Vorwort 1893

Vorwort [zur ersten Auflage von 1893]

Die Aufsätze über die Lessing-Legende, die ich vom Januar bis Juni vorigen Jahres im Feuilleton der „Neuen Zeit" veröffentlicht habe, sind für diese neue Ausgabe sorgfältig durchgesehen, in vielen Einzelheiten ergänzt und vervollständigt, in manchen Abschnitten, so im sechsten, siebenten, neunten Kapitel des ersten, dann auch in den drei letzten Kapiteln des zweiten Teils beträchtlich vermehrt worden.1 Alle diese Erweiterungen bezwecken, die grundsätzliche Scheidung zwischen dem aufgeklärten Despotismus und der klassischen Literatur im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts noch schärfer durchzuführen, den eigentlichen Nebelkern der Lessing-Legende, namentlich soweit er die Probleme der deutschen Gegenwart verschleiert, noch gründlicher aufzurollen, als in den Blättern einer wissenschaftlichen Wochenschrift aus technischen Gründen möglich war.

Diesem Zwecke soll besonders auch die ausführlichere Schilderung des friderizianischen Staats dienen. Denn je klarer sich dieser Staat als das geschichtliche Erzeugnis eines Klassenkampfes zwischen ostelbischem Fürsten- und Junkertum herausstellt, umso schärfer tritt unsere klassische Literatur als der Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums hervor. Sollte ich trotzdem in den betreffenden Abschnitten ausführlicher geworden sein, als sich mit meiner eigentlichen Aufgabe vertrug, so werde ich mich damit trösten, dass heutzutage die friderizianische Legende niemals ganz am unrechten Orte beleuchtet werden kann.

Der Anhang über den historischen Materialismus2 verdankt seinen Ursprung mancherlei Fragen und Zweifeln, die in freundlichen Zuschriften aus dem Leserkreise der „Neuen Zeit" an mich gelangten. Kundige werden die kleine Arbeit nachsichtig beurteilen; ich habe sie jedenfalls mit lebhafter Freude an der Sache geschrieben. In der Kritik der Lessing-Legende war mir nur selten einmal eine Gelegenheit gegeben, die Schriften von Marx und Engels anzuziehen; gleichwohl, wenn ich diesen oder jenen neuen Gesichtspunkt für das Verständnis der deutschen Geschichte eröffnet haben sollte, so beschränkt sich mein Verdienst auf die rückhaltlose Anwendung der materialistischen Forschungsmethode, die Marx und Engels in so einleuchtender, so klarer, so unwiderleglicher und deshalb so epochemachender Weise entwickelt haben. Es konnte mir nicht anders als sehr willkommen sein, in einer sachlichen Erörterung des historischen Materialismus zugleich eine Schuld persönlichen Dankes abzutragen.

Berlin, im Juni 1893

F.M.

1 Unter dem Titel „Die Lessing-Legende. Eine Rettung" von Franz Mehring erschien die Erstfassung im Feuilleton der „Neuen Zeit". Erste Abteilung: Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Erster Band, S. 540-544, 570-576, 601-608, 632-640, 665-672, 696-704, 728-736, 761-768, 792-800, 824-852. Zweite Abteilung: Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Zweiter Band, S. 121-128, 152-160, 184-192, 216-224, 248-256, 279-288, 312-320, 344-352, 376-384, 408-416, 440-448. Die Buchausgabe von 1893, die ebenfalls noch den Untertitel „Eine Rettung" trägt, enthält gegenüber dem Zeitschriftendruck wohl die von Mehring genannten Erweiterungen, aber keine entscheidenden Textänderungen. Auf die Aufnahme von Varianten konnte daher verzichtet werden.

Der 2. Auflage (1906) gab Mehring den Untertitel „Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur". 1946 gab Hans Mayer im Mundus Verlag AG Basel „Die Lessing-Legende" gekürzt heraus. Die Ausgabe, die 1946 im Gebr. Weiss-Verlag in der „Bearbeitung" von Dr. Karl Schröder erschien, stellt eine direkte Falsifikation wichtiger Gedanken Franz Mehrings dar.

1953 kam „Die Lessing-Legende", fußend auf der 2. Ausgabe von 1906, als 25. Band der Bücherei des Marxismus-Leninismus im Dietz Verlag in Berlin heraus und erschloss dieses wichtige Werk den Lesern der Deutschen Demokratischen Republik.

2 Den Anhang „Über den historischen Materialismus" nahm Franz Mehring in die zweite Auflage nicht mehr auf.

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