Franz Mehring 19010109 Der Ursprung des preußischen Königtums

Franz Mehring: Der Ursprung des preußischen Königtums

9. Januar 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 485-489]

Am 18. d.s. Mts. erlebt das preußische Königtum seinen zweihundertsten Geburtstag, und schon seit langer Zeit ging die Rede, dass dieser Tag mit ungewöhnlichem Pompe gefeiert werden solle. Die Nachricht war auch nicht unwahrscheinlich, nach der Art und Masse der offiziellen Feste, die seit zehn Jahren im Deutschen Reiche gefeiert worden sind, doch ist sie seitdem widerrufen worden. Vielmehr soll sich diese Geburtstagsfeier in bescheidenen Grenzen halten, wobei dahingestellt bleiben kann, was der offizielle Hofstil unter „bescheidenen Grenzen" versteht.

Ein Verzicht auf eine Gelegenheit, dynastischen Pomp zu entfalten, ist heutzutage etwas auffällig, und es wäre selbst nicht ohne ein gewisses politisches Interesse zu erfahren, was diesen Verzicht veranlasst haben kann. Vielleicht hat dabei die Erwägung, dass einige andere deutsche Königskronen demnächst hundert Jahre alt werden, eine gewisse Rolle gespielt. Was der borussischen Krone recht ist, das kann der bajuwarischen Krone nicht wohl versagt werden, am wenigsten, wenn durch eine pomphafte Feier des 18. Januar mit dem Leitmotiv „Vom Kurhut bis zur Kaiserkrone" die dynastischen Empfindlichkeiten an der Isar oder der Elbe gereizt worden wären. Es ist deshalb wohl die Scheu vor unbequemen Konsequenzen gewesen, die diesmal eine pompöse Haupt- und Staatsaktion verhindert hat; indem sich die preußische Krone eine gewisse Resignation auferlegt, fordert sie dieselbe Resignation von der bayerischen, schwäbischen und sächsischen Krone. So gibt es keine vollkommene Freude in dieser unvollkommenen Welt, selbst nicht einmal für eine solche Schöpfung von Gottes Gnaden, wie das preußische Königtum ist.

Gute Patrioten könnten nun freilich sagen, dass es sich hier nicht sowohl um dynastische als um nationale Rücksichten handle, dass die preußische Krone großmütig auf ihr gutes Recht verzichte, um nur ja das peinliche Schauspiel zu verhindern, dass die deutschen Rheinbundkronen, die ihr Dasein der französischen Fremdherrschaft in Deutschland verdanken, ihren hundertsten Geburtstag feierlich begehen. Allein diese guten Patrioten würden sich einem verhängnisvollen Irrtum ergeben, wenn sie annehmen wollten, dass es um den Ursprung der preußischen Königskrone irgend besser stände als um den Ursprung der deutschen Rheinbundkronen. Ganz im Gegenteil! Die napoleonische Fremdherrschaft in Deutschland hat arge Verwüstungen angerichtet, aber auch viel feudalen Schmutz fortgefegt, während die bourbonische Fremdherrschaft nur niederdrückende Erinnerungen hinterlassen hat, und unter dem Schutze dieser Fremdherrschaft, als ihr karikiertes Abbild, ist das preußische Königtum entstanden.

Seitdem der zweihundertste Geburtstag der preußischen Königskrone in Sicht ist, hat sich ein Haufe loyaler Archivare und Professoren abgemüht, das Bild des ersten Hohenzollernkönigs möglichst schön zu färben, was eine schwierige oder vielmehr eine unlösbare Aufgabe ist. Es ist unmöglich, den Berg der Verachtung fortzuwälzen, unter dem Friedrich I. bereits bei seinen Lebzeiten begraben war. Niemand hat dieser Verachtung einen kräftigeren Ausdruck gegeben als sein Enkel, der sogenannte große Friedrich. Dessen Verachtung allein genügt schon als Beweis dafür, dass nicht einmal Gründe preußischer Staatsräson bei der Erwerbung der Königskrone mitgesprochen haben. Diese Staatsräson war am Ende des siebzehnten und im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts gewiss keine ehrwürdige Sache, aber da man von niemandem verlangen darf, dass er aus seiner Haut springen soll, so darf man es auch nicht von einem brandenburgischen Kurfürsten der damaligen Zeit verlangen. Hätte Friedrich I. sich die Königskrone aufgesetzt, weil dabei irgendein Vorteil für seinen Despotismus herausgeschaut hätte, so ließe sich am Ende über die Sache reden.

Allein aller Aufwand byzantinischer Geschichtsklitterei hilft nicht über die Tatsache hinweg, dass die preußische Königskrone geschaffen worden ist, um den französischen Despoten Ludwig nachzuäffen, um in der „königlichen Dignität" einen Vorwand zu haben, die schon von dem sogenannten großen Kurfürsten ausgemergelte Bevölkerung von einer bis zwei Millionen armer Menschen bis auf das letzte Blut in ihren Adern und das letzte Mark in ihren Knochen auszusaugen. In der Tat folgte der Krönung, die am 18. Januar 1701 mit orientalischer Pracht in Königsberg gefeiert wurde, eine fürchterliche Pest auf dem Fuße, die ein Drittel der preußischen Bevölkerung dahinraffte und namentlich Litauen zu einer vollkommenen Wüste machte. Die Todesangst entriss den servilen Behörden einen Schrei der Wahrheit; die schlechte Justiz und Verwaltung, heißt es in einem amtlichen Bericht an den König, sei die Materie, die sowohl die pestilenzialische Seuche als alle Landplagen erzeuge und ernähre.

