Franz Mehring 18921228 Preußische Justiz

Franz Mehring: Preußische Justiz

28. Dezember 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 457-460. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 447-451]

Unter den drohenden Zeichen des unabwendbaren Schicksals, dem die bürgerliche Gesellschaft verfallen ist, steht nicht in letzter Reihe der Niedergang der bürgerlichen Rechtspflege. Sie selbst sucht sich über ihr Verhängnis vergebens zu täuschen durch harte Urteile, welche sie über ihre Kritiker verhängt. Mehrere dieser Urteile haben neuerdings auch in Arbeiterkreisen, die nach dieser Richtung hin wahrlich nicht verwöhnt sind, ein berechtigtes Aufsehen erregt. So die Verurteilung des Redakteurs der Breslauer „Volkswacht" wegen Beleidigung des Landgerichtsdirektors Schmidt zu acht Monaten Gefängnis. Der Verurteilte hatte in begreiflicher Erregung von einer „Verleumdung" und einer „schmutzigen Insinuation" gesprochen, weil Herr Schmidt in seiner amtlichen Eigenschaft als Vorsitzender einer Gerichtsverhandlung sein „Wissen" dahin bekundet hatte, von der Sozialdemokratischen Partei werde die Lehre gepredigt, dass man unter Umständen zugunsten eines Genossen auch die Unwahrheit mit einem Eide bekräftigen könne. In der Verhandlung gegen den Redakteur der „Volkswacht" wurde festgestellt, dass Herr Schmidt sein „Wissen" aus der unwahren Behauptung eines verlogenen Bourgeoisblattes geschöpft hatte; es wurde auch anerkannt, dass der Angeklagte als Redakteur eines sozialdemokratischen Parteiblattes bei seiner Abwehr in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe. Aber gleichwohl wurde er zu der schweren Strafe von acht Monaten Gefängnis verurteilt, weil er das Maß des zur Abwehr Nötigen weit überschritten habe. Es ist überflüssig zu sagen, wie dies Urteil von dem Rechtsbewusstsein der arbeitenden Klassen aufgenommen worden ist.

Solche Fälle häufen sich je länger je mehr. Und je schroffer der Widerspruch zwischen der Rechtsprechung der Gerichte und dem Rechtsbewusstsein der Massen hervortritt, um so peinlicher suchen die richterlichen Organe des Klassenstaats ihr Ansehen und ihre Würde durch äußere Mittel zu schützen. Subjektiv ist ihnen daraus auch gar kein Vorwurf zu machen; wir zweifeln durchaus nicht daran, dass sie in gutem Glauben handeln; je überzeugter sie davon sind, dass sie ein klares und zweifelsfreies Recht sprechen, um so geneigter werden sie auch sein, jeden in ihren Augen böswilligen Zweifel niederzuschlagen. Aber objektiv spiegelt sich darin doch nur die Verblendung wider, die untergehenden Klassen eigentümlich ist, jene moralische Kurzsichtigkeit, die Lothar Bucher als das verhängnisvollste Gebrechen seines Freundes und Meisters Bismarck getadelt haben soll. Als es noch eine Justiz gab, die aus dem Rechtsbewusstsein der Volksmasse ihre Urteile schöpfte, da war dem Verurteilten erlaubt, das Urteil zu schelten. Heute, wo der grundlos Beschimpfte nicht einmal mehr ein tatsächlich unrichtiges Richterwort ohne schwerste Ahndung schelten darf, ist eben dadurch bewiesen, dass die Justiz in schärfstem Widerspruche mit dem Rechtsbewusstsein der Massen steht. Und dieser Beweis wird allemal um so schlüssiger ausfallen, je härter die Kritik des Juristenrechts durch das Volksrecht bestraft wird.

Diese Entwicklung vollzieht sich hierzulande um so verhängnisvoller, als die Legende von der altpreußischen Justiz so ziemlich, wie viel das immer sagen will, die blitzdümmste aller historischen Legenden ist. Die loyalen Historiker und Politiker tun so, als ob Preußen das klassische Land der bürgerlichen Rechtspflege gewesen sei oder gar noch sei, und selbst von freisinniger Seite ist dies Märchen seit der sehr vorübergehenden Zeit, da die Kreisrichter oppositionelle Anwandlungen hatten, in der unglaublichsten Weise breitgetreten worden. Tatsächlich war die historische Entwicklung der preußischen Justiz eine ganz andere. Wir wollen hier gar nicht einmal auf die Justiz Friedrich Wilhelms I. zurückgehen, die „Justiz nach der alten Leyer", wie sein Sohn Friedrich II. sie nannte, d. h. die Justiz, die immer nur den reichen Leuten half, die halb verkäufliche, halb versimpelte Justiz, deren Richterstellen teils nach den Einzahlungen in die Rekrutenkasse vergeben wurden, teils nach dem Grundsatze, dass Leute von „Kop" der Verwaltung, „dumme Teuffel" aber der Justiz überwiesen werden sollten. Es ist anzuerkennen, dass Friedrich II. diesen scheußlichen Augiasstall zu reinigen versuchte, dass er eine „prompte und unparteiische, kurze und solide Justiz administrirt" haben wollte. Aber deshalb ist es nicht weniger ein Märchen, dass er die preußische Justiz zu einem Vorbilde für die ganze gesittete Welt gemacht habe. Gerade die Schlussfolgerung, die er aus seiner wohlwollenden Absicht zog und vom Standpunkte des aufgeklärten Despotismus nicht mit Unrecht zog, nämlich dass er „sich selbst darein meliren", dass er stets auf dem Posten sein und jeden Augenblick dreinfahren müsse, wenn die Kabale sich einzuschleichen drohe, führte notgedrungen zu der königlich-preußischen Kabinettsjustiz, unter deren Folgen wir bis heute zu leiden haben.

