Franz Mehring 19050125 Eine Mahnung

Franz Mehring: Eine Mahnung

25. Januar 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 569-572. Nach Schriften, Band 5, S. 472-476]

Es ist ein trivialer Satz zu sagen, dass jede Revolution eine internationale Bedeutung habe. Sogar die kurzsichtige Politik Metternichs lebte recht eigentlich von diesem Satze, den sie in unzähligen Wendungen ableierte. Man hat sie deshalb weidlich verspottet, aber das Jahr 1848 bewies, dass sie bei aller überflüssigen Gespensterseherei dennoch von einem ganz richtigen Instinkt geleitet war. Ohne den 24. Februar in Paris kein 13. März in Wien und kein 18. März in Berlin. Aber auch das Zurückfluten der revolutionären Welle wäre in jenem schicksalsvollen Jahre unmöglich gewesen, wenn sie nicht in dem zarischen Despotismus auf einen Felsen gestoßen wäre, den sie noch nicht wegschwemmen konnte.

So kann man auch die internationale Bedeutung der russischen Revolution, die seit drei Tagen sich zu entladen begonnen hat, nicht früh und nicht scharf genug erwägen. Sie geht kein Land so nahe an als Deutschland. Seit nunmehr 140 Jahren, solange der preußische Staat als Großmacht mitgezählt wird, verdankt er diese Stellung dem zarischen Protektorat. Nur als Vasall Russlands überstand der preußische Held Friedrich den Siebenjährigen Krieg. Als Vasall Russlands apportierte er dann die polnische Beute, um mit ihrem schlechtesten Teile abgespeist zu werden. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. ließ sich von der Zarin Katharina in den so unsinnigen wie ruchlosen Krieg mit der Französischen Revolution hetzen, deren Führer dem Staate des „aufgeklärten" Friedrich mit offener Hand entgegenkamen und erst gar nicht begreifen konnten, gerade in Berlin auf einen so dumpfen wie hartnäckigen Widerstand zu stoßen. Hypnotisiert von jener Katharina, die Lord Byron als „die größte aller Kaiserinnen und Huren" verewigt hat, schwelgte der dicke Wilhelm nach Treitschkes Wort in ritterlichen Hochgedanken; „er sah sich jetzt als den Vorkämpfer des rechtmäßigen Königtums, auch die Gestalten des Arminius und anderer Retter des deutschen Vaterlandes erschienen ihm in seinen Träumen". Diese heroischen Träume fanden jedoch ein trübseliges Ende im Kote der Champagne und in der Schmach des Baseler Friedens.

Allein es blieb bei der russischen Oberhoheit, deren Joch Friedrich Wilhelm III. so geduldig trug wie sein Vater. Als Adjutant des Zaren machte er die feudalen Feldzüge gegen Napoleon, den Erben der Revolution, mit und brach schmählich die feierlichen Versprechungen, durch die er „sein Volk" in den blutströmenden Kampf mit Gott für König und Junkertum gelockt hatte. Es folgten die traurigen Jahrzehnte, in denen ganz Deutschland als russisches Paschalik berüchtigt war, in denen das Junkertum unter dem Schutze des Zaren seine durch den französischen Vorstoß nur erst erschütterte Herrschaft von neuem befestigte. Unter Friedrich Wilhelm IV. nahm die Kriecherei vor Russland einen noch immer wachsenden Grad an; der in seiner Weise geistreiche Kopf zitterte vor jedem Stirnrunzeln seines Schwagers, des beschränkten Zaren Nikolaus. Höhnischer und verächtlicher ist nie ein Vasall von seinem Lehensherrn misshandelt worden als dieser preußische König von dem russischen Selbstherrscher.

