Franz Mehring 18910720 Sanssouci

Franz Mehring: Sanssouci

20. Juli 1891

[Die Neue Zeit, 9. Jg. 1890/91, Zweiter Band, S. 553-556. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 502-506]

Die politische Stille des Hochsommers liegt auf Markt und Gassen; auch die geschwätzigsten Eckensteher der Bourgeoispresse schlafen allmählich an ihren Kannegießereien über den Dreibund und die sozialdemokratischen „Spaltungen" ein. Was die Herzen der Philister noch bewegt, ist allerlei örtlicher Kleinkram. So ist die Siegessäule aus dem Lote gewichen und droht – glücklicherweise nach der rechten Seite – umzustürzen. Der „Siegesspargel", wie dieses sozusagen künstlerische Denkmal wegen seiner wunderlichen Geschmacklosigkeit im Volksmunde heißt, steht noch nicht zwanzig Jahre; sein Ende naht ein wenig früh. Aber es teilt darin nur das gleiche Schicksal mit anderen Denkmälern des neuen deutschen Reichs; der Alsenbrücke droht der Einsturz, und gerade am Todestage von Moltke wurde die Brücke, die seinen Namen trägt, schon zum zweiten Male fertig. Man muss am Ende die Resignation des Reichstages bewundern, der die Wandelhalle seines neuen Gebäudes gleich mit Stuck zu bekleiden beschloss; so wird der schnelle Verfall aus einem unheimlichen Vorzeichen wenigstens eine natürliche Tatsache. Es war ein freies Volk, von dessen Baudenkmälern Platen sang, dass ihnen der Trotz der Ewigkeit in jedem Pfeiler emporsteige.

Ein anderes örtliches Ereignis der Woche waren die Alarmierungen der Feuerwehr. Sie hatten den Zweck festzustellen, ob das Neue Palais bei Potsdam, der Sommersitz der kaiserlichen Familie, genügenden Schutz vor Feuersgefahr genieße. Das Neue Palais ist in seiner Art auch ein Siegesdenkmal; Friedrich II. erbaute es in sechs Jahren gleich nach dem Siebenjährigen Kriege, derweil das Land aus tausend Wunden blutete. Es liegt am westlichen Rande des Parks von Sanssouci, ein ungeheures Gebäude mit zahllosen Prunksälen; auf seiner Kuppel tragen die Erzgestalten der drei Grazien mit erhobenen Armen die preußische Krone; den Köpfen der Frauen, die ihm seine Krone halten müssen, hat der König die Züge Maria Theresias, der Pompadour und der Zarin Elisabeth geben lassen. Ein in seiner Art vielleicht nicht übler Witz; nur schade, dass er dem Volke nahezu ebenso viel kostete, wie der König in den dreiundzwanzig Jahren seiner Regierung nach dem Siebenjährigen Kriege auf die Hebung des verwüsteten Landes verwandt hat! Für diesen Zweck verbrauchte er nach den sorgfältigen Berechnungen des Hofgerichtsschreibers Preuß fünfundzwanzig Millionen Taler, während der Bau des Neuen Palais elf Millionen und ebenso viel dessen innere Ausstattung verschlang. Jene 25 Millionen flossen übrigens zum weitaus größten Teile in die Taschen des Landadels; auf Bitten um Heilung von Kriegsschäden aus bürgerlichen Kreisen pflegte der „Philosoph von Sanssouci" zu antworten: „Am jüngsten Tag Krigt ein jeder alles Wieder was er in dießen Leben verlohren hat", oder auch: „Warum nicht auch Was er bei der sündfluht gelitten Wo seine Keller auch unter Wasser gestanden"; es gibt eine ganze Menge solcher eigenhändigen Kabinettsorders, die dem „Witze" ihres Urhebers ein besseres Zeugnis ausstellen als seiner landesväterlichen Fürsorge.

Man darf übrigens das Neue Palais von Sanssouci, das Friedrich II. nur flüchtig und selten als Wohnung benutzt hat, nicht mit dem Landhause von Sanssouci verwechseln, das sich auf einer sechsstufigen Terrasse dicht vor den Toren von Potsdam erhebt und vierzig Jahre lang der Lieblingsaufenthalt Friedrichs II. war. Das einstöckige Rokokoschlösschen steht heute einsam und verlassen; die hohen Fenster gähnen wie große, offene, längst verloschene Augen. Hastig treibt ein schwatzender Lakai eine Schar gleichgültiger Gaffer durch die Reihe der Gemächer und zuletzt zu den Grabsteinen, unter denen die Windspiele des Königs vor den Fenstern seines Arbeitszimmers verscharrt sind. Es sind zehn oder zwölf solcher Steine; Wind und Wetter eines Jahrhunderts haben auf ihnen die Schläge des Meißels noch nicht verwischt; man entziffert leicht: „Biche", „Amourette", „Phyllis", lauter weibliche Namen. An diesen historischen Gräbern erholt sich der Patriotismus der Besucher von Sanssouci vollends von der sittlichen Erschütterung, die er eben in dem Voltaire-Zimmer des Schlösschens erlitten hat. Ja, hier hauste der „schlechte und undankbare Mensch", wie er in der Mythologie der preußischen Geschichtsschreibung heißt. Und wie hauste er! Man kann noch heute bewundern, mit welcher feinen Laune Friedrich II. das Zimmer zum Empfange seines gefeierten Gastes herrichten ließ. Der ganze Raum ist überschwemmt mit Gestalten von Tieren, denen der Volksmund einen diebischen, giftigen und neidischen Charakter zuschreibt. Elstern und Eulen und Wiedehopfe, Affen und Hamster und Katzen sind in die Tapeten gewirkt, in die Polster der Diwans und Sessel gestickt; sie fletschen und grinsen von jeder Ecke des Ofens und des Schreibtisches, des Tintenfasses und des Papierkorbes. Wie dankbar musste der „undankbare Mensch" diese angenehme Gastfreundschaft empfinden!

