12. Ergebnisse

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In seinen jüngeren Jahren hat Treitschke einen Aufsatz über Lord Byron geschrieben, worin er auch über die Befreiungskriege spricht.

Darin heißt es: „Man schaute die widerliche Abgötterei, die mit dem rohesten Volke Europas getrieben wurde und leider ein hässlicher Makel der großen Bewegung bleibt. Man hörte jene deutschen Verse, die uns noch heute das Blut in die Wangen treiben:

Ihn jagte der Schrecken des russischen Heers,

Ihn jagte die Wucht des Kosakenspeers.

Hunderte schöner Lippen sangen die schmelzenden Abschiedsworte, die der gefühlvolle Kosak an die gefühlvolle Kosakin gerichtet haben sollte: Schöne Minka, ich muss scheiden. Wahrlich, zur rechten Stunde erschien Byrons grimmige Satire auf die Erstürmung von Ismail; sie zeigte der Welt diese Befreier Europas in anderem Lichte, den ganzen Zorn des freien Mannes ergoss sie über die geknechteten Barbaren, die zur Schlachtbank stürmten unter dem Lästerruf: Gott und die Kaiserin!… Und was war mit allem Blut und Jammer der Völker gewonnen? Die Pläne des

Welteroberers waren verdrängt durch ein politisches System, das in Wahrheit kein System war, durch das ideenlose Rechnen von heute auf morgen, durch die Feigheit und Gedankenlosigkeit, die ihre Nichtigkeit hinter einigen salbungsvollen Phrasen verbargen. An die Stelle des genialen Imperators trat nun das unfähige Dreigestirn:

Die irdische Trinität, Gott nachgeschaffen,

So, wie der Mensch sich wiederholt im Affen.

Konnte die Welt wirklich noch über den Sturz der Fremdherrschaft jubeln, wenn auf dem Wiener Kongress in echt bonapartistischem Geiste mit frivoler Missachtung der Volkstümlichkeit die Grenzen der Länder bestimmt wurden, wenn dann russische Späher den Volksgeist belauschen und vor den Mächten verklagen durften?… Hatte man noch ein Recht, von Freiheitskriegen zu reden, wenn mit der Freiheit auch die Jesuiten zurückkehrten und die Inquisition des .katholischen Molochs' von Spanien? Den zwiespältigen Charakter der Freiheitskriege zu leugnen, wird den gesinnungstüchtigen Phrasen der Gegenwart nie gelingen. Die Kabinette hatten in Napoleon den Zertrümmerer der alten feudalen Unordnung, den Sohn der Revolution bekämpft, die Völker den Fremden und den Despoten. War es nicht eine rühmliche, eine notwendige Tat, den reaktionären Zug, der die Bekämpfung Napoleons bezeichnete, schonungslos der Welt zu enthüllen? Das können nur jene verneinen, die nichts ahnen von der echten historischen Gerechtigkeit, die dem Pöbel als mattherzige Halbheit gilt." Soweit Treitschke, der sich später dann freilich auch von den „gesinnungstüchtigen Phrasen" hat betäuben lassen.

So viel Richtiges nun aber auch seine beredten Ausführungen enthalten, so bedürfen sie doch mancherlei Einschränkungen. Von einem Kampfe der „Völker" kann man mindestens in den Jahren 1813 und 1814 kaum noch sprechen; um von den englischen Söldnerheeren ganz zu schweigen, so zogen die russischen Heere halb widerwillig in den Kampf, nachdem sie den Feind vom russischen Boden vertrieben hatten, und die österreichischen Heere verdienten durchaus das Lob Metternichs, dass sie nur auf Befehl des Kaisers sich „in Marsch setzten oder Halt machten". Wo etwa wirklich die „Völker" sich gegen Napoleon erhoben, wie in Spanien und 1809 in Tirol, sahen sie in ihm nicht oder doch nicht allein den Fremden und den Despoten, sondern mindestens ebenso sehr den Zerstörer der feudal-mittelalterlichen Unordnung.

