Franz Mehring 19040330 Preußische Hegemonie, russische Satrapie

Franz Mehring: Preußische Hegemonie, russische Satrapie

30. März 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 1-5. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 507-512]

Vor einigen Monaten ist der letzte Halbband der großen Biographie erschienen, die Reinhold Koser, der Direktor des preußischen Staatsarchivs, über den König Friedrich von Preußen verfasst hat. Das Werk ist, wie schon die amtliche Stellung seines Verfassers voraussetzen lässt, vom Standpunkt der offiziell preußischen Staatsauffassung aus geschrieben, gegen die sich bekanntlich viel einwenden lässt. Aber nimmt man einmal diese Auffassung als gegeben an, so verdient Kosers umfangreiche Darstellung das Lob einer fleißigen und sorgfältigen Arbeit. Sie enthält ein ungemein reichhaltiges, aus den Archiven geschöpftes Material zur Geschichte des bekanntesten Preußenkönigs, und wenn sich Herr Koser dies Material gar manches Mal nach seiner vorgefassten Meinung zurechtlegt, so hält er sich doch von jener baren und blanken Tendenz frei, die bis vor nicht gar zu langer Zeit die preußischen Historiker in unrühmlicher Weise ausgezeichnet hat.

Dies ist um so mehr anzuerkennen, als die archivalische Forschung dem Andenken des alten Fritz in den letzten Jahren manchen unverwindlichen Schlag versetzt hat. Der Heros der preußischen Geschichte hat darin das gerade umgekehrte Schicksal wie der sooft mit ihm verglichene und wenigstens von den deutschen Historikern tief unter ihn gestellte Heros der französischen Geschichte. Ein Haupt- und Grundstück der napoleonischen Legende, nämlich dass Napoleon, wie er selbst immer behauptet hat, bei seinen Kriegen keineswegs das Ziel einer Weltherrschaft verfolgt habe, sondern stets nur drohenden Offensiven begegnet sei, wird zu einem um so ernsteren Gegenstand der wissenschaftlichen Erörterung, je mehr urkundliches Material aus den Archiven ans Tageslicht geschürft wird. Als Erbe der bürgerlichen Revolution rang Napoleon mit England um die Herrschaft über den Weltmarkt, aber die Kontinentalmächte hat nicht er, sondern sie haben ihn unaufhörlich angegriffen, eben als Erben der bürgerlichen Revolution, sei es im Solde Englands, sei es als Werkzeuge der zarischen Raubsucht. Nur dadurch, dass Napoleon der Stärkere war und den Zaren in die Defensive warf, ist dieser in den lächerlich-unverdienten Ruf gekommen, der Beschützer der allgemeinen Freiheit gegen den napoleonischen Despotismus gewesen zu sein.

Dagegen kracht die friderizianische Legende um so rettungsloser zusammen, je weiter sich die Tore der Archive öffnen. Während Sybel noch vor dreißig Jahren mit allem patriotischen Pathos behauptete, dass Friedrich die furchtbaren Gefahren des Siebenjährigen Krieges auf sich genommen hat, damit Belgien und infolgedessen das linke Rheinufer nicht französisch werde – eine Behauptung, die freilich schon zur Zeit, wo sie aufgestellt wurde, den Stempel der schnödesten Geschichtsmache an der Stirn trug –, urteilen die preußischen Historiker jetzt in ihrer überwiegenden Mehrzahl, dass Friedrich den Siebenjährigen Krieg durch die kopfloseste und kurzsichtigste Politik über sich heraufbeschworen habe. Einer von ihnen, Herr Bailleu, ebenfalls ein preußischer Archivbeamter, schrieb vor einigen Jahren über die friderizianische Politik, die zum Siebenjährigen Kriege führte: „Was die Zeitgenossen an ihrer Veränderlichkeit und Unzuverlässigkeit zu tadeln wussten, scheint mir nur zu wohl begründet … Sie war argwöhnisch und leichtgläubig, kurzsichtig und überstürzend … Wo zwei fremde Staatsmänner die Köpfe zusammensteckten, vermutete Friedrich das Werden einer Koalition; wo man von Truppenmärschen hörte, argwöhnte er einen Angriff auf Preußen." Und ähnlich sprechen sich andere Spezialforscher auf dem Gebiet der friderizianischen Politik aus.