Die preußische Mythologie hat sich an mehr Dingen im Himmel und auf der Erde versündigt, als ihre Schulweisheit sich träumen lässt, aber an keinem gröber und sozusagen unanständiger als an dem Andenken Voltaires. Und keineswegs bloß der „preußische Dryasdust"1, über den Carlyle so herzbrechende Klagen erhebt. Im Gegenteile – unter den preußischen Mythologen ist „Dryasdust" noch der verträglichste, weil er der naivste ist. Im Hofgeschichtsschreiber Preuß ist mehr Wahrheit als im Hofgeschichtsschreiber Treitschke, trotz der altvaterisch ehrfurchtsvollen Formen von Preuß und erst recht trotz des „wissenschaftlichen Freimuts" von Treitschke. „Dryasdust" hatte noch nicht vom Apfel der Erkenntnis gegessen und erzählt in seiner Unschuld Dinge, welche nach dem Sündenfalle schamhaft verborgen werden müssen. Nicht „Dryasdust", sondern gerade sein unerbittlicher Kritiker, Thomas Carlyle, und ihm nach ein anderer Ritter vom Geiste, nämlich David Strauß, haben ein durchaus entstelltes Bild von den Beziehungen Friedrichs und Voltaires entworfen. Und es ist beiläufig bezeichnend für den „Kultus des Genius", dass sein namhaftester englischer und sein namhaftester deutscher Vertreter in dem Streite zwischen dem „Genius" des Despoten und dem „Genius" des Weisen für jenen und gegen diesen sich entschieden haben. Und zwar entschieden haben wider die geschichtliche Wahrheit. Wie viel Aufhebens macht Carlyle davon, dass Friedrich, als ihm Voltaire einen Gruß von der Pompadour ausrichtete, trocken erwiderte: „Ich kenne sie nicht", und ach! wie sorgsam verschweigt er in seinen sechs dicken Bänden, dass Friedrich derselben Pompadour um den Preis des französischen Bündnisses das Fürstentum Neuchâtel auf ihre Lebenszeit anbieten ließ!

Dem Andenken Voltaires bei den „gebildeten" Deutschen ist es vollends verhängnisvoll geworden, dass außer den Friedrich-Mythologen auch die Lessing-Mythologen – denn leider! hat sich in der bourgeoisen Verknöcherung der Literatur auch schon um den wahrhaftigsten der Menschen eine Mythologie gebildet – über ihn gekommen sind. Auch hier zeichnen sich die alten, trockenen Biographen, die Danzel und Guhrauer, noch immer rühmlich aus vor literarischen Schaumschlägern, wie Adolf Stahr und Erich Schmidt, oder gar vor den Lessingen der „Vossischen Zeitung", die eben erst einen Juden verbrannt haben und doch mit dem Großohm krebsen, als hätte er in dem Patriarchen des „Nathan" sich selbst konterfeit. Lessings hartes und mitunter sogar – weshalb sollen wir nicht so ehrlich sein, wie Lessing selbst war? – gehässiges Urteil über Voltaire war subjektiv erklärlich und entschuldbar, denn der Konflikt, den er als zwanzigjähriger Student mit Voltaire hatte, hat auf sein ganzes Leben verhängnisvoll zurückgewirkt, dank nicht der Gehässigkeit Voltaires, sondern dem Vorurteile Friedrichs II. Aber dass Voltaire an einen blutjungen Mann, in dem er so wenig wie sonst jemand den Lessing der Zukunft erkennen konnte, einen spitzen Brief schrieb, weil derselbe durch einen, gelinde gesagt, sträflichen Leichtsinn seine literarischen Interessen empfindlich geschädigt hatte, das sollte ihm doch nicht fort und fort als ein Verbrechen angerechnet [werden], am wenigsten von den heutigen Lessingen, welche die Existenz eines jungen Schriftstellers durch üble Nachrede zu vernichten suchen, nur weil derselbe ein – Jude ist.