Der „zwiespältige Charakter" der Befreiungskriege kann also nur für Deutschland gelten, und auch hier ist noch eine starke Einschränkung nötig. Der größere und reichere Teil der deutschen Nation hat sich gar nicht gegen Napoleon erhoben; die Truppen des Rheinbundes hatten noch im Frühjahrsfeldzug zu seinen tapfersten und treuesten Soldaten gehört; bei Lützen zeichneten sich besonders die Hessen, bei Bautzen die Württemberger aus. Selbst im Herbstfeldzug von 1813 haben die Sachsen noch sehr tapfer bei Großbeeren für Napoleon gekämpft; erst mit der Schlacht bei Leipzig begann der Abfall der Rheinbundfürsten, die nun ihre Soldaten gegen ihren bisherigen Beschützer ins Feld sandten. Aber Kriegstaten wie unter den französischen Fahnen haben diese Truppen als Teile der verbündeten Heere nicht vollbracht, und namentlich in Süddeutschland ist der Name Napoleons noch auf Jahrzehnte hinaus ungleich volkstümlicher gewesen als die Namen Blüchers oder Gneisenaus.

Im Wesentlichen sind es nur die preußischen Provinzen, Ost- und Westpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien, in denen von einem Volkskrieg gesprochen werden kann. Schon in dem mehr äußerlichen Sinne, dass die preußische Monarchie in der Zeit von 1807 bis 1815 eine überaus klägliche Rolle gespielt hat; der preußische König, in dessen Person sich alle Unvernunft der Monarchie nach der intellektuellen wie nach der moralischen Seite klassisch verkörperte, ist immer nur das fünfte Rad und meistens sogar der Hemmschuh am Wagen gewesen. Seinem inneren Wesen nach aber ergibt sich der Volkskrieg schon daraus, dass die preußischen Provinzen nach Boyens Berechnung nicht weniger als sechs Prozent ihrer Gesamtbevölkerung unter die Waffen gestellt haben. Das ist eine in aller Geschichte äußerst seltene Leistung; sie beweist jedenfalls, dass es sich in der Tat um eine Massenbewegung gehandelt hat. Es ist unmöglich, dass sich mit allen noch so gewaltsamen Rekrutierungsmitteln eine gleich hohe Heeresziffer erreichen lässt, wenn die Bevölkerung nicht mit heller Begeisterung zu den Waffen eilt. Und soweit es sich um eine Massenbewegung handelte, richtete sie sich in der Tat nur gegen den Fremden und den Despoten. So kümmerlich die Reformen Steins und Hardenbergs immer sein mochten, so reichten sie trotz alledem aus, in der bürgerlichen und der bäuerlichen Klasse jede Sehnsucht nach der feudalen Unordnung zu ersticken, die vor Jena im preußischen Staate bestanden hatte.

Wenn sich an diesen Tatsachen nicht rütteln lässt, wie nun erklärt es sich, dass ein so ungeheures Ringen doch nur das äußerst magere Ergebnis gehabt hat, dieselbe Junkerherrschaft, die bei Jena in einer lebensunfähigen Form zusammengebrochen war, nach Waterloo in lebensfähiger Form wiederhergestellt zu sehen; in einer so lebensfähigen Form, dass sie ein Menschenalter überdauert und erst durch die Revolution von 1848 wieder erschüttert werden konnte? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der ökonomischen Struktur des preußischen Staates.

Die preußischen Junker waren von jeher die „eigentlichen Regenten" dieses Staates, wie nachgerade auch von den bürgerlichen Geschichtsschreibern anerkannt wird. Sie hatten die Monarchie zu ihrem Werkzeug gemacht und die Bauern in die harten Ketten der Erbuntertänigkeit geschlagen. Aber auch die Entwicklung der Städte hatten sie zu unterbinden gewusst, indem sie Gewerbe und Handel für sich monopolisierten. Es war dieselbe historische Entwicklung, die das polnische Reich zerstört hat. Nur gedieh sie im preußischen Staate nicht bis ans Ende. Einmal hatten die preußischen Städte aus den Tagen der Hansa noch zu viel zuzusetzen, als dass sie so leicht gänzlich umzubringen waren, und dann hatten die Junker auch ein dringendes Interesse, sie bis zu einem gewissen Grade zu schonen.

