Franz Mehring 18950220 Preußische Briefdiebstähle

Franz Mehring: Preußische Briefdiebstähle

20. Februar 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 673-677. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 452-457]

Die „Leipziger Volkszeitung" hat kürzlich einen Brief veröffentlicht, der ihr von unbekannter Seite in einer Abschrift zugesandt worden war, einen Brief, der für die misera contribuens plebs1 das höchste Interesse dadurch hatte, dass er scharfe Streiflichter warf auf das Kulissentreiben des Bundes der Landwirte2 und die innigen Beziehungen dieses Bundes zum Minister v. Koller. Unseren Lesern wird der Tatbestand aus der Tagespresse zu gut bekannt sein, als dass wir ihn genauer darzulegen brauchten oder auch nur darlegen dürften; was wir annageln möchten, ist nur die infame Heuchelei des nun schon wochenlangen Gezeters, das die konservative und offiziöse Presse über den angeblichen „Briefdiebstahl" eines sozialdemokratischen Blattes erhebt. Die „Leipziger Volkszeitung" hat einfach getan, was unter den obwaltenden Umständen ihre Pflicht war, dagegen ist der wirkliche Briefdiebstahl von jeher eine Hauptgrundlage jenes preußischen Junker-, Militär- und Polizeistaats gewesen, den der Bund der Landwirte mit heiligem Eifer wieder auf die Beine bringen will, nachdem er durch die historische Entwicklung einigermaßen ins Wanken gebracht worden war.

Man kann die erwähnte Heuchelei nicht besser an den Pranger stellen, als indem man die historischen Akten selbst sprechen lässt. Wir müssen uns dabei freilich auf etwa die hundert letzten Jahre beschränken, und auch aus ihnen soll nur einiges wenige beigebracht werden. Wollten wir ausführlich schildern, in welchem Umfange der gewerbsmäßige Briefdiebstahl die Voraussetzung für das „Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte" gewesen ist, so könnten wir gleich ein Dutzend Nummern der „Neuen Zeit" mit Beschlag belegen. Indessen auch in dieser Beschränkung bleibt noch immer genug übrig, um den Manteuffel und Genossen die frommen Klagelieder über den angeblichen Briefdiebstahl der „Leipziger Volkszeitung" gehörig zu verleiden.

Beginnen wir bei dem preußischen Nationalheros, dem König Friedrich, in dessen „patriarchalisch-weiser Regierungskunst" der Briefdiebstahl eine ausschlaggebende Rolle spielte. Dass er sächsische Staatsbeamte bestach, um Akten und Depeschen aus dem Dresdener Archive zu stehlen, ist zu bekannt, als dass wir es anders als im Vorbeigehen zu erwähnen brauchten. Weniger bekannt ist, dass dieser Despot in den kleineren deutschen Staaten Leute, nach deren Briefschaften er lüstern war, einfach durch seine Soldaten aufheben ließ. So befahl er am 29. November 1768 aus Potsdam dem Husarenleutnant v. Poser, „mit zwei sicheren Husaren" einen gewissen Pietro im Weimarischen einzufangen und an den Generalleutnant v. Saldern in Magdeburg abzuliefern, die Briefe und Schriften aber, die Pietro bei sich habe, ohne das Geringste davon zu lesen, versiegelt einzusenden. In jenem anmutigen Deutsch, das dieser vaterländische Held in den Tagen Lessings und Winckelmanns schrieb, fügte er eigenhändig der Kabinettsorder hinzu: „Der Wolfgant, mit dem Mus er überlegen und Concertiren, wie er den Menschen den ich haben mus bey die ohren krigt, und alles mit der grösten Behutsamkeit anstellen, das die Sache nicht fehl Schlage, und wan er ihn an den General Salleren abgelifert hat So Komme er hier und bringe er Mihr Seine Brifschaften mit." Am 12. Januar 1769 gelang dem Leutnant v. Poser der nichtswürdige Streich; er wurde dafür sofort zum Rittmeister ernannt, während Pietro in den Kasematten von Magdeburg verschwand. Als Poser dann später invalide wurde, erhielt er ausnahmsweise eine Pension von 400 Talern und die Erlaubnis, die Uniform der Gardedukorps zu tragen. Diese Elitetruppe des preußischen Heeres hat sich hoffentlich durch die Gemeinschaft mit dem Schuft sehr geehrt gefühlt.