Allerdings haben sich gegen diese „fürchterliche Deklassierung des Königs" andere preußische Historiker erhoben, so namentlich der Göttinger Professor Max Lehmann, jedoch gegenüber der Wucht der urkundlichen Zeugnisse haben sie es nur in einer Form tun können, die den König als Feldherrn und Staatsmann noch viel gründlicher umbringt. In schroffem Gegensatz zu der bisherigen Legende, wonach der Siebenjährige Krieg als die gerechte Abwehr eines ruchlosen Angriffs gelten soll, behaupten diese Historiker nämlich, dass Friedrich zwar bedroht gewesen sei, aber die Gelegenheit begierig ergriffen habe, um einen Eroberungskrieg hervorzurufen, durch den er Sachsen und Westpreußen zur Abrundung des preußischen Staatsgebiets habe erwerben wollen. Durch diese Lesart soll Friedrich wiederhergestellt werden, als ein Genius, der sich am Übermenschlichen versucht und freilich auch tragisch verblutet habe. Als Beweis dafür lässt sich aber nichts erbringen als einzelne Äußerungen des Königs, wie sie ihm in seiner hin und herfahrenden Diplomatie untergelaufen sind, und für seine wirklichen Absichten nichts beweisen. Friedrich hat Schlesien erobert, indem er eine europäische Koalition gegen das Haus Österreich geschickt ausnutzte; hätte er jedoch gegen eine europäische Koalition Sachsen und Westpreußen erobern wollen, so wäre er kein genialer Übermensch, sondern ein kompletter Narr gewesen, von dem die Nachwelt nur bedauern könnte, dass er nicht rechtzeitig in ein Irrenhaus gesperrt worden ist, ehe er die furchtbaren Leiden des Siebenjährigen Krieges über Deutschland heraufbeschwor. So arg steht es um den Heros der preußischen Geschichte denn doch nicht. Nach der Darstellung, die Koser von dem Ursprung des Siebenjährigen Krieges gibt, darf man die Hypothese Lehmanns als abgetan betrachten.

Es bleibt also bei der „fürchterlichen Deklassierung" Friedrichs. Allein wenn er den Siebenjährigen Krieg durch eine unverzeihliche Politik heraufbeschworen hat, wie hat dann dieser Krieg die preußische Hegemonie über Deutschland begründen können? Darauf gibt zwar Koser nicht die richtige Antwort, da er sich in dem offiziellen Geleise von der „ersten nationalen Kraftprobe" usw. bewegt. Wohl aber kann man die richtige Antwort aus dem urkundlichen Material schöpfen, das Koser beibringt. Sie lautet einfach dahin, dass die preußische Hegemonie von vornherein als russische Satrapie entstanden ist. Nicht als ob Friedrich ein Russenfreund gewesen wäre! Er hasste und verachtete im Gegenteil die Russen als Barbaren und unterschätzte namentlich ihre militärische Tüchtigkeit, bis sie ihn darüber bei Zorndorf, Kay und Kunersdorf eines Besseren belehrten. Gleichwohl empfand er ein unheimliches Grauen vor dieser „furchtbaren Macht", gleich als hätte er eine Ahnung davon gehabt, wie tief sie sein und seines Hauses Selbstherrschertum demütigen würde. So hat ihn dies Grauen in den Siebenjährigen Krieg getrieben, aus dessen Sturmfluten er sich nur als russischer Satrap retten konnte.