Alle brandenburgischen Minister und Räte waren gegen die Annahme der Königswürde, weil sie der Staatsräson nicht nur nicht entsprach, sondern selbst direkt widersprach. Der brandenburgische Kurfürst erkaufte die Erlaubnis, sich außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, im Herzogtum Preußen, zum König krönen zu lassen, vom deutschen Kaiser damit, dass er diesem die brandenburgischen Truppen auf eine Reihe von Jahren für die habsburgischen Hauskriege überließ. Damit machte er aber seinen eigenen Staat völlig wehrlos in den diesen Staat unmittelbar berührenden Händeln zwischen Polen, Schweden und Russland; er überlieferte sich, wie er selbst sagte, der „Diskretion des Zaren", und so steht die russische Hegemonie schon hinter der preußischen Königskrone, wie sie sechzig Jahre später, beim Ausgang des Siebenjährigen Krieges, hinter der preußischen „Großmacht" stand. Die brandenburgischen Minister und Räte von dazumal waren nichts weniger als erhabene Charaktere, sie waren gewissenlos im Sinne der damaligen Staatsräson, feil für bourbonisches wie für habsburgisches Gold, aber ebendeshalb hatten sie ein lebhaftes Interesse daran, ihren Staat nicht um eines kostspieligen Spielzeugs willen, wie diese Krone war, zu einer gänzlichen Null in dem europäischen Staatenkonzert zu machen. Jedoch nicht einmal diese Staatsgesinnung, so kläglich sie sein mochte, besaß der erste Hohenzollernkönig; indem er sich die Krone aufsetzte, hörte er nur auf die Stimme seiner nichtigen Eitelkeit, die schon die Verachtung seiner gescheiteren Frau erregte, wie später die Verachtung seines Enkels.

Seine rechte Hand bei Erwerbung der Königskrone war ein elender Höfling, ein pfälzischer Junker, namens Kolbe, der dann zu einem Grafen von Wartenberg avancierte und unter diesem Namen vor dem Richterstuhl der Geschichte an den Schandpfahl geschmiedet worden ist. Erst als Oberkammerherr und dann als Premierminister bezog er ein jährliches Einkommen von mindestens hunderttausend Talern, aber nicht zufrieden mit dieser, selbst heute ja noch ganz respektablen und damals ungeheuren Besoldung, scheffelte er sich durch unrechtmäßige Plünderung der verhungernden Bevölkerung noch mehrere Millionen zusammen. Als dann endlich doch seine Raubwirtschaft unter den Flüchen der mit allen Geißeln des Elends gepeitschten „Untertanen" zusammenbrach, entließ der erste Hohenzollernkönig den Liebling seines Herzens nur unter strömenden Tränen und gab ihm eine Jahrespension von 24.000 Talern, die nach dem Tode Wartenbergs auf dessen Frau übergehen sollte.

Diese Person war nämlich die Mätresse des ersten Hohenzollernkönigs. Es ist ein Hochgenuss, der selbst verhärteten Gemütern Tränen der Rührung entlocken kann, in den preußischen Geschichtsbüchern zu lesen, das Verhältnis sei „durchaus rein" gewesen; nur weil Ludwig XIV. Mätressen gehabt habe, sei Friedrich I. auf den ganz platonischen Gedanken verfallen, sich eine Mätresse zu halten, um den Glanz seiner neuen Krone zu erhöhen. Es stimmt nun auch mit der platonischen Liebe, soweit es auf den König ankommt, der in diesem Punkte impotent war wie in jedem anderen. Aber die Gräfin Wartenberg war darin um so unersättlicher und, kurz gesagt, das liederlichste Weibsbild, das die Skandalchronik fürstlicher Kebse je zu verzeichnen gehabt hat. Mit dirnenhaftem Stolze rühmte sie sich, dass man eher die Muscheln am Strande von Scheveningen zählen könne als ihre Liebesabenteuer. Einem polnischen Liebhaber, der sich eine galante Krankheit von ihr geholt hatte, zahlte sie 50.000 Francs Entschädigung, worauf ein anderer ihrer Liebhaber, der in ihren Umarmungen zweimal dasselbe Pech gehabt. hatte, 100.000 Francs von ihr beanspruchte. August der Starke von Sachsen, der, wie seine 352 Bankerte zeigen, gerade kein Tugendheld war, entzog sich mit Ekel den ihm aufgedrängten Zärtlichkeiten dieser Metze, die nach einer Behauptung der Herzogin von Orleans sogar ihren fünfzehnjährigen Sohn zu blutschänderischem Umgang gezwungen hat. Die Gräfin Wartenberg war nun aber in dem ersten Jahrzehnt des preußischen Königtums die unbedingte Beherrscherin der Krone; sie hatte bei Hofe den Rang vor allen unverheirateten oder nicht an regierende Fürsten vermählten Prinzessinnen und schleppte bei der Entlassung ihres Zuhälters von Ehemann neben dessen zusammengeplünderten Millionen für ihr Teil noch einen Juwelenschatz im Werte von einer halben Million Talern ins Ausland.