Man kann es dem Könige nicht eigentlich zum Vorwurfe machen, dass er es in der ersten Instanz bei der Patrimonialgerichtsbarkeit bewenden ließ, der Gerichtsbarkeit der Junker über die Bauern, bei welcher nach einem zeitgenössischen Worte „der Stock die Gelehrsamkeit ersetzte". Denn daran konnte Friedrich bei der sozialen Übermacht des Junkertums beim besten Willen nichts ändern. Aber der König hat auch in den landesherrlichen Gerichten der oberen Instanzen niemals für eine unabhängige Justiz gesorgt; er hat stets den Grundsatz zurückgewiesen, dass Richter nicht durch königliche Machtsprüche, sondern nur kraft eines richterlichen Urteils abgesetzt werden dürften. So fegte Cocceji, des Königs rechte Hand in Justizsachen, einmal das ganze Kammergericht – das berühmte Kammergericht des fabelhaften Müllers von Sanssouci1 – bis auf zwei Räte aus, darunter Männer, die seit Jahrzehnten unverweislich ihre Pflicht erfüllt hatten, ohne jedes Urteil, ja ohne jede Anklage, nur um die erledigten Stellen mit Kreaturen zu besetzen. Noch ärger als den Richtern wurde den Advokaten aufgespielt. Sie waren von Friedrichs Vater grausam verfolgt worden, und so mochten sich viele recht zweifelhafte Subjekte unter ihnen befinden. Aber es trug gewiss wenig zur Hebung dieses Berufs bei, dass Friedrich als Hauptmittel der Besserung die Kassation fortdauernd über dem Haupt jedes Advokaten schweben ließ; fehlten andere Gründe, so wurden nur des abschreckenden Beispiels wegen von Zeit zu Zeit einige beseitigt. So im Jahre 1775 ihrer sieben. Ähnlich steht es mit allen andern „Justizreformen" Friedrichs. Was für ein entsetzliches Aufheben wird in den preußischen Geschichtsbüchern davon gemacht, dass der „große" König die Folter aufhob. Leider wird nur regelmäßig vergessen hinzuzufügen, dass dabei der Teufel durch Beelzebub vertrieben wurde. Die Tortur, die immerhin durch ein förmliches Erkenntnis landesherrlicher Gerichte verfügt werden musste, wurde beseitigt, aber dafür wurde jedem Untersuchungsrichter gestattet, zur Erzielung eines Geständnisses ohne höhere Ermächtigung nach Herzenslust zu prügeln, was die schauderhaftesten Justizmorde zur Folge hatte.

So sah es in Wahrheit mit der berühmten Grundlage der preußischen Justiz aus. Und auf dieser Grundlage hat sie sich folgerecht entwickelt. Bis tief in das neunzehnte Jahrhundert hinein herrschte in Preußen unumschränkte Kabinettsjustiz. Man denke nur an die niederträchtigen Demagogenverfolgungen! Eine Haussuchung beim alten Arndt in Bonn hatte damals zwar sonst keine hochverräterische Ausbeute, aber doch einige schriftliche Bemerkungen in abgerissener Form geliefert, darunter den Satz: „Wenn ein Prediger erschossen ist, so hat die Sache ein Ende." Sofort brachte die königlich preußische Staatszeitung2 vom 20. März 1820 diese Bemerkungen als „Aktenauszüge" eines fürstenmörderischen Komplotts; sie schrieb empört: „Mit Gewalt und Mord hatten diese Bösewichter es durchsetzen wollen." Arndt bewies nun aber sofort, dass jene abgerissenen Sätze Abschriften von Marginalbemerkungen seien, die der König zu einem ihm vorgelegten Entwurf einer Volksbewaffnung gegen Napoleon gemacht habe. In diesem Dilemma standen die preußischen Gerichte zitternd still, indessen der König verfügte durch Kabinettsjustiz die Amtsenthebung Arndts. Derselbe König Friedrich Wilhelm III. – der „Gerechte" heißt er in den preußischen Geschichtsbüchern – hatte die liebenswürdige Gewohnheit, Anklagen wegen gemeiner Verbrechen gegen hochgestellte oder ihm gut empfohlene Personen niederzuschlagen, ehe sie zur gerichtlichen Verhandlung kamen; der Historiker Eberty, weiland Professor in Breslau, erzählt in seiner „Geschichte des Preußischen Staats" (7, 55), dass er ganze Reihen solcher Aktenstücke gesehen habe, als er in den dreißiger Jahren am Hausvogteigerichte in Berlin arbeitete.