Gehen wir weiter! Wir erwähnten schon einmal beiläufig an dieser Stelle, dass Geheimer Rat Fischer, die rechte Hand von Exzellenz Stephan, im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" behauptete, in Preußen sei das Briefgeheimnis „von jeher besonders sorgfältig behütet worden", und dass er als abschreckendes Gegenbild das cabinet noir anführe, das die französische Okkupation in Berlin eingerichtet hatte. Nun, in den Tagen der französischen Okkupation, am 14. Mai 1811, erließ der Staatskanzler v. Hardenberg, auch ein vaterländischer Held, an den Königsberger Polizeipräsidenten eine Verfügung, worin es hieß: „Unter allen Maßregeln, die in der höheren Polizei Anwendung finden, ist die Kontrolle der Briefe ohne Zweifel die wichtigste. Sie gibt die meisten, die sichersten Resultate, und ihre Ausübung ist weder mit großen Kosten noch mit der Gefahr einer leichten Bekanntwerdung verbunden, wenn dabei mit einiger Vorsicht und Geschicklichkeit verfahren wird. Sie verdient daher die höchste Aufmerksamkeit." Der Staatskanzler fragt dann an, wie das schwarze Kabinett in Königsberg eingerichtet sei, und empfiehlt „das hier angenommene Verfahren zur eventuellen Berücksichtigung" wie folgt: „Das hiesige Hofpostamt, welches eine Liste der in höherer politischer Hinsicht verdächtigen Subjekte mit der Anweisung erhalten hat, alle an sie und wo möglich auch die von ihnen kommenden Briefe zu öffnen und durchzusehen, teilt mir posttäglich ein Verzeichnis aller geöffneten Briefe mit, wo außer der Adresse, dem Datum und Ort des Schreibens, auch wenn er genannt ist der Name des Verfassers und der Inhalt kurz aufgenommen wird. Alle Briefe, deren Tendenz aus dem Inhalte nicht ganz deutlich zu ersehen oder wirklich verdächtig ist, werden mir nach Umständen im Original oder abschriftlich vorgelegt. Auf diese Weise erhalte ich Resultate und kann zugleich übersehen, wie viel von Seiten der Postbehörde, bei welchen ein eigenes Subjekt mit diesem Gegenstande beschäftigt und an Hauptposttagen ein Offiziant meines Büros zugeordnet wird, für den allgemeinen Zweck getan wird." Das Original dieses Aktenstücks befand sich in den Händen des bekannten demokratischen Schriftstellers Walesrode, der es 1850 in seiner „Glocke" veröffentlichte. Die Antwort darauf war die Entziehung des Postdebits für sein Blatt, was dessen Eingehen zur Folge hatte. Zur Begründung dieser echt preußischen Maßregel erklärte der Minister v. d. Heydt, dass die preußischen Postanstalten wohl das Recht hätten, Zeitungen zu befördern, nicht aber die Pflicht. Als dann der gegenwärtige Generalpostmeister später im Reichstage erklärte, die Archive der Post enthielten nichts über die Existenz eines schwarzen Kabinetts, bot ihm Walesrode jenes Aktenstück zur Auffüllung so unglaublich lückenhafter Archive an. Ob Herr v. Stephan von diesem patriotischen Anerbieten Gebrauch gemacht hat, wissen wir nicht. Vermutlich hat er es aber nicht getan, denn sonst hätte sein Vertrauter, der Geheime Rat Fischer, nicht in dem „Handwörterbuch für Staatswissenschaften" Behauptungen aufgestellt, die mit den aktenmäßigen Tatsachen in so schreiendem Widerspruche stehen.

