Franz Mehring 19090703 Calvin und Luther

Franz Mehring: Calvin und Luther

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 489-492. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 255-258]

Am 10. Juli vollenden sich vierhundert Jahre seit der Geburt des Mannes, der unter den Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts der feinste Kopf gewesen ist und der kirchlich reformatorischen Bewegung die Formen geschaffen hat, in denen sie sich am freiesten und weitesten ausleben konnte.

Calvin war ein geborener Franzose, ein Kind der Picardie, und von früh auf für den geistlichen Stand bestimmt; schon als zwölfjähriger Knabe erhielt er eine Pfründe. Doch gab er, dem Willen seines Vaters gemäß, sehr bald die geistliche Laufbahn auf und widmete sich dem Studium der Rechtswissenschaft, worin er sich sehr ausgezeichnet. Erst nach dem Tode seines Vaters wandte er sich wieder der Theologie zu, angeregt durch einige Schriften der deutschen und schweizerischen Reformatoren, die er bald alle an Konsequenz und Kühnheit hinter sich lassen sollte.

Jedoch hieße es der historischen Bedeutung des Mannes nicht gerecht werden, wenn man ihn nur oder auch nur in erster Reihe als Theologen betrachten wollte. Dies ist freilich die Art der herkömmlichen Geschichtschreibung. Spricht sie von einem Philosophen oder Theologen, so behandelt sie erst seine Ideen oder Dogmen und höchstens beiläufig seine Stellung zu den politischen oder sozialen Fragen, die seine Zeit bewegt haben. Das ist aber der verkehrte Weg, der in eine Welt von Schatten, jedoch nie in die Welt der Wirklichkeit führt. Man versteht Kants „Kritik der reinen Vernunft" erst, wenn man seine politischen Anschauungen begriffen hat, und nicht aus Fichtes Wissenschaftslehre fällt das erhellende Licht auf die historische Bedeutung dieses Philosophen, sondern aus seinem Büchlein vom isolierten Handelsstaat und seinen „Reden an die deutsche Nation".

So auch heißt es im Dunkeln tappen, wenn man Calvin und Luther wesentlich als Theologen betrachtet und den Unterschied zwischen den Richtungen der Reformation, die sie vertraten, in ihren subtilen Haarspaltereien über die Lehren vom Abendmahl oder von der Gnadenwahl sucht. In der Lehre vom Abendmahl stand Melanchthon, Luthers rechte Hand, sogar auf der Seite Calvins. Auch sind sich Calvin und Luther nie in die Haare geraten. Im letzten Lebensjahr Luthers, wo er wilder denn je gegen den Papst tobte, ihn einen „verzweifelten, durchtriebenen Erzspitzbuben, Mörder, Verräter, Lügner und die rechte Grundsuppe aller bösesten Menschen auf Erden" nannte, wo er den wohlwollenden Vorschlag machte, „den Papst, Kardinäle und was seiner Abgötterei und päpstlichen Heiligkeit Gesindel ist, zu nehmen und ihnen als Gotteslästerern die Zungen hinten am Halse herauszureißen und an den Galgen zu nageln", zu dieser selben Zeit las Luther einige Schriften Calvins und rühmte ihren Verfasser als einen gelehrten und frommen Mann, während Calvin an Luther einen sehr ehrerbietigen Brief richtete. Noch nicht zehn Jahre später aber schlossen Katholiken und Lutheraner den faulen Religionsfrieden von Augsburg, von dem sie in holder Eintracht die Calvinisten ausschlossen. Die Lutheraner erklärten den calvinistischen Glauben für schlimmer als den türkischen, und die Calvinisten rangen die Hände über die „mehr als viehische Dummheit" der Lutheraner.