Was ihnen gefährlich hätte werden können, die Entwicklung einer bürgerlichen Klasse, das haben die Junker zu hindern gewusst. Seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts schieden die Städte aus den Klassenkämpfen innerhalb des preußischen Staates vollständig aus; diese Klassenkämpfe spielten sich namentlich zwischen dem König- und dem Junkertum ab, aber es fehlte auch nicht ganz an Bauernunruhen. In jedem Falle war es die stete Sorge von König- und Junkertum, die Bauern in untertäniger Gesinnung zu erhalten. Dagegen behandelten König- wie Junkertum die Städte mit souveräner Verachtung, und in der Tat regte es sich in den preußischen Städten niemals. Sie schienen nicht einmal eine instinktive Ahnung davon zu haben, dass sie eine Klasse mit besonderen Interessen vertraten. Gleichwohl produzierten sie immerhin noch ein mehr oder minder beträchliches Maß von bürgerlicher Intelligenz, das – da es im Kampfe der eigenen Klasse nicht verwertet werden konnte – sich in den Dienst der herrschenden Klassen stellte und ihnen den nötigen Verstand lieferte, um zu regieren, was die preußischen Könige wie die preußischen Junker gleich gut gebrauchen konnten.

Mindestens seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, seitdem der sogenannte Große Kurfürst mit der Einrichtung eines stehenden Heeres und stehender Steuern begann, ist das bürgerliche Element in den leitenden Stellen der preußischen Regierung unverhältnismäßig stark gewesen. Es erübrigt hier, die Namen der zahlreichen Geheimen Räte, Präsidenten, Minister und selbst Generale aufzuzählen, die aus der bürgerlichen Klasse hervorgegangen sind. Denn die Tatsache ist so bekannt wie unbestreitbar; sie wird von den borussischen Psalmensängern sogar mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, um den „bürgerlichen" Charakter des preußischen Staates zu beweisen. Überflüssig zu sagen, dass dieser Schluss nur dann berechtigt wäre, wenn sich die bürgerliche Klasse aus eigener Kraft einen Anteil an der Regierung erkämpft hätte. So aber lieferte sie den Junkern nur den Verstand, der nun einmal zum Regieren notwendig ist.

Es sind denn auch ganz überwiegend bürgerliche Reformer gewesen, die den preußischen Staat nach dem Zusammenbruch von Jena wiederhergestellt haben. Sie konnten ihn nicht revolutionieren – denn dazu hätte eine entschlossene Klasse hinter ihnen stehen müssen –, sondern nur restaurieren, mit anderen Worten: Sie konnten nur den Junkerstaat, der lebensunfähig gewesen war, wieder lebensfähig machen. Es ist wahr, dass die Junker in ihrer begriffsstutzigen Eigensucht diese für sie heilsame Prozedur anfangs nicht begriffen, sich vielmehr mit Klauen und Zähnen an ihre feudalen Vorrechte klammerten und kein noch so unsauberes Mittel verschmähten, um die Reformer zu stürzen. Aber sie haben mit ihrem hartnäckigen Widerstand doch erreicht, dass die Reformen gerade nur so weit gelangen, als den junkerlichen Interessen entsprach. Die agrarische Reform schuf ihnen eine ungleich festere Grundlage ihrer sozialen Existenz, als sie vor Jena besessen hatten. Die militärische Reform schärfte das mächtigste Werkzeug ihrer Klassenherrschaft. Und die städtische Reform tat ihnen kein Leid: Wussten die Stadtverordnetenversammlungen in den Jahren nach Waterloo, als die Junker ihre Herrschaft wieder gemächlich einrichteten, doch auch nichts Besseres zu tun, als an der einzigen demokratischen Errungenschaft der Kriegsjahre, der allgemeinen Wehrpflicht, zu rütteln; besonders die Berliner Stadtverordnetenversammlung tat sich darin hervor. Das war noch mehr, als die Junker im Grunde verlangten.

