Franz Mehring 18920914 Wie es kommen wird

Franz Mehring: Wie es kommen wird

14. September 1892

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Zweiter Band, S. 801-805. Nach Gesammelte Schriften, Band 5, S. 513-518]

Mitunter geschehen doch noch Zeichen und Wunder, und man ist versucht, an der Weisheit des Ben Akiba zu zweifeln, wenn man die „Kreuz-Zeitung" gegen die neue Militärvorlage predigen hört. Sie findet, dass „eine nicht direkt produktive Ausgabe von 100 bis 150 Millionen Mark im Jahre" mehr in diesen Tagen der Cholera und der wirtschaftlichen Depression die Hoffnung auf eine Besserung unserer Verhältnisse tief hinab drücke. Sie meint, eine solche Kraftanstrengung dürfe dem Volke nur zur Abwendung einer dringenden, seine Existenz bedrohenden Gefahr zugemutet werden. Und selbst dann will sie die neue Steuer nicht denen auferlegt wissen, die ohnehin schon schwer um die Behauptung einer bescheidenen Lebenshaltung zu kämpfen haben, sondern ausschließlich den Wohlhabenden und solchen Produktionszweigen, deren Reingewinne das Durchschnittsmaß offenkundig um ein Erhebliches übersteigen.

Wenn man's so hört, könnt's leidlich scheinen. Aber – wir kennen die Weise, wir kennen den Text, wir kennen auch die Verfasser. Wir kennen sie nicht erst seit heut und gestern, wir kennen sie schon seit hundert Jahren oder noch länger. Der alte Ben Akiba hat doch wohl recht, und wenigstens unter der Sonne des preußischen Militarismus gibt es nichts Neues. Der elegische Protest der „Kreuz-Zeitung" ist nur ein neuer Zug in dem „Molochspiele", wie der „Vorwärts" das ab- und aufwiegelnde Gemunkel über die neue Militärvorlage treffend nennt. Ein neuer Zug und doch schon ein alter! Es gab schon einmal einen Zeitpunkt in der preußischen Geschichte, wo ein furchtbarer Notstand im Volke herrschte und dennoch eine Erhöhung des Militäretats unter denselben Sirenenklängen angebahnt wurde, welche heute die „Kreuz-Zeitung" anstimmt. Es war die Zeit nach dem Siebenjährigen Kriege, von der Schmoller, gewiss kein preußenfeindlicher Gelehrter, sagt: „Zu Ende des Krieges waren die preußischen Provinzen in einem entsetzlichen Zustande; die Menschen-, Vieh- und Kapitalverluste waren übermäßig; ein Drittel der Berliner lebte von Armenunterstützung; in der Neumark gab es notorisch fast kein Vieh mehr; Tausende von Häusern und Hütten waren niedergebrannt; eine volkswirtschaftliche Krise der schlimmsten Art folgte dem Frieden und dauerte noch mehrere Jahre." Gleichwohl wollte der König für militärische Zwecke die jährlichen Abgaben des Volks um zwei Millionen Taler erhöhen, einen winzigen Brocken für Molochs heutigen Appetit, aber für die damalige Zeit eine sehr stattliche Summe. Das Generaldirektorium, die oberste Verwaltungsbehörde des Staats, erklärte aber jede Erhöhung der Abgaben für unmöglich. Darauf ließ Friedrich einen Haufen französischer Steuer- und Zollbeamten kommen, „eine Bande unwissender Spitzbuben' , wie Hamann sagte, „Sansfacons und Raubmarquis, die man zur Ferme kommen ließ"', wie Bürger in einer Ballade sang. Ihnen übertrug der König die Verwaltung der Zölle und der indirekten Steuern unter dem Namen der „Generaladministration der königlichen Gefälle"; im Volksmunde hieß die neue Einrichtung kurzweg die Regie. Sehen wir nun, wie es damals kam; daraus lässt sich leicht erkennen, wie es heute kommen wird.

