Franz Mehring 18920928 Preußisches Städtewesen

Franz Mehring: Preußisches Städtewesen

28. September 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 33-38. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 458-464]

Aus der Wahl des neuen Oberbürgermeisters von Berlin hat sich ein Sturm im Glase Wasser entwickelt. Und das hat der Stadtverordnetenvorsteher Stryck mit einem nicht unwahrhaftigen, aber unvorsichtigen Worte verschuldet. In einer geheimen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung musste er sich auf die Anfrage eines sozialdemokratischen Stadtverordneten zu seinen heimlichen Machenschaften mit dem Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg bekennen; er suchte sich aber damit zu entschuldigen, dass er einer Einladung „unseres Chefs" zu einer Unterredung doch habe folgen müssen. Und nun ist Holland in Not. Alle alten Weiber werden rebellisch, und die Tante Voß1 kreischt mit ihrer Fistelstimme, die Stadt Berlin habe keinen „Chef" über sich, sondern den Himmel und das Gesetz. Und dabei hatte diese Fistelstimme eben erst einen Lobgesang auf die von dem „Chef" verordnete Wahl des Herrn Zelle zum Oberbürgermeister angestimmt. Die „freisinnigen Obmänner und Vertrauensmänner" von zwei hiesigen Reichstagswahlkreisen aber sprechen öffentlich ihre „Entrüstung" über Herrn Stryck aus und „erwarten, dass die freisinnigen Berliner Stadtverordneten spätestens bei der nächsten Vorsteherwahl der freisinnigen Bürgerschaft Genugtuung verschaffen" werden. Mit diesem „spätestens" steht es wie mit dem „sofort" des Herrn v. Puttkamer: Man muss es aus der schlichten, sinnlichen Kutschersprache des gewöhnlichen Lebens in höheres Deutsch übersetzen. Dann aber heißt es: Lassen wir ein wenig Gras über die ärgerliche Geschichte wachsen und wählen wir dann unseren guten, lieben Herrn Stryck wieder!

Es wäre unnütze Zeitverschwendung, sich bei diesen Dingen anders als im Vorbeigehen aufzuhalten. Aber die Gelegenheit ist günstig genug, einmal auf ihre tieferen Ursachen zurückzugehen, den historischen Zusammenhang aufzuzeigen, aus dem sie sich erklären, die Stellung der Arbeiterklasse in dem freundnachbarlichen Hader der Bourgeoisie und der Bürokratie klar zu umgrenzen. Das preußische Städtewesen ist von jeher ein eigen Ding gewesen; man muss es wenigstens in seinen großen Umrissen kennen, wenn man das klägliche Schauspiel verstehen will, das die. Reichshauptstadt augenblicklich dem Reiche bietet.