Diese scheinbar rätselhaften Zusammenhänge löst die ideologische Geschichtsauffassung auch nicht dadurch, dass sie statt der Meinungen vielmehr die Charaktere der beiden Männer in den Vordergrund schiebt. Gegenüber dem harten Kirchenregiment, das Calvin in Genf führte, wird Luther als der menschlichere und mildere, der groß- und weitherzigere Reformator gepriesen, der dem „deutschen Gemüt" erst auf die Beine geholfen habe, so dass heute noch sein Geist segnend über dem deutschen Hause schwebe. Und freilich hat Luther keinen Ketzer hinrichten, keinen Zweifler an der göttlichen Dreieinigkeit verbrennen lassen, wie es Calvin zweifellos getan hat. Aber das lag nicht an Luthers gutem oder bösem Willen, sondern nur an seiner Ohnmacht. Hätte er alle Todesurteile, die er gegen die Zweifler an seiner Unfehlbarkeit erließ, auch ausführen lassen können, so hätte er ganz andere Hekatomben aufgeführt als Calvin, und den Bauernsohn, der das ruchlos vergossene Blut von hunderttausend Bauern freiwillig auf seinen Hals lud, soll man uns lieber nicht als kindliches Gemüt aufreden. Als Kirchenstifter war Luther so fanatisch wie Calvin und Calvin so fanatisch wie Luther, was übrigens bei dem einen wie bei dem anderen, solange sich der historische Fortschritt nur in kirchlichen Formen vollziehen konnte, mit bloßer Hintertreppenmoral keineswegs abgetan ist.

Will man wirklich die historische Bedeutung der beiden Männer erkennen, so muss man untersuchen, wie sie sich zu den Fragen gestellt haben, die praktisch ihre Zeit bewegten. Darüber ließe sich freilich ein ganzes Buch schreiben, und so seien hier nur ein paar Fingerzeige gegeben. Luther war noch der Bauer, der an Naturalwirtschaft gewöhnt und der vernünftigen Meinung war, dass der Mensch arbeiten soll, um zu genießen; er liebte Wein, Weib und Gesang, wie er allen guten Dingen dieser Welt gar hold war. Das Ackerwerk ist für ihn eine göttliche Nahrung, die stracks vom Himmel kommt, dagegen will er vom Handel nichts wissen; ähnlich wie Hutten meint er, die Straßenräuber seien geringere Diebe als die Kaufleute, „sintemalen alle Kaufleute täglich die ganze Welt rauben, wo ein Räuber im Jahre einmal oder zwei einen oder zween beraubt". Ebenso wenig will Luther etwas vom Zinsennehmen wissen; „wer etwas leihet und darüber nimmt, der ist ein Wucherer und verdammt als ein Dieb, Räuber und Mörder". Und so jammert Herr Roscher: Von der Produktivität der Kapitalien hat Luther ebenso wenig eine Ahnung wie das strenge kanonische Recht.

Dagegen hatte Calvin schon kapiert, was Herr Delbrück einst als das Geheimnis des neunzehnten Jahrhunderts verkündete: nämlich keine Zinsen zu verlieren. Calvin sah nicht mehr im Ackerbau die göttliche Nahrung des Menschen und nicht mehr in den Kaufleuten schlimmere Räuber als die Banditen der Straße; er lobte vielmehr, dass der Kaufmann aus seinem Fleiß und seiner Industrie (diligentia atque industria) größeren Gewinn ziehen könne als der Ackerbauer aus seiner Tätigkeit, und so erkannte er auch die „Produktivität der Kapitalien" an, indem er geradezu erklärte, das Geld sei nicht unfruchtbar, weil man dafür etwas kaufe, das wieder Geld hervorbringe. Demgemäß entsprang auch die sauertöpfische Strenge, womit Calvin als religiöser Diktator allen sündigen Vergnügungen entgegentrat, der Sorge um die Kapitalbildung, für die zu seiner Zeit das Sparen ein entscheidender Hebel war. Sicherlich ist Luthers lustiges Leben und Lebenlassen für uns sympathischer als die Knauserei Calvins, worüber jedoch nicht verkannt werden darf, dass Calvin die historisch-ökonomisch vorgeschrittenere Richtung vertrat.