Mit lebhaften Worten erklärte Friedrich die Regie für eine „sozialistische Reform", um im Kauderwelsch der heutigen Staatssozialisten zu sprechen. „Nehmen Sie nur von denen, die bezahlen können; ich gebe sie Ihnen preis", sagte er dem Leiter der Regie, dem Franzosen de Launay. „Ausschließlich die Wohlhabenden", sagt heute die „Kreuz-Zeitung". Und in einem öffentlichen Patente erklärte der König, Zweck der Regie sei eine derartige Verteilung der Steuerlast, dass „die Reichen mit ihrem Überfluss in gewisser Weise zur Entlastung der Armen beitragen und dass zwischen beiden ein gerechtes und verständiges Verhältnis besteht". Dafür nennt Herr Dr. Walther Schultze, der neueste Historiker der Regie, den König denn auch „in finanzieller Hinsicht einen der größten Monarchen der Zeit". Aber noch mehr! In einem Briefe an Launay vom 16. März 1766 erklärt sich der König zum Sachwalter der Arbeiter und der Soldaten, deren Vorteil er zu vertreten habe, und jubelnd schreibt Herr Schultze: „Das Programm, das jener Brief enthält, ist ein ausgesprochen sozialistisches; mit scharfen, einer Missdeutung nicht fähigen Worten erklärt sich der König zum Patron der Enterbten." Seitdem Herr Adolph Wagner mit dem „Patrimonium der Enterbten" in der Wahlbewegung von 1881 herum hausierte, scheint dies schöne Wort unter den „wissenschaftlichen" Staatssozialisten als Deckmantel für jeden „wissenschaftlichen" Humbug patentiert zu sein.

Schon in jenem königlichen Briefe vom 16. März 1766 meldete sich der hinkende Bote an. Als Anwalt der Arbeiter und Sachwalter verlangt der König zwar die denkbar höchste Besteuerung des Weins, „denn das bezahlt der Arme nicht", aber die Steuer auf den Branntwein will er doch nur herabgesetzt, nicht aufgehoben wissen, und für die Steuer auf das Bier, das damals verbreitetste und schon sehr hoch besteuerte Volksgetränk, gesteht er sogar eine „nicht zu hohe" Steigerung zu. Indessen dadurch lässt sich Herr Schultze nicht gar zu sehr verblüffen. „Nur in einem", schreibt er, „unterscheidet sich der Sozialismus Friedrichs scharf und bestimmt von dem heutigen: Er hält sich durchaus in den Grenzen der Realität, sucht nicht seine Ideale zu verwirklichen auf Kosten des Bestehenden, des historisch Gewordenen … Friedrichs Politik übersieht nie, dass vom Standpunkt des Sozialismus aus wünschenswerte Ideale wegen der Rücksicht auf [die] finanzielle Wirklichkeit unausführbar erscheinen." Aber nun erschien das neue Steuergesetz, und neben einer teilweisen Ermäßigung der Brotsteuer brachte es den Armen außer andern schönen, hier nicht weiter zu erwähnenden Dingen ein sehr drückendes Tabaksmonopol, eine Erhöhung der Branntweinsteuer und eine – Verdoppelung der Biersteuer, während der Wein nur ein wenig höher belastet wurde. Herr Schultze stutzt, denn den schreienden Widerspruch zwischen Friedrichs Worten und Taten kann er nicht leugnen. Aber, so fasst er sich mit der bewundernswerten Geistesgegenwart des guten Patrioten: „Wenn man also" (nämlich nach den Briefen und Patenten des Königs) „in der Steuerreform lediglich eine fiskale Maßregel sieht, so heißt dies nichts anderes, als den König der Lüge beschuldigen. Das, denke ich, wird man doch bei Friedrich dem Großen nicht wagen." O Gott bewahre, Herr Schultze, wer könnte auf diesen verbrecherischen Gedanken verfallen!

Inzwischen hatten es sich die mit hohen Tantiemen an dem Ertrage der Regie beteiligten „Sansfacons und Raubmarquis" nicht umsonst sagen lassen, dass ihnen die „Wohlhabenden" preisgegeben seien. Und wer war in dem damaligen Preußen „wohlhabender" als die Landjunker, „deren Reingewinne", um mit der „Kreuz-Zeitung" zu reden, „das Durchschnittsmaß offenkundig um ein Erhebliches überstiegen"? Zwar besaß der Adel Steuerfreiheit von den indirekten wie von den direkten Steuern; er durfte Bier, Wein und alle sonst besteuerten Genuss- und Lebensmittel akzisefrei auf seine Güter einführen. Indessen den französischen Regiebeamten war die historische Ehrfurcht vor diesen durch allerlei Lug und Trug erworbenen Steuerprivilegien nicht angeboren, und so suchten sie ihre Schröpfköpfe auch dem Junkertum anzusetzen. Da kamen sie aber bei Friedrich schön an. Hören wir auch darüber Herrn Schultze! Er schreibt: „Mit weitgehender Pietät hütet der König sich vor einem Eingriff in die verbrieften Rechte anderer; bei allen sozialistischen Ideen, die ihn beherrschen, ist er doch gewillt – und dies unterscheidet ihn scharf von dem späteren Sozialismus – das historisch gewordene Eigentum anderer in dem weitesten Umfange zu respektieren; hier findet seine Steuerpolitik ihre bestimmte Grenze, über die keine Sophismen hinaus helfen. Der genialste Vertreter des aufgeklärten Despotismus zeigt eine viel größere Scheu vor Eingriffen in die Rechte der Individuen als später der Liberalismus." Ja, nicht nur für den Adel, sondern auch für sonst bevorrechtete, wenn auch „gesetzlich" nicht steuerfreie Klassen beanspruchte Friedrich von den Regiebeamten möglichste Schonung, und „dass er selbst dort, wo keine legalen Ansprüche vorlagen, nur behutsames Vorgehen verlangte, macht seiner Humanität alle Ehre", nämlich nach Ansicht des Herrn Schultze.