Mit den „ehrwürdigen Traditionen des altpreußischen Richterstandes" ist es also wirklich nichts. Zwar soll keineswegs geleugnet werden, dass es auch in der absolutistischen Zeit preußische Richter gegeben hat, die dem Drucke des Despotismus einen ehrenwerten Widerstand zu leisten wussten. Aber das waren immer nur einzelne, und je mehr Lärm man von diesen Ausnahmen macht, um so mehr lenkt man auch die Aufmerksamkeit darauf, dass sie nur die Regel bestätigen. Die bürgerlichen Klassen haben es dann auf dem Gebiete der Justiz so wenig wie auf irgendeinem andern Gebiete des öffentlichen Lebens verstanden, ganze Arbeit zu machen. Trotz der zwar formellen, gesetz- und verfassungsmäßigen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit ist die preußische und nunmehr auch deutsche Justiz sogar in noch weit höherem Grade Organ der augenblicklichen Regierungsgewalt als in der absolutistischen Zeit. Unser Kriminalrecht straft die Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze oder obrigkeitliche Anordnungen, straft den Widerstand gegen Beamte, gleichviel ob die obrigkeitlichen Handlungen oder Anordnungen innerhalb der Kompetenz und des Gesetzes liegen, straft die Gefährdung des öffentlichen Friedens, die Anreizungen der Bevölkerungsklassen gegeneinander, was alles dem preußischen Landrechte noch unbekannt war. Es schützt nicht bloß die Personen in öffentlichen Ämtern gegen Beleidigungen und Verleumdungen, sondern auch die Einrichtungen des Staats und die Anordnungen der Obrigkeit gegen Entstellungen und Erregung von Verachtung. Bei strenger Praxis – wir haben sie oft genug erlebt! – bleibt kaum eine missbilligende Kritik von Regierungshandlungen, kaum die Darlegung, dass diese Handlungen rechtswidrig seien, möglich, was in früherer Zeit immer für zulässig galt.

Auf diese Weise ist unsere Justiz mitten in den politischen und sozialen Streit gerissen; durch die richterliche Handhabung von allerhand Kautschukparagraphen, bei deren Auslegung jedem gleichviel wie beschaffenen Gewissen der weiteste Spielraum gelassen ist, soll sie das jeweilige Regierungssystem schützen. Einer unserer besten Richter, Karl Twesten, hat es gerade mit Bezug auf den besoldeten Richterstand gesagt: Politische oder soziale Kämpfe demoralisieren den Beamtenkörper, welcher Träger der politischen Gewalten geworden ist, ohne materielle Unabhängigkeit mit der Amtsgewalt zu verbinden. Kommt nun gar, wie in der Ära Bismarck, ein absichtlich korrumpierender Einfluss der Regierung hinzu, winkt ein allmächtiger Minister den Gerichten heute mit der Peitsche und morgen mit dem Zuckerbrot, setzt er ihnen heute die Pistole seiner lithographierten Strafanträge auf die Brust und klagt er morgen vor versammeltem Parlament über das Übelwollen, das ihm die Gerichte bezeigten, so mag wohl die Gefahr drohen, von der Helvetius seinerzeit sprach, wenn er meinte, dass die Juristen stets die bereiten Diener des Despotismus seien; hätte die Pest Orden und Pensionen zu vergeben, sie würden beweisen, dass die Pest von Gottes und Rechts wegen bestehe und dass sich ihr zu entziehen Hochverrat sei.

Dieser absichtlich korrumpierende Druck auf die Justiz hat ja dankenswerterweise unter dem neuen Kurse aufgehört. Der gegenwärtige Reichskanzler stellt keine Strafanträge mehr, und in dem Sozialistengesetz ist eine sprudelnde Quelle der richterlichen Verderbnis versiegt. Aber im Wesen der Sache ist damit freilich nichts an der preußischen Justiz geändert. Je größere Ansprüche die fieberhafte Entwicklung des Kapitalismus an sie stellt, um so auffälliger versagt sie. Mit den persönlichen Sentiments des Landgerichtsdirektors Brausewetter wird nicht einmal der Antisemitismus geschädigt, geschweige denn dass mit den persönlichen Sentiments des Landgerichtsdirektors Schmidt der Sozialismus totgeschlagen würde. Aber preußische Justiz haben beide administriert; daran darf natürlich nicht gezweifelt werden. Und so mag es denn auch wohl im Geiste preußischer Justiz sein, dass der Kritiker des Herrn Schmidt acht Monate brummen muss, weil er diesen Geist gar so schlecht begriffen hatte.

1 Das ist das Schulbeispiel der apologetischen Geschichtsklitterung für das angeblich soziale Königtum Friedrichs II. (Der Müller von Sanssouci beschwerte sich bei Friedrich über ein gegen ihn ergangenes Urteil des Kammergerichts und bekam Recht.) (Siehe auch Mehring: Die Lessing-Legende, Bd. 9 der „Gesammelten Schriften", S. 151/152.)

2 Der richtige Titel ist „Deutscher Reichs- und Königlich-preußischer Staatsanzeiger".

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