In dem wachsenden Grolle der Volksmassen gegen die Fremdherrschaft sahen die Junker dann eine willkommene Gelegenheit, ihre alte Herrlichkeit wiederherzustellen. Ein Urjunker gab mit der Konvention von Tauroggen das Signal zum Kampfe, und die Junker setzten sich an die Spitze des Volksheeres. Ihren geliebten König drängten sie ungeniert in die Ecke, und wenn er sich schließlich nicht doch gefügt hätte, so hätten sie es wohl auch auf die „Revolution" ankommen lassen, die damals die fremden Gesandten am preußischen Hofe prophezeiten: eine „Revolution", die beiläufig nach der ganzen Lage der Dinge nur darin hätte bestehen können, an die Stelle des Königs ein vielleicht weniger unfähiges Mitglied der königlichen Familie zu setzen. Im Kriege selbst führten die Junker das Heer oft genug wider den Willen und selbst den Befehl des Königs und, wie nicht bestritten werden darf, mit einer Tapferkeit, die die Schmach von Jena einigermaßen zu tilgen geeignet war.

Man sagt wohl, das alles hätten sie im Interesse ihrer Klasse getan. Das ist auch ganz richtig und eine treffende Abwehr der Prahlerei, womit sich die Junker dem Gemeinwohl geopfert haben wollen. Allein es wäre manches anders und besser gekommen, wenn auch die bürgerliche Klasse ein wenig an ihre Interessen gedacht hätte, ehe sie ihre Jugend mit Gott für König und Vaterland in Kampf und Tod schickte.

Um einen Napoleon zu besiegen, reichte freilich die geistige Kraft der Junker nicht aus. Sie bedurfte noch der Reformer, aber keiner von ihnen erhielt ein selbständiges Kommando. Wie wohl sich Gneisenau, der namhafteste General des preußischen Heeres und der verbündeten Heere überhaupt, der wegen seines zweifelhaften Adels und sonstiger „Inkorrektheiten" den Junkern besonders verhasst war, auf seiner Siegeslaufbahn befand, zeigt die Tatsache, dass er nach jedem neuen Siege, nach der Katzbach, nach Leipzig, nach Laon, den Staatskanzler immer flehentlicher bat, ihn nach dem Friedensschluss als Generalpostmeister anzustellen.

Als Führer eines siegreichen Volksheeres aus dem Kriege heimkehrend, waren die Junker obenauf, und sie machten nun kurzen Prozess mit den Reformern, die ihnen das Leben so sauer gemacht hatten. Freilich rächte sich auch an den Reformern, dass sie im Grunde doch nur die Helfer und Stützen des Junkerstaats und nicht die Vorkämpfer eines kräftig aufstrebenden Bürgertums waren. An der europäischen Hegemonie des Moskowitertums tragen die Stein und Gneisenau eine schwere Schuld, und nachdem ihr Hass gegen Napoleon gekühlt war, verloren sie vollends jeden politischen Blick. Gneisenau, der gleich nach dem Frieden von den Junkern aus dem Heere geekelt worden war, erklärte sich damit einverstanden, dass der König sein Verfassungsversprechen brach; Stein war kaum noch von einem in der Wolle gefärbten Reaktionär zu unterscheiden und tobte gegen die harmlose Burschenschaft; Hardenberg gar wurde zum Kinderspott der Junker und scheute nicht davor zurück, um sich auf seinem wackligen Posten zu halten, die blöde Angst des Königs vor den Demagogen zu schüren. Mit den Karlsbader Beschlüssen wurden dann die letzten Reformer ausgeschifft. Dass sie nun gar noch wie entlassene Zuchthäusler unter polizeiliche Aufsicht gestellt wurden, war wohl etwas hart, aber an Sentimentalität kranken die preußischen Junker nun einmal nicht.

Seitdem sind hundert Jahre vergangen, in denen sich wieder und wieder gezeigt hat, dass mit dem Junkertum weder die Monarchie fertig wird noch das Bürgertum, so sehr beide an Glanz und Macht und Reichtum gewonnen haben. Aber dennoch ist sein Untergang besiegelt durch den Kampf der Arbeiterklasse, der frei ist von jeder „Zwiespältigkeit", wie sie das Andenken der Befreiungskriege trübt.

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