Der preußische Absolutismus ist nicht auf dieselbe Weise entstanden wie der Absolutismus in ökonomisch entwickelteren Ländern: nicht durch die Entwicklung des Warenhandels und der Warenproduktion, nicht durch die Stütze, die er an den Städten gegen den Adel gewann, und nicht durch den Schutz, den er den Städten gegen den Adel gewährte. Er ist immer, auch in seiner scheinbar glänzendsten Zeit, abhängig gewesen von den feudalen Junkern. Vielleicht hatte die Armut des Landes und die Ungunst der geographischen Lage die märkischen Städte im Ausgange des Mittelalters nicht in dem Maße erstarken lassen, dass die zur Herrschaft gelangten Hohenzollern mit ihrer Hilfe die Macht der Junker hätten brechen können. Aber es ist auch gar kein ernsthafter Versuch dazu gemacht worden. Gleich der zweite Hohenzoller schwor auf Halbpart mit dem Adel die Städte, namentlich die Schwesterstädte Berlin-Kölln, bis aufs nackte Leben. Patriotische Geschichtsschreiber nennen das „die trotzigen Städte in die wohltätige Zucht des Staatsgedankens nehmen", aber die aus dem Jahre 1448 erhaltenen, leider nur spärlichen Urkunden geben ein etwas abweichendes Bild des Hergangs. Der Kurfürst Friedrich II. benutzte einen Zwist zwischen den Geschlechtern und den Zünften von Berlin-Kölln, um sich zum Schiedsrichter aufzuwerfen und eine Zwingburg am Saume der Stadt anzulegen, dasselbe Gebäude, das Herr Eugen Richter mit untertänigstem Bückling als das „altehrwürdige Hohenzollernschloss" preist. Die Berliner von dazumal erstarben nicht ganz in so loyaler Ehrfurcht; Geschlechter wie Zünfte rochen den Braten, noch ehe er gar war; sie vereinigten sich und verschanzten die Städte durch einen starken Blockzaun gegen die entstehende Burg; sie vertrieben die Bauleute des Kurfürsten sowie die Richter und Zöllner, die er ihnen auf den Hals gesetzt hatte; sie riefen die anderen märkischen Städte zu gemeinsamem Widerstande gegen das drohende Verhängnis auf. Aber ehe dieser Widerstand organisiert werden konnte, fielen Kurfürst und Junker mit gewaffneter Hand über Berlin-Kölln her und warfen sie vollständig nieder. Der Kurfürst machte seinen Hofrichter zum Bürgermeister der Städte, und die Stellen der Ratmannen besetzte er zum Hohn für die Bürgerschaft mit seinen reisigen Knechten. Die Gerichte, Mühlen, Zölle und Landgüter der Städte wurden dem Küchenmeister des Kurfürsten als Lehen übergeben; das heißt: Sie dienten fortan dazu, den gesamten kurfürstlichen Hofhalt zu unterhalten. Die Patrizier der Städte mussten ihre Lehen, selbst das Leibgedinge ihrer Frauen an den Kurfürsten übergeben, und von ihrem „fahrenden Gut" mussten sie ungeheure Strafgelder zahlen. In der Zeit vom 12. September bis 14. Oktober 1448 erschienen sie Mann für Mann „in dem kleinen Stüblein über dem Torhause zu Spandau" und haben, wie es in den Protokollen heißt, „ir liep und alle ir gut in mynes gnedigen Heren Hand gesetzet und gegeben". An barem Gelde allein zahlten die Schum, die Blankenfelde, die Brackow, die Ryke je 3000, die Stroband, die Wins je 2000 rheinische Gulden und so weiter herab nach dem Besitze der einzelnen Familien bis auf je 1000 oder 700 Gulden. Erwägt man, dass der rheinische Gulden damals den Wert von 2 Talern und nach heutigem Geldwerte mindestens den Wert von 20 Mark hatte, so ist leicht zu ersehen, dass sich die „wohltätige Zucht des Staatsgedankens" in diesem eigentümlichen Falle wirklich nur als vollständige Vermögenskonfiskation offenbart hat.

Dafür, dass sich die Städte von so erschöpfenden Aderlässen nicht wieder erholten, sorgten die Nachfolger des „eisernen Friedrich". Um nur eins anzuführen, so gab der sittenlose und verschwenderische Kurfürst Joachim II., als ihm das nötige Metall zur Ausprägung neuer Münzen fehlte, seinem Hofjuden Lippold eine Vollmacht, bei achtzehn reichen Bürgern in Berlin einen „Einfall" zu tun und ihnen das vorgefundene Gold und Silber abzunehmen. In dankbarer Erinnerung an diesen „Einfall" hat denn auch die freisinnige Stadtverwaltung von Berlin vor ein paar Jahren den anderen „Einfall" gehabt, aus der Tasche der städtischen Steuerzahler 10.000 Mark für ein Standbild Joachims zu spenden. Unter solchen Erpressungen verkamen die märkischen Städte vollständig; ihre Bürgerschaft wurde so entmannt, dass sie nicht einmal mehr die Waffen zum Schutze der eigenen Stadt führen mochte. Als am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ein Versuch gemacht wurde, eine Art bewaffneter Bürgerwehr in Berlin zu bilden, protestierte die Bürgerschaft in einer noch vorhandenen schriftlichen Urkunde: Einige von ihnen hätte man so gedrillt, dass sie den Tod davon gehabt; das Schießen sei auch sehr gefährlich, denn es erschrecke die schwangeren Weiber, und was diese heroischen Gesichtspunkte mehr waren. Im Dreißigjährigen Kriege endete dann die erste Epoche des preußischen Städtewesens mit dem vollständigen Ruin der Städte.