Eher noch zu milde als zu hart urteilt ein preußischer Patriot, der zugleich ein namhafter Historiker war, urteilt Niebuhr über das höfische Treiben des ersten Hohenzollernkönigs: „Der Hof Friedrichs war unbeschreiblich widerlich, er war roh und frivol zugleich. Es gibt keine ekelhaftere Frivolität als die bei unseren Vorfahren in der letzten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts. Dieser Vorwurf trifft den Hof Friedrichs in vollem Maße." Ein Produkt nun dieses Hofes, und dieses Hofes allein, war die preußische Königskrone. Die historischen oder gar welthistorischen Wirkungen, die von ihr ausgegangen sein sollen, und die heute von so vielen Hofhistorikern oder solchen, die es werden wollen, so rührsam geschildert werden, gehören ins Gebiet theologischer Mystik, um nicht zu sagen byzantinischer Flohknackereien. Gewiss hat der preußische Staat, der soweit gelangt ist, schließlich das übrige Deutschland zu verschlucken, seine historischen Ursachen gehabt, aber welches diese Ursachen sonst immer gewesen sein mögen, so haben sie in keinem Falle etwas zu tun mit den menschlichen Tugenden und Vortrefflichkeiten der Hohenzollern und am wenigsten des Hohenzollern, der die preußische Königskrone geschaffen hat.

Es ist die verkehrte Welt, wenn dieselben Hofhistoriker, die dem Volke die beiden letzten Jahrhunderte preußisch-deutscher Geschichte als das gottbegnadete Werk der gottbegnadeten Hohenzollern zurecht fabeln, sich als die einzigen Erbpächter „historischer Objektivität" aufspielen. Diese Sorte „historischer Objektivität" besteht in dem simplen Rezept, alles Schlechte zu verheimlichen, das die Hohenzollern getan haben, und ihnen alle möglichen Großtaten nachzurühmen, die sie nie vollbracht haben. Über die Schandwirtschaft Ludwigs XV. mit seinen Pompadours und Dubarrys wissen diese christlich-germanischen Tugendbolde den Mund nicht weit genug aufzureißen, aber man lese die bisher schon erschienenen loyalen Festaufsätze und Festschriften zur Zweihundertjahrfeier des preußischen Königtums, und man wird auch nicht die Spur einer Andeutung davon finden, dass unter Friedrich I. eine noch viel ärgere Schandwirtschaft bestanden hat als unter Ludwig XV., dass, verglichen mit der Gräfin Wartenberg, die zehn Jahre lang mit der eben geschaffenen preußischen Königskrone ihr schnödes Spiel getrieben hat, die Dubarry und namentlich die Pompadour noch ganz erträgliche Persönlichkeiten gewesen sind. Dafür werden dieser Krone unermessliche Gnadenwirkungen angedichtet, mit einer Fixigkeit und Unbedenklichkeit, die den knechtseligen Theologen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts noch im Grabe ein Gefühl der Scham darüber einflößen könnte, was für armselige Stümper sie doch gewesen sind, verglichen mit den heutigen patriotischen Historikern.

Den Gipfel erreicht dies hässliche Gebaren, wenn nun gar noch städtische Körperschaften, wie gleich hier in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten, das Geld der städtischen Steuerzahler verschwenden, um die Schulkinder mit den Traktätchen der höfischen Legende zu vergiften. Da muss vor allem die Arbeiterpresse den Eltern der so traurig misshandelten Kinderseelen das Gegengift der historischen Wahrheit reichen, und diese Pflicht wird sie zu erfüllen wissen. An und für sich macht es ihr gewiss kein Vergnügen, sich mit dem, um mit Niebuhr zu sprechen, „unbeschreiblich widerlichen" Morast des Hofes zu befassen, aus dem die preußische Königskrone entstanden ist; wir wüssten nicht, dass sich die sozialdemokratische Presse seit vierzig Jahren je besonders mit dem ersten Hohenzollernkönig befasst hätte. Aber wenn die höfische Legende provozierend auf den öffentlichen Markt tritt, um öffentliche Verheerungen anzurichten, so muss sie auf den Kopf geschlagen werden. Das wird geschehen, genau so weit, wie es notwendig ist, selbst wenn sich die „Kreuz-Zeitung" und ähnliche gottesfürchtige Blätter in der erhebenden Drohung eines neuen Ausnahmegesetzes gefallen, womit das gesegnete Andenken der Gräfin Wartenberg und ihres, heilig wie unheilig, gekrönten Liebhabers vor jeder entweihenden Kritik geschützt werden soll.

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