Sein entscheidender Missgriff war die sogenannte Westminsterkonvention, die er im Januar 1756 mit England schloss. England war damals noch im Besitz Hannovers, und beide Mächte verpflichteten sich, gegenüber dem in Amerika zwischen England und Frankreich ausgebrochenen Kriege jede Invasion Deutschlands durch eine fremde Macht zu hindern. Diese Konvention ist früher zum Ruhme Friedrichs ausgelegt worden, in dem Sinne, dass er durch sie die Franzosen von einem Angriff auf Hannover, also von einem Betreten des deutschen Bodens, habe fernhalten wollen. Tatsächlich liegt die Sache jedoch so, dass Friedrich die Franzosen, mit denen er im Bündnis war, wiederholt zur Invasion Hannovers, also zum Einbruch in Deutschland, aufgefordert und erst, als England sich mit Russland verbündete, um Landtruppen für die Verteidigung Hannovers zu gewinnen, aus Angst vor den Russen die Westminsterkonvention abgeschlossen hat. Dadurch erbitterte er sowohl die Franzosen wie die Russen, die sich nun endlich beide zu der Koalition bereit finden ließen, die Österreich seit lange betrieb, um das ihm von Friedrich geraubte Schlesien wiederzugewinnen. Dagegen erwies sich das englische Bündnis für Friedrich als sehr unfruchtbar, bis auf die Subsidiengelder, die er selbst als eine schwere Demütigung empfand. Eine Kriegsflotte in die Ostsee zu senden, wodurch der russische Bär im Zaume gehalten worden wäre, wagte kein englisches Ministerium, aus Rücksicht auf den englischen Handel, und schließlich ließ das Ministerium Bute seinen preußischen Verbündeten völlig im Stich, indem es über den Kopf Friedrichs hinweg Frieden mit Frankreich schloss.

In dem Kriege selbst hätten die Russen dem preußischen Heere mehr als einmal den Gnadenstoß geben können, namentlich nach der Schlacht bei Kunersdorf. Sie haben es nicht nur nicht getan, sondern auch, als Friedrich in der äußersten Bedrängnis war und seinen Untergang vor Augen sah, ihn durch ihren Rücktritt von der antipreußischen Koalition gerettet. Aber sie wurden dabei nicht durch die Rücksicht auf Friedrichs schöne Augen geleitet, sondern durch ihr eigenes, wohlverstandenes Interesse. Bei ihren polnischen und türkischen Eroberungsplänen stand ihnen vor allem Österreich im Wege, dem sie den preußischen Dorn nicht aus dem Fleische ziehen durften, ohne sich selbst ins Fleisch zu schneiden. Nicht die Vernichtung Friedrichs war ihre Aufgabe, sondern seine Erniedrigung zu einem Satrapen, der ihnen bei ihren Raubzügen hilfreiche Hand leisten und namentlich den österreichischen Widerstand im Schach halten musste.

Es ist von hohem Interesse, die aktenmäßige Darstellung dieses Verhältnisses in dem Kapitel zu lesen, das Koser dem Bündnis Friedrichs mit Russland und der ersten Teilung Polens widmet. Bis auf den Tod erschöpft, mit Österreich und den Westmächten tief verfeindet, war Friedrich schlechterdings auf die Gnade Russlands angewiesen. Gleich nach Abschluss des Hubertusburger Friedens bettelte der angebliche Sieger in Petersburg um ein Bündnis, das ihm den Besitz Schlesiens garantieren sollte. Er musste sich in demütigendster Weise hinhalten lassen, bis ihm die Zarin Katharina endlich seinen Wunsch erfüllte, wogegen er sich verpflichtete, das polnische und das türkische Wild in ihr Garn treiben zu helfen. Er zahlte ihr Vasallentribut für ihre Türkenkriege, und als er mit ihr einen polnischen Schattenkönig gemacht hatte, schrieb er an sie: „Nichts scheint mir bewundernswürdiger, als dass Sie so viele große Dinge ohne Anstrengungen und ohne Anwendung von Gewalt ausgeführt haben. Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht. Eure Kaiserliche Majestät zwingt alle Welt bis zu der Hohen Pforte, die Trefflichkeit Ihres neuen Systems anzuerkennen. Sie sprachen, und die Welt schweigt." Als Gegengabe für alle Dienste und Huldigungen durfte sich Friedrich öffentlich gerade so weit der zarischen Freundschaft rühmen, als nötig war, um in Wien zu ängstigen. „Der reelle Vorteil der Verbindung mit Russland ist diese anscheinende Intimität, die dem Wiener Hofe imponiert", schrieb Graf Finckenstein, Friedrichs Minister fürs Auswärtige.