Kürzer können wir dann wieder über die allbekannte, jahrzehntelang betriebene Briefspionage des Generalpostmeisters Nagler hinweggehen. In seinem Briefwechsel mit dem Staatsrat Kelchner spottete dieser große Halunke selbst zynisch über die „albernen Brieferöffnungsskrupel". Eine ausführliche Schilderung des schwarzen Postkabinetts, wie es in den dreißiger und vierziger Jahren bestand, findet sich in Herweghs „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz". Der Verfasser, ein ehemaliger Postbeamter, gibt die genauesten Einzelheiten; so befand sich das Expeditionslokal des schwarzen Kabinetts in der Königstraße, „im zweiten Hofe des Postgebäudes links, Eingang zur geheimen Postkalkulatur, eine Treppe hoch, über den Gang, rechts zum kleinen Entree, die Türe rechts vom Eingang zur geheimen Verifikatur". Die preußische Regierung selbst legte für die Wahrheit dieser Enthüllung, die ein ungemessenes Aufsehen erregte, ein klassisches Zeugnis ab durch eine von hoher Stelle verhängte Razzia gegen sämtliche Postbeamten, die des Verdachts verdächtig waren, den dichten Isisschleier gelüftet zu haben. Öffentlich hat sie nie die enthüllten Tatsachen zu bestreiten gewagt.

Zehn Jahre später gipfelte der preußische Kampf „für Religion, Sitte und Ordnung" in jenem Brief- und Depeschendiebstahl, der vermutlich auf den Gang des Krimkrieges3 einen nicht unbedeutenden Einfluss gehabt hat. Damals bestanden am preußischen Hofe zwei Parteien: eine russische unter Führung des Generals Gerlach und des Kabinettsrats Niebuhr, die den König in ihrer Gewalt hatte, und eine westmächtliche, zu der, namentlich der Prinz von Preußen und der Ministerpräsident von Manteuffel gehörten. Gerlach hetzte den ehemaligen Zuchthäusler Lindenberg als Spion auf die Fersen des Prinzen von Preußen, während Manteuffel den ehemaligen Zuchthäusler Techen auf die Fersen Gerlachs und Niebuhrs hetzte. Es gelang dem Techen, die Schreibtische Gerlachs und Niebuhrs regelmäßig zu plündern, indem er ihre Bedienten bestach. In den gestohlenen Briefen befanden sich unter anderen kränkende Äußerungen über den Polizeipräsidenten von Hinckeldey, dem sie Manteuffel durch Techen mitteilen ließ, um den einflussreichen Mann auf seine Seite zu bringen. An den Diebstählen selbst nahm der Polizeipräsident so wenig einen Anstoß wie der Ministerpräsident. Und damit noch nicht genug! Als alter preußischer Patriot und Polizeispitzel war Techen tief von der Überzeugung durchdrungen, dass im Staate des Suum cuique die großen Spitzbuben zwar immer frei ausgehen, die kleinen Spitzbuben aber unter Umständen gehängt werden. Er nahm sozusagen eine Rückversicherung, indem er aus freien Stücken den Direktor der Oberrechenkammer, einen Geheimen Rat Seiffart, der als Polizeibeamter früher sein Vorgesetzter gewesen war, in seine Geheimnisse, in seine Beziehungen zu Manteuffel und Hinckeldey einweihte, um diesen hohen Mitschuldigen im Notfalle seine Verleugnung zu ersparen. Seiffart wieder rechnete sich auch noch zu den kleinen Spitzbuben und nahm seinerseits seine Rückversicherung, indem er sich nicht nur bei Manteuffel vergewisserte, dass Techen wirklich in dessen Auftrage stehle, sondern auch seine Vorgesetzten, den Minister Ladenberg sowie die Geheimen Räte Illaire und Borck, von denen Illaire beim König und Borck beim Prinzen von Preußen dieselbe Stellung bekleidete wie Herr Lucanus beim gegenwärtigen Kaiser, von dem Sachverhalt unterrichtete. Und von all diesen erlauchten Patrioten, die an der Spitze jener feudalistisch-pietistisch-polizistischen Reaktion standen, die jetzt durch die Umsturzvorlage wieder erneuert werden soll, hatte keiner das Ehrgefühl, dem Diebe Techen sein Handwerk zu legen. Liest man die spätere, im trockensten Amtsstil abgefasste Rechtfertigungsschrift, die der Direktor Seiffart seiner vorgesetzten Behörde einreichte, so glaubt man den spannendsten Gaunerroman zu lesen. Das Schriftstück zirkulierte seinerzeit abschriftlich in der „Gesellschaft" von Berlin und Potsdam; abgedruckt ist es in den Nummern 14 und 15 der „Demokratischen Blätter" von 1884. ,

