Franz Mehring 18870202 Etwas über „große Männer"

Franz Mehring: Etwas über „große Männer"

[Volks-Zeitung (Berlin) 2. u. 4. Februar 1887. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 249-254]

I

In der Geschichte wie in der Politik gibt es keinen törichteren Aberglauben als die Heldenverehrung der „großen Männer", welche, wie der vielgefeierte „Prophet des Deutschen Reichs", Herr von Treitschke, wirklich fertigbekommen hat, in seiner „Deutschen Geschichte" zu schreiben, die „Geschichte machen". Es ist freilich richtig: Die großen geschichtlichen Notwendigkeiten, die Naturprozesse im Völkerleben, vollziehen sich auf dem Wege willkürlicher Handlungen bestimmter Individuen; eine persönliche Initiative wird dabei immer vorhanden sein müssen. Aber es ist der Gipfelpunkt menschlicher Torheit, daraus zu folgern, dass solche Bewegungen künstlich erdacht und gemacht, dass sie an die Initiative irgendeiner bestimmten Persönlichkeit gebunden sind. Die Sache liegt vielmehr einfach so, dass, wenn die geschichtliche Entwicklung für eine große Entscheidung reif geworden ist, sich immer ein Mensch finden wird, einfach weil er sich finden muss, der das innerlich längst Vollendete auch äußerlich vollzieht. Ist es dieser nicht, so ist es eben ein anderer.

Wer in den geschichtlichen Entwicklungen überall den „Finger Gottes" tätig sieht als die einzig treibende Ursache der Dinge, der mag vor den „Werkzeugen des göttlichen Willens" sich in abergläubischer Ehrfurcht beugen. Er bleibt wenigstens konsequent, wenn er natürlich auch weder in der Politik noch in der Wissenschaft mitzureden hat. Nicht aber nur völlig unbegreiflich, sondern auch eine schreiende Inkonsequenz ist es, wenn politisch mündige und wissenschaftlich gebildete Leute irgendeinem Menschen, dem es vergönnt gewesen ist, in einem weltgeschichtlichen Augenblicke die Hand an die Speichen des Weltrads zu legen, ihren Verstand knechtisch opfern und ihr ganzes Dasein demütig in die Hände des „großen Mannes" befehlen. Soweit den „Säkularmenschen" Weihrauch in erstickendem Übermaß verbrannt wird, soweit sie mit Ehren und Schätzen überhäuft werden, mag man darüber nicht viele Worte verlieren; Dankbarkeit wird niemals ganz hässlich, auch wenn sie sich übernimmt oder in ihrem Ziele vergreift. Aber ein entsetzlicher und schauerlicher Anblick ist es, wenn ein großes Volk zu Ehren eines „großen Mannes" sich selbst entmannt; wenn ihm kein Ideal in seinem Herzen mehr soviel gilt wie ein eiserner Fuß in seinem Nacken; wenn es in die Knechtschaft stürzt wie die Motte in die Flamme. Umso entsetzlicher und schauerlicher erscheint diese geistige Epidemie, weil sie unter allen Völkern und zu allen Zeiten wiedergekehrt ist und weil sie jede Nation, welche sie überfällt, bis ins Mark verdirbt, als echte Fäulniserscheinung weder Haut noch Fleisch noch Knochen schonend.

Und doch sollte man meinen, es gäbe ein sehr einfaches und wirksames Heilmittel gegen diese besondere Form geistiger Entartung: die durch jedes Blatt der Geschichte bestätigte Erfahrung nämlich, dass die Völker die Wirksamkeit jedes „großen Mannes" regelmäßig sehr teuer haben bezahlen müssen. Sobald irgendeine Persönlichkeit, welche in einem bedeutsamen Wendepunkt der Geschichte die hervorstechendste Rolle spielen durfte, deshalb zum „großen Mann" erklärt wurde oder sich selber dafür erklärte und Gläubige fand, richtete sie kaum noch etwas anderes als Unheil an. Und zwar aus sehr erklärlichen Gründen. Wer groß erschien, weil er handeln durfte, einer für alle, muss sich notwendig als zwergenhaft klein erweisen, wenn alle nur noch für ihn, den einen, da sein sollen. Denn der einzelne Menschengeist, so bedeutend er sein mag, ist immer nur ein winziges Atom gegenüber dem Geist der Gesamtheit, dem Geist des Volks, aus welchem allein alle wahrhaft großen Erscheinungen entstehen können. Maßt sich ein einzelner Geist die Herrschaft über den Geist des Volkes an und gewinnt er die Macht, diese Herrschaft auszuüben oder vielmehr ihre Ausübung zu versuchen – denn wirklich vollbringen kann ja freilich kein Mensch das Übermenschliche –, so taumelt er in der versuchten Lösung einer unlöslichen Aufgabe naturgemäß von Irrtum zu Irrtum und reißt alle die ins Verderben, welche ihre Hoffnungen auf seinen Stern gesetzt hatten. Diese Erscheinung wiederholt sich mit unwandelbarer Regelmäßigkeit bei allen „großen Männern" der Geschichte, d. h. bei allen geschichtlichen Persönlichkeiten, denen von dem Aberglauben ihrer Zeitgenossen die unsinnige, aber von ihnen selbst nicht zurückgewiesene Aufgabe angedichtet wurde, die „Geschichte zu machen".