Kam die Revolution von 1848. Selbst in den ersten Schrecken der Märztage, als ihm das Bewusstsein seiner Gottähnlichkeit von den Berliner Arbeitern gründlich ausgetrieben worden war, verlor Friedrich Wilhelm IV. nicht das Gefühl untertäniger Ehrfurcht vor Väterchen; er stieß die Hand zurück, die ihm die Polen boten, um das zarische Joch abzuschütteln, und erstickte die polnische russenfeindliche, aber deutschfreundliche Bewegung in einem gräuelvollen Blutbad. Der Zar selbst behandelte damals den preußischen Staat wie eine meuterische Provinz. Bereits im Juni 1848 bot er dem Prinzen von Preußen die Hilfe des russischen Heeres an, um die „Ordnung" in Berlin wiederherzustellen; im Herbste desselben Jahres machte er dasselbe Anerbieten dem General Dohna, der in Königsberg kommandierte. Die als Manuskript gedruckten Denkwürdigkeiten Dohnas bestätigen ausdrücklich die auch sonst bekannte Tatsache, dass der Zar ihn gefragt habe, ob er nicht der preußische Monk werden und mit dem ersten Armeekorps auf Berlin marschieren wolle; die ganze russische Armee solle ihm als Reserve dienen. So ergebene Russenknechte der Prinz von Preußen und auch der General Dohna waren, so hatten sie dies Anerbieten nicht angenommen, jedoch nicht aus verletztem Selbstbewusstsein, sondern weil inzwischen der Verrat der Bourgeoisie an der Revolution die zarische Hilfe überflüssig gemacht hatte.

Wie dann der Zar in Warschau und Olmütz den Leichenraub strafte, den die preußische Regierung auf eigene Faust an der deutschen Revolution versucht hatte, ist bekannt genug. Dieser beispiellosen Demütigung des preußischen Staats jauchzten die preußischen Junker begeistert zu, mit Bismarck an der Spitze, und feierten den Zaren als den „Vater des Vaterlandes". Es kam so weit, dass im Jahre 1854 ein preußischer Prinz den eben neu ausgearbeiteten Mobilmachungsplan dem Petersburger Hofe verriet. Als dann England und Frankreich im Krimkriege die europäische Diktatur des Zaren brachen, entstanden in Berlin jene schauderhaften Agonien, die den preußischen Staat unter der Wucht der europäischen Verachtung zusammenbrechen ließen. Man war für den Augenblick des zarischen Drucks ledig, aber das Junkertum wusste zu gut, was es an diesem „Vater des Vaterlandes" besaß, als dass es ihm nicht eine wohlwollende Neutralität bewiesen hätte. Und vor allen anderen wusste es der Junker Bismarck; getreu den altpreußischen Überlieferungen, legte er seine „nationale" Politik von Anfang darauf an, dass sie sich nicht anders vollziehe als unter dem Schirm und Schutz des zarischen Despotismus.

Mit dankenswerter Offenheit spricht Bismarck sich darüber in seinen „Denkwürdigkeiten" aus. Als bald nach seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten der polnische Aufstand von 1863 ausbrach, hätten – so erzählt er – in Petersburg eine polenfreundliche und eine polenfeindliche Strömung miteinander gerungen. „Die den Polen freundliche Strömung hing zusammen mit dem in der höheren russischen Gesellschaft laut gewordenen Verlangen nach einer Verfassung. Man empfand es als eine Demütigung, dass die Russen, die doch auch gebildete Leute wären, Einrichtungen entbehren müssten, die bei allen europäischen Völkern existierten und dass sie über ihre eigenen Angelegenheiten nicht mitzureden hätten … Diejenigen Russen, welche für sich eine Verfassung verlangten, machten zugleich entschuldigend geltend, dass die Polen durch Russen nicht regierbar und als die Zivilisierteren erhöhten Anspruch auf Beteiligung an ihrer Regierung hätten … Es wurde angenommen, dass liberale Konzessionen, die den Polen eingeräumt wurden, den Russen nicht vorenthalten werden könnten; die konstitutionell gestimmten Russen waren schon deshalb Polenfreunde." Diese konstitutionelle Strömung in Russland, von der Bismarck sagt, dass sie bis in die höchsten militärischen Kreise gereicht und auch den russischen Reichskanzler Gortschakow auf ihrer Seite gehabt hätte, rühmt er sich nun gebrochen zu haben, indem er durch die berüchtigte Alvenslebensche Konvention1 dem Zaren die preußische Waffenhilfe zur Niederwerfung des polnischen Aufstandes anbot.

