Franz Mehring 19020219 Über den Absolutismus

Franz Mehring: Über den Absolutismus

19. Februar 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 641-644. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 440-444]

Es wäre eine nicht uninteressante Untersuchung, den modischen Absolutismus, wie er durch die gewaltigen Klassenkämpfe der Gegenwart entstanden ist, eingehend mit dem modernen Absolutismus zu vergleichen, wie er sich seinerzeit aus der Auflösung der feudal-mittelalterlichen Gesellschaftsformationen entwickelt hat. Es ist nicht nur ein historischer Irrtum, sondern kann auch ein praktisch politischer Fehler werden, den Absolutismus eines Wilhelms II. mit dem Absolutismus eines Friedrichs II. auf dieselbe Stufe zu stellen und demgemäß zu bekämpfen.

Selbstverständlich denken wir dabei nicht an die persönlichen Qualitäten ihrer Träger. Ob Wilhelm II. bedeutender ist als Friedrich II. oder umgekehrt, das ist eine ganz beiläufige und unwesentliche Frage, für die wir nicht entfernt dasselbe Interesse haben wie die bürgerliche Opposition der vierziger Jahre, die dem damaligen preußischen König das Spottlied sang: Und ob Du wohnst in Sanssouci, Der alte Fritze wirst Du doch nie. Was von den Menschen im allgemeinen gilt, das gilt auch von den Königen: Sie hängen weit mehr von den Umständen als von ihrem Willen ab, und ihr Wille selbst wird von den Verhältnissen umgeprägt und umgequetscht, so dass nur Wirkung ist, was äußerlich als Ursache erscheinen mag.

Wenn wir die beiden Arten von Absolutismus, deren typische Träger für Deutschland Friedrich II. und Wilhelm II. sind, als modern und modisch unterscheiden, so kommt es uns nicht weiter auf die Worte an! Wir gehen vielmehr auf die Sache ein, aus der sich ergeben wird, in welchem Sinne und mit welchem Rechte wir jene Ausdrücke gebrauchen. Der moderne Absolutismus erscheint historisch in den Übergangsperioden, wo die alten Feudalstände untergehen und der mittelalterliche Bürgerstand zur modernen Bourgeoisklasse sich entwickelt, ohne dass noch eine der streitenden Parteien mit der anderen fertig geworden wäre. Aus der Niederlage der feudalen Stände hervorgegangen und selbst den tätigsten Anteil an ihrer Zerstörung nehmend, suchte die absolute Monarchie das Aufkommen der Bürgerklasse zu begünstigen als notwendige Bedingung sowohl der nationalen Macht wie des eigenen Glanzes. Es versteht sich, dass sich diese historische Entwicklung in den einzelnen Ländern mannigfach komplizierte; in ihren Grundzügen war sie überall dieselbe, aber in ihren Einzelheiten vollzog sie sich in England anders als in Frankreich und in Frankreich anders als in England.

Speziell in Deutschland entwickelte sich der moderne Absolutismus später und dauerte länger als in den westeuropäischen Ländern. Der Untergang der deutschen freien Städte; die Vernichtung des Ritterstandes; die Niederlage der Bauern; die daraus hervorgehende Landeshoheit der Fürsten; der Verfall der deutschen Industrie und des deutschen Handels, die ganz auf mittelalterlichen Zuständen beruhten, in demselben Augenblick, wo der moderne Weltmarkt sich eröffnete und die große Manufaktur aufkam, die Entvölkerung und der barbarische Zustand, die der Dreißigjährige Krieg zurückgelassen hatte; der Charakter der wieder sich erhebenden nationalen Industriezweige, wie der kleinen Leinenindustrie, denen patriarchalische Zustände und Verhältnisse entsprechen; der Charakter der Ausfuhrartikel, die größtenteils der Agrikultur angehörten und darum fast nur die materiellen Lebensquellen des Landadels und somit seine relative Macht den Bürgern gegenüber vermehrten; die gedrückte Stellung Deutschlands auf dem Weltmarkt im allgemeinen, wodurch die den Fürsten von Fremden gezahlten Subsidien eine Hauptquelle des Nationaleinkommens wurden; die daraus erfließende Abhängigkeit der Bürger vom Hofe und so weiter und so weiter – alle diese und viele andere Verhältnisse, deren Aufzählung an dieser Stelle zu weit führen würde, verursachten sowohl, dass sich der moderne Absolutismus in Deutschland verhältnismäßig langsam entwickelte, als auch, dass er hier gar keine nationale, sondern nur eine partikularistische Existenz gewann, dass sein klassischer Vertreter für Deutschland kein deutscher Kaiser, sondern ein preußischer König geworden ist, und dieser auch nur in ziemlich karikierter Gestalt.