Um diese, wie wir wohl wissen, sehr ketzerischen Ansichten wenigstens durch ein tatsächliches Beispiel zu erläutern, wollen wir nicht etwa Napoleon aus der Zahl der „großen Männer" herausgreifen, denn diese Wahl könnte uns den Vorwurf zuziehen, dass wir uns unsere Aufgabe allzu leicht machten, sondern wir wollen Martin Luther nehmen, der, wenn die Heldenverehrung überhaupt berechtigt wäre, immerhin der größte unter den „großen Männern" der deutschen Geschichte sein würde, wie er denn ja auch allgemein als solcher aufgefasst wird. Betreffs seiner mögen hier kurz die beiden entscheidenden Gesichtspunkte nachgewiesen werden, dass er erstens, soweit er eine weltgeschichtliche Rolle spielte, keineswegs ihr Schöpfer, sondern nur ihr Träger war und dass er weiter, als ihm daraufhin die Führung des Volkes zufiel, die geschichtliche Entwicklung in einer Weise verfahren hat, an welcher wir heute noch in der traurigsten Weise kranken.

Die Auflösung der mittelalterlichen Zustände rief in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts eine Sturm- und Drangperiode auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens hervor. Die in protestantischen Kreisen vorherrschende Auffassung, als habe es sich damals einzig oder doch vorwiegend um religiöse Gewissensfragen gehandelt, ist im Grunde ebenso lächerlich wie die modischen Versuche der ultramontanen Geschichtsbaumeisterei, die Reformation als das nichtsnutzige Werk einiger nichtsnutziger Gelehrten und Geistlichen darzustellen. Die kirchliche Reformation war vielmehr nur ein Teil und vielleicht nicht einmal der wichtigste Teil der allgemeinen Reform; die nationale und [die] soziale Reform standen mindestens ebenbürtig neben ihr, aber sie war allerdings der archimedische Punkt, an welchem allein der Hebel angesetzt werden konnte, um die verrottete Welt der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatsordnung aus den Angeln zu heben. Die Abschüttlung der römischen Herrschaft, welche Deutschland wirtschaftlich plünderte, geistig verdummte und sittlich verwüstete, war das eine gemeinsame Lebensinteresse, in welchem die große Masse der Nation, trotz ihrer sonstigen Zersplitterung in Staaten und Stämme, Klassen und Stände, einig war und einig sein musste. Ferner aber konnte die Befreiung der Geister nur aus den Kreisen der Kirche erfolgen; der deutsche Reformator musste ein Mönch oder mindestens ein Geistlicher sein, wie es Wicliffe in England und Hus in Böhmen ja auch gewesen waren. Die Humanisten, welche zur deutschen Reformation eine ähnliche Stellung einnahmen wie die Enzyklopädisten zur Französischen Revolution und – die Demokraten zur deutschen Einheit, hatten in viel freierem und weiterem Geiste gegen Rom gekämpft, als später Luther tat, aber im ganzen Mittelalter hatte die Theologie das Monopol der geistigen Bildung gehabt; alle Wissenschaften, selbst die Politik und die Rechtsprechung, standen unter ihrem allmächtigen Einfluss; sie war viel zu tief mit dem ganzen Denken, Glauben und Fühlen des Volkes verwachsen, um kurzweg wie eine äußere Fessel abgestreift werden zu können. Nur in kirchlich-theologischen Formen war deshalb die geistige Befreiung der Massen von Rom überhaupt denkbar und möglich.