Um so ärger musste die arme, ärmere und ärmste Bevölkerung bluten. Und um dies Blut allein und bis auf den letzten Tropfen aufzufangen, um die Verkäufer an zu hohem Preisaufschlage, an Schmuggel und Unterschlagung zu hindern, erfand Launay die schöne Theorie, dass der König „Miteigentümer der den Steuern unterworfenen Gegenstände" sei, der als solcher dafür zu sorgen habe, dass man ihn nicht betrüge und das Volk nicht täusche. Dieser Gedanke berauscht Herrn Schultze so, dass er ihn eigenmächtig aus Launays Feder in Friedrichs Kopf verpflanzt und dann in die Saiten stürmt: „Setzen wir für ,König' das gleichbedeutende ,Staat', so haben wir den reinsten Sozialismus, ja Kommunismus vor uns. Man erkennt, wie kühn der Gedankenflug Friedrichs ging: Der Monarch ist nicht bloß Herrscher über seine Untertanen, sondern Miteigentümer des Besitzes derselben, aber diese Miteigentümerschaft gibt – und hierin liegt das Ideale, Erhabene der friderizianischen Gedanken – nicht Rechte, sondern Pflichten. Scheinbar dieselbe Idee wie jenes l'Etat c'est moi! des französischen Autokraten und doch welch' anderer Inhalt! Dort der Begriff des allumfassenden Rechtes, hier der der allumfassenden Pflicht. Darin liegt der unüberbrückbare Gegensatz des sozialistisch angehauchten Königtums Friedrichs des Großen und der späteren sozialen Theorien, dass erstere von der Pflicht des einzelnen, letztere vom Rechte anderer ausgehen. Mag man vom nationalökonomischen Standpunkte aus über Friedrich, über den Sozialismus denken, wie man wolle, vom ethischen aus muss man sagen: tiefer, idealischer, heroischer ist die Anschauung des preußischen Königs." Bums-vallera – und damit genug von Herrn Dr. Schultze.

Das Netz dieses wunderbaren Sozialismus hatte nun aber noch ein kleines Loch. In dem menschenarmen und durch den König vollends verwüsteten Lande waren die Arbeitskräfte selten und sehr gesucht; demgemäß verursachte die ungeheuerliche Mehrbelastung des Massenverzehrs eine Steigerung des Arbeitslohns. Hierüber erhoben die Kapitalisten das unvermeidliche Lamento, und Friedrich forderte von dem Generaldirektorium amtliche Auskunft über die Gründe der „noch immer fortdauernden Klagen derer Fabrikanten und Kaufleute". Unglücklicherweise gab es damals noch keinen preußischen Staatssozialismus, und das Generaldirektorium huldigte obendrein der altvaterisch und heute so unzeitgemäß gewordenen Ansicht, dass die Beamten nicht dazu da seien, auf Kosten des Volkes dem Könige zu schmeicheln, sondern im Interesse des Volkes dem Könige ungeschminkte Wahrheit zu berichten. In einer „Pflichtmäßigen Anzeige" entwickelte es, dass die „Behinderungen im Commercio in denen königlichen Landen" namentlich in der unrichtigen Steuerpolitik beständen, in den verschiedenen Monopolia, „insonderheit dem allergrößesten Bedruck aus der General-Tabaks-Verpachtung", in der Erhöhung des Steuerdruckes auf den Massenverzehr usw. Der König aber schrieb an den Rand dieses in den ruhigsten und sachlichsten Formen abgefassten Berichts eigenhändig: „Ich erstaune über der impertinenten Relation so sie mir schicken, ich entschuldige die Ministres mit ihre Ignorence, aber die Malice und die corruption des Concipienten muss exemplarisch bestraffet werden sonsten bringe ich die Canaillen niemahls in der Subordination." Es folgte dann sofort eine Kabinettsorder, worin Se. K. M. dero General-Directorio bekanntmachen, „wie allerhöchst dieselbe den Geheimen Finanzrat Ursinus cassiret und nach Spandow zur Festung bringen lassen" und worin allen denjenigen, die sich auf den Wegen des Ursinus betreten lassen werden, angekündigt wird, dass „Se. K. M. selbige, es mögen Räte oder Ministres sein ohne alle Umstände arretiren und auf Zeit Lebens werden zur Festung bringen lassen". Auf diesem „tiefen, idealischen, heroischen" Wege wurde der pflichtmäßige Widerstandsversuch des Beamtentums gegen eine heillose Ausbeutung der armen Volksklassen gebrochen, und die Regie hat bis zum Tode des Königs fortgewütet. Die Lohnfrage suchte Friedrich übrigens auf seine Weise durch Lohntaxen zu lösen, deren Überschreitung nach oben sowohl für die Empfänger als unter Umständen auch für die Geber mit Zuchthausstrafe bedroht wurde, wogegen es „sich von selbst verstehet", dass ihre Überschreitung nach unten erlaubt war.