Nun sind Bismarcks „Denkwürdigkeiten" sicherlich keine unanfechtbaren Geschichtsquellen. Speziell in seiner Polenfeindschaft hat er oft genug an Einbildungen gelitten, und so mag er die damalige „konstitutionelle Strömung" in Russland überschätzt haben. Indessen darauf kommt es in unserem Zusammenhang auch nicht an. Gerade wenn es mit jener „konstitutionellen Strömung" nicht weit her gewesen sein sollte, so ist es nur um so bezeichnender für Bismarck, dass er die preußischen Waffen zur Verfügung des Zaren stellte, um dessen Despotismus in ungetrübter Reinheit zu erhalten und das durch solche Henkersdienste erworbene „Kapital zarischer Freundschaft" für seine sogenannte deutsche Politik zu verwerten, was er denn ja auch getan hat. Die deutsche Einheit fiel so aus, dass sie dem Väterchen an der Newa kein Bauchgrimmen verursachen konnte, zumal da Bismarck durch die Annexion Elsass-Lothringens die durch den Krimkrieg vernichtete Diktatur des Zaren über Europa wieder auffrischte.

Freilich stieg diese Diktatur nunmehr auf einen so hohen Grad des Übermuts, dass selbst Bismarck nach einer Rückendeckung gegen sie suchen musste. Es geschah in dem Dreibund2, aber nicht ohne dass Bismarck gegen diese Rückendeckung sofort wieder eine „Rückversicherung" beim Zaren nahm und nach wie vor keine höhere Sorge kannte, als den Draht nach Petersburg nicht abreißen zu lassen. Unter seinen Nachfolgern ist es bekanntlich nicht anders geworden, und es wird auch niemals anders werden, solange die preußische Junkerklasse das Heft der deutschen Regierung in Händen hat. In all ihrer historischen Rückständigkeit hat diese Klasse ihre letzte Stütze in dem zarischen Despotismus, mit dessen Sturze auch sie zusammenbricht. Der Sieg der russischen Revolution macht die historische Existenz Ostelbiens unmöglich, so wie es heute ist; das ist eine Tatsache, über die sich in den drei letzten Tagen auch der beschränkteste preußische Junker klargeworden ist, wie sich seine Klasse darüber seit mindestens hundert Jahren klar war.

Aber das Junkertum lässt es bei melancholischen Betrachtungen nicht bewenden, sondern es weiß, wo es sich um seine Interessen handelt, sehr rücksichtslos und schnell zu handeln. Solange es hofft, dass der zarische Despotismus die Revolution in Strömen von Blut ersticken kann, wird es sich an dem platonischen Beifall genügen lassen, den die „Kreuz-Zeitung" dem Blutbad vom 22. Januar spendete, aber sobald die Gefahr für Väterchen handgreiflich geworden ist – und das wird sie in absehbarer Zeit werden –, werden die „ritterlichen Hochgedanken" wieder erwachen, wird die „Solidarität der monarchischen Interessen" eine gespenstische Urständ feiern, und wird man sich erinnern, dass das gegenseitige Angebot von Waffenhilfe bei „inneren Unruhen" altborussisch-russische Tradition ist. Auf diese Weise kann das Deutsche Reich unversehens in ein Abenteuer gleiten, wogegen das chinesische und das südwestafrikanische Abenteuer noch reine Idyllen sind.

So tritt heute an die deutsche Arbeiterklasse, deren Lebensinteressen aufs engste mit dem siegreichen Fortschreiten der russischen Revolution verknüpft sind, dringender als je die Mahnung heran, die einst die Inauguraladresse der Internationale an das moderne Proletariat gerichtet hat, die Mahnung, sich der Mysterien der internationalen Staatskunst zu bemeistern, die diplomatischen Streiche der Regierungen zu überwachen und ihnen nötigenfalls mit allen Mitteln entgegenzuarbeiten3.

1 Die vom preußischen General von Alvensleben im Februar 1863 abgeschlossene Konvention, nach der russische Truppen preußischen Boden sowie preußische Truppen russischen Boden betreten durften, wenn es zur Bekämpfung des polnischen Aufstandes notwendig war.

2 Dreibund – aggressiver militärpolitischer Block, dem Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien angehörten und der gegen Frankreich und Russland gerichtet war. Er wurde 1882 gebildet, 1887 und 1891 erneuert und 1902 und 1912 automatisch verlängert. Die Bildung des Dreibunds war der Ausdruck der Spaltung Europas in zwei große feindliche Lager. Die sich verschärfenden Widersprüche zwischen den beiden imperialistischen Staatenblocks führten schließlich zum imperialistischen Weltkrieg 1914-1918.

3 haben den Arbeiterklassen die Pflicht gelehrt, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken." (Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 16, S. 13.)

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