Aus diesen Umständen – und keineswegs aus der Persönlichkeit Luthers – erklärt sich der überwältigende Eindruck, den seine Thesen gegen den Ablass machten, obgleich dieselben nicht entfernt sich mit den kühnen Gedankenflügen der Humanisten messen konnten und obgleich sie keineswegs den offenen Abfall von der alten Kirche, sondern höchstens erst seine verhältnismäßig schwachen Keime enthielten. Luther erwarb eine Volkstümlichkeit, wie sie seitdem nie wieder ein deutscher Mann besessen hat. Das revolutionäre Ungestüm seiner kräftigen Bauernnatur entlud sich in elektrischen Schlägen. „So wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen", schrieb er, „warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das Geschwärm der römischen Sodoma mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut?" Alle anderen Fragen, welche die Nation beschäftigten, verschwanden einstweilen vor der Notwendigkeit, die kirchliche Reform als die erste und unerlässliche Vorbedingung der allgemeinen Reform sicherzustellen.

II

In unserm vorgestrigen Artikel wiesen wir nach, dass Luther nicht der Schöpfer, sondern nur der Träger der kirchlichen Reformation im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts war; ihm war es vorbehalten, eine geistige Bewegung, die in dem freimenschlichen Pathos der Humanisten eine in der Geschichte des Menschengeistes bis dahin unerhörte Höhe erreicht hatte, in das enge Bett der dogmatischen Theologie zu leiten.

Die kirchliche Reform erwies sich etwa 1521 auf dem Reichstage zu Worms als sichergestellt. Damit war die weltgeschichtliche Rolle Luthers ausgespielt, aber seine Aufgabe als „großer Mann" begann erst recht. Das ganze Volk hing an seinen Lippen, als nunmehr die nationale und die soziale Reform zur Lösung heranreiften. In ersterer Beziehung versagte sich Luther den Plänen der Hutten und Sickingen; eben noch bereit, seine Hände in Blut zu waschen, erklärte er jetzt jeden Widerstand auch gegen die gewissenlose und schlechte Obrigkeit für Sünde gegen Gott. Jene Forderungen knechtischer Unterwürfigkeit, welche sich im Neuen Testamente finden und welche selbst von der alten Kirche nicht als Gebote, sondern nur als Ratschläge für den vollkommenen Christen erläutert worden waren, legte Luther im wörtlichsten Sinne aus. Das schändliche Treiben der damaligen Fürsten – und das war eine schöne Gesellschaft! – beschönigt er als ein rechter Fürstenknecht: Die Welt sei nun einmal Gottes Feind, darum müssen auch ihre Fürsten tun, was ihr recht sei, damit sie nicht um ihre Ehre kommen und rechte Fürsten bleiben; für gute Fürsten sei die Welt zu böse und ihrer nicht wert; Frösche müssen Störche haben. Kurzum, Luther wurde der erfolgreichste Vorkämpfer sowohl des Absolutismus wie des Partikularismus.

