig ebenso wie die Schneider, Schuhmacher, Kürschner, Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schlosser, Klempner, Drechsler, kurzum alle sonstigen Gewerbe.

Um so mehr ist anzuerkennen, dass Stein einem Gemeindegesetz der Französischen Revolution die Bestimmung entnahm, dass die Wahl der Stadtverordneten, in denen sich die städtische Verwaltung konzentrieren sollte, nicht nach Korporationen, Ordnungen und Zünften erfolgen dürfte, sondern dass die stimmfähigen Bürger lediglich als Mitglieder der Gemeinde zu wirken hätten. Beschränkt war das Wahlrecht allerdings durch einen Zensus, aber er war nicht drückend. Jeder Bürger hatte das aktive und passive Wahlrecht, der entweder auf städtischem Grund und Boden angesessen war oder je nach der Größe der Stadt ein Jahreseinkommen von 150 bis 200 Talern hatte. Ein solches Einkommen war selbst für Fabrikarbeiter erschwinglich, und ein eigenes Häuschen besaß damals fast jeder Bürger. Immerhin hat Stein in seiner Städteordnung das allgemeine Wahlrecht nicht gewährt, dafür aber das geheime und das gleiche Wahlrecht, das die Koryphäen der Selbstverwaltung inzwischen vertrödelt haben.

Die Einwände, die gegen das geheime und gleiche Wahlrecht heute noch erhoben werden, waren damals schon Gang und gäbe. Stein hat sich von ihnen nicht beirren lassen. Zwar forderte er zuerst die öffentliche Abstimmung aus einem Grunde, der für die damalige Zeit sich hören ließ. Er meinte, dass der ängstliche und verschüchterte Pfahlbürger sich an das Gefühl der Verantwortlichkeit vor der öffentlichen Meinung gewöhnen müsse. Aber er ließ sich durch Frey belehren, dass die öffentliche Abstimmung zum Korruptionsmittel der Reichen und Vornehmen werden würde, und er verzichtete darauf.

Der also gewählten Stadtverordnetenversammlung wurde ein weit bemessenes Feld der Wirksamkeit angewiesen: die Angelegenheiten der städtischen Kämmerei (Ankauf und Veräußerung von Immobilien, außerordentliche Steuern, Anleihen, Prozesse); dazu die Sachen der Armen, der Schulen, der Sicherheits-, Reinigkeits- und Gesundheitspolizei. Der Magistrat sollte der Stadtverordnetenversammlung völlig untergeordnet sein; er wurde von ihr als rein städtische Behörde gewählt, so dass sich auch das Bestätigungsrecht der Regierung auf die formale Frage beschränkte, ob die Wahl richtig vollzogen sei. Jede Sonderstellung des Militärs wurde beseitigt; es sollte wie jedermann der Polizei unterworfen sein und als Organ der Polizei nur auf deren Requisition und nicht anders als im äußersten Notfall gebraucht werden. Für gewöhnlich sollte die Bürgerschaft selbst die Exekutive der Polizei sein unter dem Namen der Schützengilde.

Hierbei geriet die Städteordnung freilich in eine Zwickmühle. In den unruhigen Zeiten, wo sie entstand, hieß es geradezu eine Prämie auf das Verbrechertum setzen, wenn man die Sicherheitspolizei auf das städtische Weichbild einengte, aber es hieß auch die städtische Selbständigkeit im Keime gefährden, wenn man einen bürokratischen Polizeichef in sie setzte. Altenstein sagte ganz richtig, eine neue Städteordnung bedürfe zu ihrer Ergänzung einer neuen Organisation des Polizeiwesens, aber dazu ist Stein nicht mehr gekommen. In einem großen Teil der Städte behielt der Staat die Polizei in der Hand, was der neuen Städteordnung beträchtlichen Abbruch tat.

Sie litt aber noch an einem großen Übelstand, den sie nicht aus der Französischen Revolution, sondern aus dem preußischen Landrecht übernahm, der Unterscheidung zwischen Bürgern und Schutzverwandten. Das städtische Bürgerrecht war zwar nicht allzu schwer zu erlangen, schon gegen eine Gebühr von ein paar Talern, aber verpflichtet zu seiner Erwerbung waren nur diejenigen Bewohner der Stadt, die ein Haus besaßen oder ein konzessionspflichtiges Gewerbe trieben. So bestand die städtische Bürgerschaft überwiegend aus Handwerkern, denen die Praktiken der Zunft noch in allen Gliedern steckten, und die gebildeten Elemente der bürgerlichen Klassen waren viel zu eingebildet, um sich mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher auf dieselbe Bank zu setzen. Daran trug auch Stein einen Teil der Schuld; bei seinem Hasse gegen die „Schreiber" mochte er gar keine „Offizianten" in den Stadtverordnetenversammlungen sehen; er wollte sogar den Justizkommissaren, wie man damals die heutigen Rechtsanwälte nennt, direkt den Eintritt verbieten.