Die zweite Epoche reicht vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Schlacht bei Jena. Sie brachte, wenigstens für die größeren Städte und namentlich für Berlin, eine Art Aufschwung insofern, als dem Absolutismus aus höfischen und militärischen Rücksichten an der Förderung der städtischen Industrie gelegen war. Aber dies Ziel war nur zu erreichen durch Heranziehung ausländischer Kapitalien und Kapitalisten durch allerlei Sonderrechte, und wie im Berlin des achtzehnten Jahrhunderts Franzosen und Juden die ökonomisch privilegierte und herrschende, aber von der fürstlichen Gewalt völlig abhängige und deshalb für die Erziehung eines städtischen Gemeinsinns gänzlich ungeeignete Klasse waren, das ist erst kürzlich an einer anderen Stelle der „Neuen Zeit" in einem anderen Zusammenhange geschildert worden. Beiläufig hat die dort gegebene Darstellung durch die kürzlich veröffentlichten drei Bände der Acta borussica über die Seidenindustrie eine neue Bestätigung erhalten; aus diesen Archivalien geht hervor, dass die feinere Gewebeindustrie, die für das achtzehnte Jahrhundert eine ähnliche Bedeutung hatte wie die Eisen- und Kohlenindustrie für das neunzehnte, in dem ostelbischen Preußen fast ausschließlich in den Händen von französischen und jüdischen Kapitalisten lag. Dazu kam nun aber, dass die Städte, sobald sie sich nur eben erst von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges zu erholen begannen, sofort wieder die fürstlichen Schröpfköpfe am Leibe hatten. Friedrich Wilhelm I. nahm den Städten das Kämmereiwesen ab und stellte es unter seine Steuerräte mit dem Befehle, den Städten nur das Notdürftige zu lassen, den Überschuss aber an die königlichen Kassen abzuführen. Friedrich II. führte dies schöne Prinzip noch strenger durch; die städtische Verwaltung wurde zu einer königlichen; die Kriegs- und Domänenkammern ernannten die Magistrate und verfügten über das städtische Eigentum nach ihrem Belieben. So verarmten die Städte von neuem; ihre Anstalten verfielen; der Bürgersinn erlosch, soweit er etwa schon erwacht war. Genug, die zweite Epoche des preußischen Städtewesens endete abermals mit dem völligen Ruin der Städte.

Die dritte und bisher letzte Epoche beginnt mit der Städteordnung von 1808. Sie gab den Städten die Verwaltung ihrer Finanzen, des Armen- und Schulwesens und bedingungsweise auch der Polizei zurück, und sie war gegen den bisherigen Zustand unzweifelhaft ein namhafter Fortschritt. Aber wie die ganze preußische Reformgesetzgebung nach Jena trug sie die Spuren davon an sich, dass sie nur von der äußersten Not erpresst war. Ein schikanöses Aufsichtsrecht der landesherrlichen Behörden blieb bestehen; die Beschränkung des aktiven Wahlrechts durch einen für die damalige Zeit hohen Zensus und die gesetzliche Unterscheidung zwischen Bürgern und Schutzverwandten schlossen sowohl die arbeitenden wie die gebildeten Klassen von der städtischen Verwaltung aus. Die Masse der wahlberechtigten Bürger bestand aus Handwerkern und Hausbesitzern, die in einer unsagbar beschränkten Philistergesinnung groß geworden waren. Gewöhnt an die ausbeuterischen Praktiken der Zunft, sahen sie in der neuen Städtefreiheit kaum mehr als einen willkommenen Ersatz für das, was ihnen die Gewerbefreiheit genommen hatte. Mit behäbiger Seelenruhe verschleuderten sie den städtischen Landbesitz, verwüsteten sie die städtischen Forsten, rückten sie erobernd mit den Grenzen ihrer Gärten vor, bis Graben und Wall verschwunden war, teilten sie mitunter sogar den Hof des Rathauses unter sich auf. In der Tat – wenn gerade diese Klasse mit so besonderer sittlicher Entrüstung die angeblichen „Teilungs"gelüste der Arbeiter verflucht, so ist das in einer Beziehung doch keine so ganz leere Phantasie: Aus ihren eigenen Sünden nimmt sie den Maßstab, womit sie andere misst. Die Geschichte der preußischen Selbstverwaltung ist keineswegs ein so leuchtend weißes Ehrenblatt, wie die liberalen Geschichtsklitterer behaupten, und wenn wir vor acht Tagen erwähnten, dass in Berlin erst ein energischer Polizeipascha die kommunalen Einrichtungen schuf, welche die großstädtische Entwicklung verlangte – zur selben Zeit, als die Stadtverordnetenversammlung ihre Ehrenbürgerbriefe an Manteuffel und Wrangel verteilte –, so mag heute darauf hingewiesen werden, dass die berühmten preußischen Oberbürgermeister der vormärzlichen Zeit durchweg geschulte Bürokraten waren, deren berühmtester, der alte Ziegler, in erbittertem Kriege mit seinen Stadtverordneten lag und schließlich seinen rühmlichen Widerstand gegen ihre eigensüchtige Klassenwirtschaft mit einer wahrhaft tragischen Vernichtung seiner ganzen Existenz bezahlen musste.