Bezeichnend an der unsäglich schmutzigen Affäre war auch dies, dass Manteuffel den von ihm angestellten Dieb äußerst schäbig bezahlte, mit fünfundzwanzig Talern monatlich, die durch Manteuffels „Kassenrat" ausgezahlt wurden, vermutlich also aus den geheimen Fonds flossen. Techen kam dadurch auf den Gedanken, dass die französische Gesandtschaft ihm die russische Korrespondenz des Generals Gerlach viel teurer bezahlen werde. Und in der Tat wurde sie ihm von dem französischen Botschaftssekretär Rothan mit Gold aufgewogen. Hierdurch wurde aber der Neid eines anderen französischen Spions erregt, der sich nun schleunigst an die russische Botschaft und die preußische Regierung verkaufte. Selbstverständlich suchte er sich ein möglichst glänzendes Entree mit dem Verrat von Techens Verrat zu verschaffen. Nachdem der Skandal international geworden war, ließ er sich schwer vertuschen, obgleich die Versuche dazu noch keineswegs aufhörten, Versuche, bei denen von neuen Figuranten Ehren-Stieber und der Justizminister Simons besonders schäbige Rollen spielten. Schließlich kamen die kleinen Spitzbuben wirklich an den Galgen. Lindenberg wurde wegen verleumderischer Beleidigung des Prinzen von Preußen zu Gefängnis verurteilt, und Techen verschwand wegen Landesverrats im Zuchthause. Die Verhandlung gegen ihn wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt; von der Verhandlung gegen Lindenberg wurden die Berichterstatter der Zeitungen ausgeschlossen. Dagegen kämpften die hohen Protektoren der beiden Ehrenmänner weiter für „Religion, Sitte und Ordnung" gegen allen möglichen „Umsturz".

Die Briefdiebstähle in der Ära Bismarck und namentlich unter dem Sozialistengesetze übergehen wir; sie sind noch in frischem Gedächtnis. Einzig ein verhältnismäßig kleines Item aus diesem langen Sündenregister heben wir hervor, weil es in gewisser Beziehung die Situation scharf beleuchtet. In seiner Schrift „Pro nihilo" konstatiert Graf Arnim aus den Untersuchungsakten, dass auf dem Postamte Grambow eine amtliche Überwachung eines vermeintlichen Briefwechsels zwischen ihm und dem Dänen Hansen stattgefunden habe. Während aber Arnim sonst in der Schrift kein gutes Haar an Bismarck lässt, erwähnt er diese postalische Maßregel ohne

Tadel. Er war ein alter preußischer Diplomat und kannte die unabänderlichen Gewohnheiten seines Handwerks.

So steht es um die preußischen Briefdiebstähle, und darnach ermesse man die Tiefe und Wahrheit der sittlichen Entrüstung, die von den Manteuffel und Genossen nun schon seit Wochen über dies Thema entfaltet wird. Berechtigter als alle Vorschläge, die bisher zur Rettung des Vaterlandes in der Umsturzvorlage niedergelegt worden sind, würde ein Paragraph folgenden Inhalts sein: „Wer die historischen Grundlagen der bestehenden Staatsordnung dadurch untergräbt, dass er den Briefdiebstahl als unerlaubt und unrühmlich darstellt, wird mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft." Wir empfehlen den ultramontanen Kämpfern für Wahrheit, Freiheit und Recht dies Amendement zur angelegentlichen Beherzigung. Sie würden ihrem noch etwas grünen patriotischen Biereifer dadurch historische Würde geben.

1 misera contribuens plebs (lat.) – die elende wehr- bzw. steuerpflichtige Masse.

2 Bund der Landwirte – im Februar 1893 in Berlin gegründete politische Organisation zur Propagierung der Interessen der Großgrundbesitzer, vor allem der preußischen Junker.

Der Bund trat für hohe agrarische Schutzzölle ein. Er zählte bereits ein Jahr nach seiner Gründung etwa 180.000 Mitglieder.

3 Krimkrieg – von 1853 bis 1856 zwischen Russland und der von England, Frankreich und Sardinien unterstützten Türkei, der mit dem Pariser Frieden – auf dem Pariser Kongress von Vertretern Frankreichs, Englands, Österreichs, Sardiniens, Preußens und der Türkei einerseits und Russland andererseits – seinen Abschluss fand.

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