Es ist bekannt genug, wie sehr Friedrich II. von Gnaden des ostelbischen Junkertums regiert hat, wie er nicht einmal so viel Courage gegen diese angenehme Klasse aufzubieten gewusst hat wie sein Vater, einer der groteskesten Despoten, die je auf einem Throne gesessen haben. Die ganze Politik Friedrichs II., speziell auch seine Handels- und Verkehrspolitik, war nur ein schiefer und schwächlicher Abklatsch des modernen Absolutismus, wie er in Frankreich begründet worden war. Die Blütezeit dieses Absolutismus trat in Deutschland erst dann ein, als in Frankreich längst sein Verfall begonnen hatte.

Je mehr nämlich die Bourgeoisie erstarkte, dadurch, dass sich Handel und Industrie immer mächtiger entwickelten, desto missgünstiger wurde sie von der absoluten Monarchie betrachtet. In ihrer ganz richtigen Sorge, dass eine Bourgeoisie, die aus eigener Kraft mit den Überresten des Feudalismus fertig zu werden vermöge, auch mit ihr selbst nicht langes Federlesen machen werde, kehrte diese Monarchie um und suchte auf Schritt und Tritt die bürgerliche Entwicklung zu hemmen, sich selbst aber mit ihren alten feudalen Gegnern wieder anzufreunden. Statt zu zentralisieren, worin ihre eigentliche zivilisierende Tätigkeit bestand, begann sie zu dezentralisieren; „von der Stadt, der Geburtsstätte ihrer Erhebung, warf sie den ängstlich und stumpf gewordenen Blick auf das Land, das mit den Leichen ihrer alten, reckenhaften Gegner gedüngt war".

Diese Politik des modernen Absolutismus erinnerte an das lateinische Wort: um des Lebens willen die Quellen des Lebens verschütten. Der moderne Absolutismus hielt sich in Frankreich zwar lange genug dadurch am Leben, dass er gegenüber der immer mächtiger werdenden Bourgeoisie sich auf den feudalen Adel stützte; aber dann kam der Tag, wo diese Stütze brach und brechen musste, und das französische Königtum selbst lag rettungslos am Boden. Freilich wenn es eine hergebrachte und an sich auch nicht unrichtige Redewendung der bürgerlichen Geschichtsschreibung ist zu sagen, die Bourbonen hätten ihren Sturz ihrem Bündnis mit einer so überlebten Klasse zu danken, wie der feudale Adel gewesen sei, so könnten die Bourbonen darauf antworten: Ja, was sollten wir sonst tun? Dem Adel waren wir wenigstens noch wert, weil wir der Bourgeoisie Knüppel in den Weg werfen konnten, während wir für die Bourgeoisie nur noch unnütze Brotesser waren, sobald sie uns nicht mehr als Gegengewicht gegen den Adel brauchte. Sie hätte uns eines schönen Tages ohne alles Larifari verabschiedet, während der Adel uns doch noch einen gewissen tragischen Abgang von der historischen Bühne gesichert hat. So oder ähnlich könnten die Gespenster der Bourbonen zu den bürgerlichen Geschichtsschreibern sprechen, die ihnen vorwerfen, nichts gelernt und nichts vergessen zu haben.

Nach dem, was wir über die Entstehung des modernen Absolutismus in Deutschland gesagt haben, brauchen wir nicht ausführlicher darzulegen, dass und weshalb sich hier der Untergang des modernen Absolutismus in ungleich karikierterer Form vollzog. Ludwig XVI. machte historisch eine viel anständigere Figur, indem er das Blutgerüst bestieg, als Friedrich Wilhelm IV., indem er auf Befehl des Volkes vor den gefallenen Barrikadenkämpfern den Hut zog. Genug aber, im Jahre 1848 schlug die Sterbestunde des modernen Absolutismus; die Bourgeoisie war wenigstens in den vorgeschrittensten Ländern so weit, dass sie mit allen mittelalterlichen Überlebseln ohne jede Hilfe aufräumen konnte, und sie ist eine viel zu kühle Rechnerin, um eine so kostspielige Einrichtung wie die Monarchie, sobald sie ihr keine Dienste mehr leisten kann, nicht kaltblütig zu beseitigen.