Am 4. Februar 1869 schilderte Ziegler im preußischen Abgeordnetenhause die Wirkungen der Städteordnung während ihrer ersten Jahrzehnte wie folgt: „Man hatte in der Stadtverordnetenversammlung gerade die unfähigsten Leute, und diese unfähigsten Leute, die aus den ältesten Familien der Stadt bestanden, bildeten zusammen eine Koterie; wer am besten im Schützenhause seinen Dreikart spielte, der war der Mann." Diese Schilderung könnte tendenziös erscheinen, wenn ihr Urheber damit die Selbstverwaltung hätte schwächen wollen, aber Ziegler, der ausgezeichnetste Gemeindebeamte, den Preußen je gehabt hat, wollte ganz etwas anderes. Er fuhr fort: „Ich weiß sehr gut, was sich gegen das allgemeine Wahlrecht sagen lässt, aber das ist ganz gewiss, dass, wenn man sagt, nur eine Minorität könne die Freiheit bewahren, dies am wenigsten der Fall ist in den Städten. Da bewahrt die Minorität nicht die Freiheit, sondern sie bewahrt hübsch ihren Vorteil. Das vornehmlich ist die Sache, sie will aus dem allgemeinen Stadtsäckel essen und macht sich dieses auf die eine oder die andere Weise zunutze … Das sind die Leute, die durchaus eine Sucht haben zu herrschen, sich breitzumachen und irgendwo das große Wort mitzusprechen. Der kleine Mann will das nicht, der lässt sich viel eher regieren, und Sie würden eine viel größere Ruhe, Sie würden viel weniger Übermut in den Städten treffen, wenn das allgemeine Wahlrecht dort geltend wäre." Eine Ausführung, die inzwischen überall, wo Arbeiter zur Beteiligung an der städtischen Verwaltung gelangt sind, ihre glänzende Bestätigung erlangt hat. Das Sichselbstregieren, was Ziegler nach dem ganzen Zusammenhange seiner Rede unter dem Sichregierenlassen versteht, ist eben die echte Selbstverwaltung.

Aber von dieser Selbstverwaltung will weder die Bürokratie noch die Bourgeoisie etwas wissen. Jene hat ihr Aufsichtsrecht über die städtische Verwaltung immer nur angewandt, um die ihren eigenen Klasseninteressen feindlichen Gemeindebeamten, nie jedoch, um die von Ziegler so drastisch geschilderte Cliquenwirtschaft der Bourgeoisie zu beseitigen. Diese aber versteht unter Selbstverwaltung ihr Klassenregiment und gar nichts anderes. Beide haben gemeinsam im Jahre 1853 die Städteordnung „revidiert" und an die Stelle des durch den sinkenden Geldwert sehr elastisch gewordenen Zensus von 1808 das berüchtigte Dreiklassenwahlsystem gesetzt, das den Schwerpunkt der Selbstverwaltung, wie sich das für den Fortschritt der Zeiten geziemt, aus dem zum Proletariat herabsinkenden Handwerk in die große Industrie verlegt. Im Jahre 1876 forderten die Polen und die Ultramontanen im Abgeordnetenhause – natürlich auch nur aus parteitaktischen Gründen – das allgemeine Wahlrecht für die städtischen Wahlen, aber der gesamte Liberalismus stimmte dagegen bis auf ein paar Fortschrittler, die sich bei schon feststehender Mehrheit der ablehnenden Stimmen diesen Luxus gestatten zu können glaubten. Dagegen beantragte Herr Virchow, das Klassensystem so weit zu mildern, dass die erste Klasse mindestens ein Zwölftel, die zweite Klasse mindestens zwei Zwölftel der Wähler umfassen müsse. Da jede der drei Klassen den dritten Teil der Stadtverordnetenversammlung zu wählen hat, so sollte also nach Herrn Virchows fortschrittlich-wohlwollender Absicht das reichste Viertel der Berliner Bevölkerung die Zweidrittel-Mehrheit des städtischen Parlaments wählen. Aber dem Herrenhause war selbst das zu revolutionär, und es verwarf den Vorschlag.