Die Zarin spielte mit Friedrich wie die Katze mit der Maus. Hat es einen genialen Übermenschen im achtzehnten Jahrhundert gegeben, so war es diese hergelaufene Person, die, aus einem der kleinsten deutschen Fürstenhäuser stammend, blutarm – ihr Vater diente im Heere Friedrichs – an den russischen Thronfolger verheiratet worden war, diesen aber, gleich nach seiner Thronbesteigung, ermordet und sich selbst auf den Thron gesetzt hatte, für den ihr jede Spur eines Rechtes fehlte. Mit wahrhaft diabolischer Kunst verstand sie es, die beiden deutschen Mächte gegeneinander auszuspielen; ihr Meisterstück war die Teilung Polens, zu der sie Österreich und Preußen trieb, so dass die eigentliche Schmach und Schuld des Völkermordes in den Augen der Mitwelt auf die Schultern dieser Mächte fiel, die damit auf Kosten ihrer wichtigsten Lebensinteressen die Arbeit des zarischen Despotismus verrichteten. Österreich durfte sich wenigstens noch den Luxus gestatten, einen Zwang zu bejammern, dem es sich fügen musste; Maria Theresia mochte sich nicht mehr sehen lassen, nachdem sie ihren guten Ruf verscherzt habe durch die Teilung Polens, in der das Recht himmelschreiend gegen sie sei. Von solchen Sentimentalitäten war Friedrich, der auch in dieser Sache den zarischen Treiber gemacht hatte, vollkommen frei, doch wusste auch er sehr gut, dass er, wie selbst Koser sich unumwunden ausdrückt, ganz gegen das Interesse seines Staates handelte, indem er die Herrschaft Russlands in Polen aufrichten half.

Überhaupt ertrug Friedrich sein zarisches Vasallentum mit äußerster Ungeduld. Es lohnte sich wahrhaftig, den Rebell gegen Kaiser und Reich gespielt zu haben, um nun der Satrap eines barbarischen Despotismus zu sein. Aber es gab für ihn kein Entrinnen, und er musste sich begnügen, das Dekorum seiner angeblichen Souveränität wenigstens in den inneren Angelegenheiten des preußischen Staates zu wahren. Hätte Katharina die Unverschämtheit gehabt, von ihm zu verlangen, dass er eine russische Geheimpolizei auf preußischem Boden dulden sollte, so würde er sich dem widersetzt haben; schon bei einem viel geringeren Eingriff in seine Souveränität, als Russland eine Erhöhung des preußischen Posttarifs nicht anerkennen wollte, schrieb er eigenhändig unter einen der Erlasse an seinen Gesandten in Petersburg, die, wie er wusste, von den Russen regelmäßig geöffnet wurden: „Ich fange an, des Joches, das man mir auferlegen will, gründlich müde zu werden. Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, der Bundesgenosse der Russen zu sein, aber solange meine Augen geöffnet sein werden, werde ich nicht ihr Sklave sein. Das können Sie jedem sagen, der es hören will." In der Tat hat er sich insoweit noch einen gewissen Respekt bei der Zarin zu erhalten gewusst; Stück für Stück auch von der inneren Souveränität des Staates an die russische Oberherrschaft preiszugeben, hat er seinen Nachfahren überlassen, bis auf den gegenwärtigen Reichskanzler.

Damit sind wir an das aktuelle, politische Interesse gelangt, das diese historischen Erinnerungen haben. Zitatenfroh, wie Graf Bülow ist, wird er an das Wort des römischen Historikers erinnern, dass die Staaten durch das erhalten werden, wodurch sie gegründet worden sind. Dagegen ist auch nichts einzuwenden; nur sollte es nie im deutschen Volke vergessen werden, dass die preußische Hegemonie ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach immer nur eine russische Satrapie gewesen ist.

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