Lehrreicher noch ist es zu sehen, wie unendlich klein Luther als „großer Mann" sich gegenüber der größten Frage der Zeit erwies. Als die soziale Frage des sechzehnten Jahrhunderts sich erhob, als die Bauern ihre „zwölf Artikel" aufstellten, ein, wie heute gar niemand mehr bestreitet, denkbar billiges und gemäßigtes Sozialprogramm, legten sie dieselben dem Reformator vor, und was hatte dieser Bauernsohn in einer Frage zu sagen, von deren Entscheidung auf Jahrhunderte hinaus die Entwicklung der deutschen Zukunft abhing? Nichts als leere Redensarten, leerere Redensarten fast noch – wie viel das immer sagen will –, als sie heute von „großen Männern" gemacht werden, um ernsthafte Forderungen der arbeitenden Klassen abzuspeisen. Die Abschaffung der Leibeigenschaft verwarf Luther, weil „Abraham auch Knechte" hatte; der alttestamentliche Ursprung der Zehnten imponierte ihm so, dass er die in dieser Frage besonders billigen Forderungen der Bauern als „eitel Raub und Strauchdieberei" verwarf; die meisten Artikel „befiehlt er den Rechtsverständigen, denn ihm, als einem Evangelisten, gebühre nicht, hierin zu urteilen". Selbstverständlich ließen sich die bis auf den letzten Blutstropfen geschundenen Bauern in dieser kindischen Weise nicht abspeisen, und nun schrieb Luther sein – Sozialistengesetz. Denn das ist auch so eine stehende Eigentümlichkeit der „großen Männer": geht ihnen der unfehlbare Geist aus, so greifen sie mit wahrer Wollust zur unfehlbareren Gewalt. Als die Bauern, da ihnen jede Reform verweigert wurde, revolutionäre Saiten aufgezogen, schrie Luther: „Man soll die rasenden Hunde zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann. Gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss; schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir. Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir: seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen." Er warnt vor jeder falschen Barmherzigkeit mit den Bauern. Die mengen sich selber unter die Aufrührerischen, die sich derer erbarmen, welcher sich Gott nicht erbarmt, sondern welche er gestraft und verderbt haben will. Nachher werden die Bauern selber Gott danken können, wenn sie die eine Kuh hergeben müssen, auf dass sie die andere in Frieden genießen können, und die Fürsten werden durch den Aufruhr erkennen, wes Geistes Kind der Pöbel sei, der nur mit Gewalt regiert werden könne. „Der weise Mann sagt: cibus, onus et virgam asino, in einen Bauern gehört Haberstroh, sie hören nicht das Wort und sind unsinnig, so müssen sie die Virgam, die Büchse, hören und geschieht ihnen recht. Bitten sollen wir für sie, dass sie gehorchen; wo nicht, so gilt's hier nicht viel Erbarmens. Lasset nur die Büchsen unter sie sausen; sie machen's sonst tausendmal ärger." Man weiß, wie genau dies „Sozialprogramm" von dem Adel und den Fürsten ausgeführt wurde; über die unglücklichen Bauern brach ein Morden und Würgen herein, dessengleichen die Weltgeschichte nur noch ein- oder zweimal sonst gesehen hat.

Das deutsche Volk aber trägt an den Folgen der beschränkten und verbohrten Auffassung, welche Luther von der wichtigsten Frage seiner Zeit hatte, schwer bis auf diesen Tag. Die schöpferische Kraft der Reformation war mit der Niedermetzelung der Bauern dahin. Ihr Gang war bis dahin unwiderstehlich gewesen; es war nur noch die Frage einer kurzen Zeit, ob Deutschland protestantisch sein sollte. Heute gibt es keine protestantische Landschaft in Deutschland, welche es nicht schon damals war, aber viele Gegenden, die sich zu jener Zeit der neuen Lehre zugewandt hatten, sind seitdem von der alten Kirche zurückerobert worden. Meist durch Blut und Gewalt, was nimmermehr sich hätte durchführen lassen, wenn nicht in den unteren Schichten der Nation die Teilnahme an Luthers Werk völlig erloschen gewesen wäre. Bald stand das ebenso beschränkte wie fanatische Luthertum auch weit zurück hinter dem verjüngten Katholizismus, politisch wie sittlich, und gerade ein Menschenalter nach dem Bauernkriege fand die Reformation ihren ersten Abschluss in jenem faulen und ungesunden Kompromisse des Augsburger Religionsfriedens, der den Krieg der dreißig Jahre und das ganze namenlose Elend des siebzehnten Jahrhunderts in seinem Schoße trug.

Soviel über Luther. Ein ähnlicher und meist noch schlagenderer Beweis als bei ihm lässt sich bei allen „großen Männern" der Geschichte führen. Ihre Bedeutung, soweit sie eine solche überhaupt haben, liegt darin, dass ihr Geist für eine gewöhnlich nur kurze Spanne Zeit der objektive Brennpunkt des allgemeinen Geistes gewesen ist; sobald sie anfangen, sich auf ihre subjektive Unfehlbarkeit hinauszuspielen, wirken sie nur noch gemeinschädlich. Obgleich aber diese Tatsache, wie kaum eine andere, auf jedem Blatte der Geschichte bestätigt wird, scheinen die Völker in dieser Beziehung unbelehrbar zu sein. Nach einem bekannten Worte Börnes haben die Deutschen vor Luther die Knechtschaft gekannt, aber erst von Luther die Knechtsgesinnung gelernt; will man gewisse Tageserscheinungen als maßgebend betrachten, so würde nach vierhundert Jahren ein Fortschritt nur insofern zu verzeichnen sein, als die Knechtsgesinnung durch andere „große Männer" zur Knechtseligkeit aufgepäppelt ist.

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