Was Ziegler aus seiner reichen Erfahrung über die Minoritätswirtschaften in den städtischen Verwaltungen sagt, das trifft völlig auf die hiesige zu. Ein Dornenstrauch kann nun einmal keine Rosen tragen. Sie führt eine treffliche Finanzverwaltung – jawohl! Sie wirft Hunderttausende aus dem Fenster, wenn irgendein fremder Potentat einen flüchtigen Besuch am hiesigen Hofe abstattet oder irgendeine „illustre" Bourgeoisgesellschaft einen „Tag" in Berlin abhält, aber die städtischen Arbeiter lohnt sie mit Hungerlöhnen ab, um ja nicht die heiligen Gesetze von Angebot und Nachfrage zu verletzen. Sie führt eine vortreffliche Armenverwaltung – jawohl! Sie hält die Rotten der industriellen Reservearmee vollzählig, aber sie hört von keinem Notstande, wenn auch, wie im vorigen Winter, hunderttausend hungrige Stimmen nach Brot schreien. Sie führt eine vortreffliche Schulverwaltung – jawohl! Sie sichert der großen Industrie einen Stamm intelligenter Arbeiter, aber die Gewährung von freien Lehrmitteln in den Volksschulen und die Überlassung von städtischen Räumen an die Arbeiterbildungsschule lehnt sie ab. Sie umschreitet in der würdevollen Toga der Selbstverwaltung immer genau die Grenzen, die dem Klasseninteresse der großen Bourgeoisie gezogen sind. Darin tut sie keinen Schritt zu wenig und keinen Schritt zu viel.

In diesem Interesse nimmt sie denn auch das Joch der Bürokratie auf sich. Sie kann sich dem allgemeinen Schicksale der deutschen Bourgeoisie nicht entziehen, die aus Angst vor der erwachten und erwachenden Arbeiterklasse immer vorbehaltloser in die Bajonette des Absolutismus abdankt. Sie kann es um so weniger, als die hiesigen Arbeiter den trefflichen Gedanken gehabt haben, einige Hechte in den Karpfenteich des Roten Hauses zu setzen. Seitdem heißt es: rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo! Höchstens wenn ein Klasseninteresse der Bourgeoisie ernsthaft verletzt wird, zeigt sich noch eine Art krampfhaften Widerstandes, wie bei dem Städtetage tragikomischen Andenkens, mit dem Herr v. Forckenbeck der beginnenden Großgrundbesitzerpolitik Bismarcks ein Paroli zu bieten gedachte. Aber um solcher himmelblauen Illusionen, wie des höchst verehrten Prinzips der Selbstverwaltung willen geht die herrschende Clique keine Stunde von der Krippe. Da wählt sie lieber drauflos, wen ihr die Bürokratie zu wählen befiehlt, und fleht nur darum, doch auch ihre Klasseninteressen ein bisschen zu berücksichtigen. Und das bewilligt ihr die Bürokratie schon ganz gern, denn ihr kommt es nur auf ihre Gewalt und keineswegs auf das Wohl des arbeitenden und steuerzahlenden Volkes an.

So wurde die Wahl des Herrn Zelle, welche die tatsächliche Preisgabe der städtischen Selbstverwaltung war, von rechts und von links mit lebhaftem Beifall begrüßt. Kein bürgerliches Blatt lärmte darüber. Und nun, da Herr Stryck so ehrlich oder so ungeschickt ist, auszusprechen das, was ist, da er den Oberpräsidenten von Brandenburg „unsern Chef" nennt, lodert die sittliche Entrüstung in lichterlohen Flammen auf! Wen will man denn damit täuschen? Hoffentlich nur die Handvoll ehrlicher Ideologen, die es trotz alledem noch in den bürgerlichen Klassen gibt. Die Arbeiter wissen doch längst, dass Bourgeoisie und Bürokratie die gleich grimmigen Todfeinde der einzigen Selbstverwaltung sind, die diesen Namen verdient: des allgemeinen Stimmrechts für städtische Wahlen, und über diesen einfachen Sachverhalt lassen sie sich auch durch die gelungenste Komödie nicht täuschen.

1 Ironische Bezeichnung für die damals den Freisinnigen nahestehende „Vossische Zeitung" (eigentlich „Königliche Privilegierte Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen"). Älteste Berliner Zeitung, erschienen seit 1721 (seit 1785 unter dem genannten Titel).

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