Wenn sie es dennoch nicht tat, sondern gerade umgekehrt „monarchisch" bis auf die Knochen wurde, ja ein Patent auf die „echte", „wahre", „unauslöschliche" Königstreue nahm, so aus dem ihr eigentümlichen Schicksal heraus, aus dem Verhängnis, dass sie selbst nicht mächtig werden kann, ohne auch ihren Todfeind, das Proletariat, zur Macht zu erziehen. Die Sterbestunde des modernen Absolutismus wurde die Geburtsstunde des modernen Kommunismus. Sobald die Bourgeoisie dem König- und Junkertum den Fuß in den Nacken setzt, tritt ihr das Proletariat als politische Partei gegenüber, nicht um sie an ihrem Siege über politisch rückständige Klassen zu hindern, aber um seine eigenen Interessen zu wahren. Die liberalen Falstaffs, die sich in den Rodomontaden gefallen, ihre edle Partei käme zu nichts, weil sie von zwei Seiten angegriffen würde, wissen selbst am besten, dass und wie sehr sie lügen. Die Arbeiterklasse hat die Bourgeoisie noch nie daran gehindert, dem König- und Junkertum den denkbar gründlichsten Prozess zu machen; sie hat selbst das lebhafteste Interesse daran, dass dieser Prozess angestrengt wird. Vielmehr liegt die Sache so, dass sich die Bourgeoisie aus Angst vor den berechtigten Forderungen des Proletariats lieber dem König- und Junkertum in die Arme wirft. Sie treibt dieselbe selbstmörderische Politik wie ehedem der moderne Absolutismus; sie gibt ihre eigentlich zivilisierende Tätigkeit auf und wird um so reaktionärer, je mehr das Proletariat erstarkt.

Aus diesem Verhängnis der Bourgeoisie aber entsteht jene modische Form des Absolutismus, die sich bald Bonapartismus, bald Imperialismus, bald soziales Königtum nennt. Wir nennen sie modisch, weil sie im großen Zusammenhang der historischen Entwicklung in der Tat mehr eine Mode als wirkliche Periode ist. Sie tritt sehr viel großmächtiger auf, hat aber sehr viel weniger hinter sich als der moderne Absolutismus. Hatte dieser wirklich einen historischen Pionierdienst zu vollziehen, indem er der bürgerlichen Entwicklung den Weg räumte, so liegt dem modischen Absolutismus nur der historische Gendarmendienst ob, die proletarische Entwicklung zu hindern, um den besitzenden Klassen die ungestörte Herrschaft zu sichern. Der modische Absolutismus hat scheinbar eine freiere und unabhängigere Stellung, als der moderne Absolutismus hatte, weil er nicht mehr nur zwischen zwei, sondern zwischen drei Klassen balanciert, allein dieser Schein trügt, da er nicht mehr eins gegen eins, sondern immer nur eins gegen zwei ausspielen, also, immer nur ein hoffnungsloses Spiel treiben kann und zum ewigen Lavieren gezwungen ist.

Freilich gibt es für ihn gewisse Möglichkeiten, zwei gegen eins zu spielen. Die eine dieser Möglichkeiten war in den Tagen Bismarcks auch Wirklichkeit; sie hat zu Voraussetzungen, dass Junkertum und Bourgeoisie unter einen Hut gebracht werden und dass sich die Arbeiterklasse knebeln lässt. Mit diesen Voraussetzungen hört auch diese Möglichkeit des modischen Absolutismus auf; die Arbeiterklasse ist zu stark, um sich knebeln zu lassen, wie das klägliche Ende des Sozialistengesetzes beweist, und die Interessen des Junkertums und der Bourgeoisie lassen sich nicht dauernd verkuppeln, wie das ewige Scheitern der sogenannten Sammelpolitik zeigt. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der modische Absolutismus die gemeinsamen Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats gegenüber dem Junkertum durchzusetzen versucht, und dies wäre gewiss sein würdigster Abgang von der historischen Bühne, aber ein Abgang wäre es freilich, und darauf mag er sich nicht einlassen.

So laviert er im Zickzack, indem er gleichsam mit einem Winke seines Fingers ein paar Erdteile aus den Angeln heben will, während er in jedem praktischen Interessenkonflikt zwischen den drei großen Klassen der modernen Gesellschaft hilf- und ratlos ist. Man blicke auf die Ereignisse der letzten Woche; die Reise des Prinzen Heinrich nach Amerika hier und die Verhandlungen der Zolltarifkommission dort, und man hat das Wesen des modischen Absolutismus erfasst.

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