Wie es damals kam, so wird es wiederum kommen. Wie der König Friedrich angeblich die Reichen den erhöhten Militärlasten preisgab, um diese dann desto wuchtiger auf die Armen zu wälzen, so predigen heute die berufensten Organe des Militarismus den Wohlhabenden den Steuerkrieg, weil wieder einmal ein blutiger Beutezug gegen die Taschen der Arbeiter geplant wird. Pfeifen es doch schon die Spatzen von den Dächern, dass heute wie damals vor allem Bier, Branntwein und Tabak die Zeche bezahlen sollen. Und heute wie damals wird mit der teilweise erleichterten Belastung des Getreides gekrebst werden, um den neuen Aderlass möglichst zu beschönigen. Kommt es aber zur „Reform" der Brau-, der Branntwein-, der Tabaksteuer, dann wird heute wie damals alles darangesetzt werden, die neuen Lasten möglichst ausschließlich auf die Schultern des Proletariats zu wälzen. Den Frühstücksschnaps des Landarbeiters in glühender Erntezeit zu verteuern, das wird „tief, idealisch, heroisch" sein, aber dem schnapsbrennenden Landjunker die bekannte Liebesgabe zu entziehen, das wird ein „Eingriff in die verbrieften Rechte anderer", in die „Rechte der Individuen", ein Mangel an „Pietät" und an „Humanität" sein. Herr Walther Schultze lebt ja noch an der Universität Halle, und seine staatssozialistische Harfe hängt noch an den Weiden der Saale. Und wenn er verstummt, dann werden tausend andere Schultzes des „wissenschaftlichen Sozialismus" reden. Sie wachsen im „Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte" ja wild wie die Brombeeren.

Freilich decken sich zwei historische Situationen niemals völlig. Wo wäre heute wohl das Generaldirektorium, das dem Kaiser und den Fürsten wahrheitsgemäß schilderte, wie die deutsche Nation unter einer ungeheuren Steuerlast zusammenzubrechen beginnt? Sucht es mit dem Mikroskope, und ihr werdet es nirgends im ganzen Deutschland finden. Eher könnte schon zu einem Geheimen Finanzrat Ursinus Rat werden, wenn man nur nicht in Beamtenkreisen nach ihm forscht. Der Reichstagsabgeordnete Schippel sitzt augenblicklich hinter schwedischen Gardinen, weil er den bismärckischen Staatssozialismus genau so gekennzeichnet hat wie weiland Ursinus den friderizianischen: nämlich als eine unter dem Scheine des Gegenteils betriebene Begünstigung der besitzenden Klassen auf Kosten der besitzlosen. Preisen wir unser erleuchtetes und vorgeschrittenes Zeitalter glücklich, weil es wenigstens keiner Kabinettsjustiz mehr bedarf, um die „Kanaillen in der Subordination" zu halten!

Und so müssen wir denn den Satz berichtigen, mit dem wir diese harmlose Betrachtung begannen. Es geschehen wirklich keine Zeichen und Wunder mehr, wenigstens nicht im Preußischen. Die Mogeleien mit der neuen Militärvorlage sind altpreußische Tradition, und ewig neu kann nur die Verwunderung darüber sein, dass diejenigen nicht alle werden, die darauf hineinfallen.

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