Damit hängt zusammen, dass Calvin auch politisch einen weiten Vorsprung vor Luther hatte. Er war fast noch ein Knabe, als der deutsche Reformator durch seinen Verrat an den Bauern zum servilen Fürstenknecht wurde. Natürlich fehlte es nicht an den üblichen Beschönigungen dieser Felonie; „sie verrichten mutig und standhaft das Werk christlicher Helden", versicherte ein Mitkämpfer Luthers von jenen verkommenen Rauf- und namentlich Saufbrüdern, aus denen, höchstens mit der einen oder der anderen Ausnahme, die deutschen Fürsten von dazumal bestanden. Calvin täuschte sich über dies Gesindel nicht; als er im Jahre 1539 mit Melanchthon in Frankfurt zusammentraf, warnte er diesen und sagte voraus, die deutschen Winkeldespoten spielen nur mit der Reformation, um die Kirchengüter an sich zu raffen, die sie nicht für Kulturzwecke verwenden, sondern für ihre Lüste verprassen würden. Calvin selbst war vor dem gleichen Abfall bewahrt; in der reichen Handelsstadt Genf konnte er der neuen Kirche nur eine demokratisch-republikanische Verfassung geben, und es ist dies „Genfer Muster", das durch zwei Jahrhunderte, in denen das Luthertum tiefer und tiefer verkam, dem Bürgertum der Städte, der vorgeschrittensten Klasse der Zeit, die revolutionäre Rüstung gewesen ist.

Durch Arbeiten und Kämpfe aufgerieben, ist Calvin verhältnismäßig früh gestorben, am 27. Mai 1564, aber nicht, wie Luther, verzagend und verzweifelnd, sondern auf der Höhe des Sieges. Selbst in den Norden und Osten Europas, bis nach Polen und Ungarn, drang seine Kirche vor; im südwestlichen Deutschland nahm sie den Kampf mit Rom auf, zu dem das Luthertum längst unfähig geworden war; im westlichen Europa aber bildete sie eine selbständige, immer wachsende Macht, in England, in den Niederlanden, auch in Frankreich, dem Vaterlande Calvins. Nicht lange vor seinem Tode meldete ein venezianischer Gesandter aus Frankreich, keine Provinz des Landes sei mehr frei vom Protestantismus, drei Viertel des Reiches seien von ihm erfüllt – Bretagne und Normandie, Gascogne und Languedoc, Poitou, Touraine und Provence. „An vielen Orten in diesen Provinzen werden Versammlungen, Predigten gehalten, Lebenseinrichtungen getroffen, ganz nach dem Vorbild von Genf, ohne alle Rücksicht auf die königlichen Verbote. Jedermann hat diese Meinungen angenommen; was am merkwürdigsten ist, selbst der geistliche Stand, nicht allein Priester, Mönche und Nonnen – es möchte wohl wenig Klöster geben, die sich unberührt gehalten haben –, sondern die Bischöfe selbst und viele von den namhaften Prälaten." Derselbe Gesandte erstaunte dann, als er nach Genf kam, in wie großartigem Umfang Calvin seine Propaganda trieb, wie viele Prediger er aussandte, wie viele Gelder er empfing und in wie hohem Ansehen er stand …

Indem wir an seinem vierhundertsten Geburtstag diesen Vergleich zwischen ihm und Luther ziehen, sind wir weit entfernt, den einen hinauf- und den anderen herabzusetzen. Hätte Calvin an Luthers Stelle gestanden, so hätte er sicherlich auch nicht gemeinsame Sache mit den Bauern gemacht; hätte Luther an Calvins Stelle gestanden, so hätte er nicht gemeinsame Sache mit den Fürsten machen können. Das ist ja alles selbstverständlich. Aber wenn es ungerecht wäre, die historischen Umstände zu übersehen, die den einen gefördert und den anderen gehindert haben, so gebietet doch die Gerechtigkeit anzuerkennen, worin und wie sehr die calvinistische Reformation der lutherischen Reformation überlegen gewesen ist, zumal da diese Erkenntnis auch heute noch nicht bloß historischen, sondern ebenso politischen Wert hat.

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