Man hat gesagt, dass Stein gerade deshalb zum Schöpfer dieser Städteordnung geeignet gewesen sei, weil er keine städtischen Beziehungen gehabt habe. Kein noch so liberaler Bürgermeister hätte die Sache gleich gut gemacht. Es hätte ein Reichsfreiherr dazu gehört, dem der Magistrat ebenso wenig am Herzen gelegen hätte wie die Stadtverordnetenversammlung. Diese Ansicht enthält unzweifelhaft einen richtigen Kern; es lässt sich sogar ein urkundlicher Beweis für sie führen: Franz Ziegler, vielleicht der liberalste und auch zugleich fähigste Bürgermeister der vormärzlichen Zeit, hat es geradezu einmal ein Unglück genannt, unter der Städteordnung Steins mit Kommunalangelegenheiten befasst zu sein. Immerhin, wenn er seine Unterordnung unter die Stadtverordnetenversammlung peinlich empfand, so war er doch unbefangen genug, seinen Unwillen gegen die unglückliche Unterscheidung zwischen Bürgern und Schutzverwandten zu richten, durch die gerade die zurückgebliebensten Elemente der Bürgerschaft die Stadtverordnetenversammlungen überschwemmten, so dass allerdings die Städteordnung von 1808 auf Jahrzehnte hinaus an dem bisherigen Stande der Dinge nicht so sehr viel geändert hat. Die Städte sind durch sie keine Schranken der Junkerherrschaft geworden; nicht nur im Falle Zieglers haben sie ihre tüchtigsten Leute dem Hasse der Junker geopfert.

Mag es deshalb richtig sein, dass kein noch so liberaler Bürgermeister den weiten Blick Steins gehabt und das zwar noch eingeengte, aber deshalb nicht karg bemessene Wahlrecht der Bürger zum Triebrad der städtischen Entwicklung gemacht hätte, so ist es doch auch richtig, dass der Reichsfreiherr noch eine mittelalterliche Scheuklappe trug und das Vorbild der Französischen Revolution, die mit einem besonderen städtischen Bürgerrecht überhaupt aufgeräumt hatte, in einem entscheidenden Punkte nicht nachzuahmen wagte. Die „friedliche und gesetzliche Reform" hat immer den Schalk im Nacken.

Fünf Tage nach dem Erlass der Städteordnung erhielt Stein seine Entlassung. Die ihn hätten ersetzen können, die Scharnhorst, Gneisenau, Schön, waren durch den Hass der Junkerpartei von seiner Nachfolge ausgeschlossen, allein ein ausgesprochenes Junkerkabinett lag auch nicht im Interesse dieser Partei. So fiel Steins Erbschaft an ein Ministerium der Mittelmäßigkeiten, das nicht reformfeindlich erschien, aber unfähig auch für die kleinste Reform war. Das Innere erhielt ein Graf Dohna, die Finanzen Altenstein; die Energie beider war so gleich Null, dass Stein sich entschloss, unter Scharnhorsts und Schöns Zustimmung einen alten Widersacher, den ehemaligen Kabinettsrat Beyme, der wenigstens ein kräftiger Mann war, für das Justizministerium zu empfehlen. Der König willigte gern ein, vermutlich mit einem angenehmen Kitzel seines Gottesgnadendünkels; um Beyme im Kabinett zu behalten, hatte er ehedem Stein fortgejagt; jetzt, da er Stein zum zweiten Mal entließ, empfahl ihm dieser denselben Beyme als Leiter der preußischen Rechtspflege. Die Auswärtigen Angelegenheiten erhielt ein Graf Goltz, der sich gegenüber den französischen Behörden überaus weich gezeigt, aber in seinen gegen Stein gerichteten Intrigen einige Ausdauer bewiesen hatte. Nur in dem neu eingerichteten Kriegsministerium blieb die Reform, oder doch in seiner einen Hälfte, wo Scharnhorst mit Gneisenau, Grolman und Boyen schaltete; die zweite Hälfte, das sogenannte Ökonomiedepartement, erhielt ein reformfeindlicher Paradegeneral.

Den scheidenden Stein aber grüßten zwei Salutschüsse, die ihn über die königliche Kläglichkeit erheben konnten. Am 26. November schrieb der General Yorck, ein Urjunker, jedoch kein boshafter und feiger Höfling, sondern in seiner Art ein Mann: „Ein eigensinniger Kopf ist schon zertreten; das andere Natterngeschmeiß wird sich in seinem eigenen Gifte selbst auflösen", und am 13. Dezember erließ Napoleon aus seinem „kaiserlichen Lager" in Madrid folgendes Dekret: „Der p. p. Stein, der Unruhen in Deutschland zu erregen sucht, wird für einen Feind Frankreichs und des Rheinbundes erklärt. Die Güter, die besagter Stein, sei es in Frankreich, sei es in den Ländern des Rheinbundes besitzen sollte, werden mit Beschlag belegt. Persönlich wird besagter Stein überall, wo er von unseren oder unserer Verbündeten Truppen erreicht werden kann, verhaftet." Solche Ehre hatte Napoleon noch keinem seiner Widersacher erwiesen.

1 Mehring gebraucht das Wort „ideologisch" im Sinne von „idealistisch".

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