Sicherlich war es persönlichen Schwächen Voltaires geschuldet, dass er sich durch die Schmeicheleien Friedrichs verlocken ließ, unter die Hofnarren von Sanssouci zu gehen, und der kleine Profit, den er an den sächsischen Steuerscheinen zu machen suchte, verdient sittlich gewiss kein milderes Urteil als der große Profit, den Friedrich durch die „Auspowerung" der sächsischen Bevölkerung im Siebenjährigen Kriege machte. Aber was den „schlechten und undankbaren Menschen" schließlich mit dem Könige auseinanderbrachte, war doch nur der Umstand, dass Voltaire sich trotz alledem nicht zum Hofnarren entwürdigen ließ, sondern dass die Freiheit der Wissenschaft ihm höher stand als die Gunst eines Königs. Er warf sich zum Ritter für einen Gelehrten auf, den die Berliner Akademie der Wissenschaften unter dem Schutze des Königs gewaltsam zu unterdrücken suchte2, und er führte den Kampf mit den heute noch glänzenden Waffen eines unerschöpflichen Witzes, wie ihn Friedrich nur mit den Bajonetten seiner Grenadiere oder gar mit der Brandfackel des Henkers zu führen wusste. So gewann Voltaire wenigstens einen würdigen Ausgang aus den vielfach unwürdigen Verhältnissen, unter denen er in Berlin und Potsdam gelebt hatte, und das Ende beider Männer zeigte vollends, wer von ihnen tatsächlich dem Fortschritte der Menschheit gelebt hatte. Die menschlich freie und heitere Gastfreundschaft des Patriarchen von Ferney und der düstere, menschenfeindliche Hof des Einsiedlers von Sanssouci – welche Gegensätze! Und welche Gegensätze auch darin, dass Voltaire ganz Europa unter den Schlägen erzittern ließ, mit denen er die Calas und Sirven, die unschuldigen Opfer einer verrotteten Justiz, an ihren Peinigern rächte, während Friedrich in seinem Greisenalter den Gang der geordneten, ohnehin schon drakonischen Rechtspflege durch die Blutbefehle seiner Kabinettsjustiz nur zu stören bedacht war. So befahl er, selbst schon auf den Tod erkrankt, die Hinrichtung eines unfreiwilligen Totschlägers, der von dem ordentlichen Gerichte zu einer gelinden Festungsstrafe verurteilt worden war, indem er die Gegenvorstellung des Justizministers durch den Hinweis auf die „göttlichen Gesetze" zurückwies. Der Justizmord konnte nur dadurch gehindert werden, dass der Kriminalsenat des Kammergerichts die Abfassung des Erkenntnisses bis über den Tod des Königs hinaus verschleppte, wie denn dieser Senat nach dem Zeugnisse des loyalen Preuß die Vorsichtsmaßregel traf, „in ähnlichen Fällen nicht auf Festungs-, sondern auf Zuchthausstrafe zu erkennen, damit das Erkenntnis nicht dem König zur Bestätigung eingereicht zu werden brauchte und ähnliche Eingriffe in die Justiz vermieden würden".

Diese urkundliche Wahrheit sticht freilich seltsam ab von einem kostbaren Kleinod der preußischen Mythologie, von der patriotischen Fabel über den Müller von Sanssouci, der den König Friedrich durch das geflügelte Wort: „Ja, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!" von dem beabsichtigten Eingriffe in sein Eigentum abgehalten haben soll. Am bekanntesten ist die französische Fassung dieses Worts, und zwar mit Recht, denn der Ursprung der Fabel ist ein französischer; die Phantasie eines deutschen Fabeldichters, so viele es ihrer zu Friedrichs II. Zeiten gab, hätte auch nimmermehr zu dieser Fabel ausgereicht. Andrieux hat den „Müller von Sanssouci" in einer kleinen, poetischen Erzählung erfunden, und sein Vers:

Oui, si nous n'avions pas des juges à Berlin,

Ja, wenn wir nicht Richter in Berlin hätten,

hat sich dann zu dem geflügelten Worte verdichtet: il y a des juges ä Berlin, es gibt Richter zu Berlin! Andrieux war ein zu harmloser Poet, als dass man ihn in dem Verdacht haben könnte, eine boshafte Revanche für Roßbach genommen zu haben; gleichwohl wird sein böhmisches Glas, das jetzt in der preußischen Mythologie als seltener Edelstein glänzt, den Hebern dieses Schatzes dermal einst scharf in die Finger schneiden. An dem Tage nämlich, an welchem eine wahrhaftige Geschichte der preußischen Kabinettsjustiz, die mit Friedrich II. so wenig geboren wie gestorben ist, geschrieben sein wird.

1 dry as dust (engl.) – so trocken wie Staub.

2 Gemeint ist Samuel König (1712-1757), ein holländischer Mathematiker. (Siehe auch Mehring: Die Lessing-Legende, Bd. 9 der „Gesammelten Schriften", S. 234.)

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