I-III

Am 30. April dieses Jahres war ein halbes Jahrtausend verflossen, seitdem der Burggraf Friedrich von Nürnberg, aus dem schwäbischen Geschlecht der Hohenzollern, vom König Sigismund die Markgrafschaft Brandenburg samt der Kurwürde übertragen erhielt. Am 21. Oktober 1415 empfing der neue Markgraf in Berlin die feierliche Erbhuldigung der märkischen Landstände, und am gleichen Tage dieses Jahres ist das offizielle Jubiläum gefeiert worden, in Anbetracht der Zeitumstände wesentlich nur durch den Austausch huldigender und dankender Telegramme sowie durch Feiern in Kirche und Schule.

Nicht an den Tag gebunden ist dagegen ein Buch, das Herr Otto Hintze, Professor an der Berliner Universität, als Jubiläumsschrift herausgegeben hat. Der Verfasser will „das Werk der Hohenzollern, so wie es ist, der Welt vor Augen stellen" und fügt hinzu: „Das geschieht hier in einer schlichten, leidenschaftslosen Darstellung. Es ist auch kein Panegyrikus, trotz des festlichen Anlasses, sondern ein Buch, das vor allem nach wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit strebt." Das ist nun freilich nur mit dem bekannten Körnlein Salzes zu verstehen.

Schon der Titel des Buches erweckt einige Zweifel. Der gegenwärtige Krieg beweist schlagend genug, dass die „vaterländische Geschichte" doch etwas anderes ist als ein „Werk der Hohenzollern". Auch rein äußerlich deuten der – namentlich bei seiner höchst splendiden Ausstattung – auffallend niedrige Preis des Buches sowie die mehr als vierzigtausend Exemplare, die trotz seiner keineswegs leicht lesbaren Darstellung binnen weniger Monate abgesetzt worden sind, darauf hin, dass dies Schifflein doch nicht ganz auf eigene Rechnung und Gefahr das augenblicklich so windstille Meer des Buchhandels befährt.I

Indessen darf das Werk des Herrn Hintze deshalb doch nicht mit den landläufigen Jubiläumsschriften in einen Topf geworfen werden. Der Verfasser hat sich jahrzehntelang mit der brandenburgisch-preußischen Geschichte beschäftigt, und wenn anders sich jedermann seines Fleißes rühmen darf, so kann er wohl beanspruchen, gehört zu werden, wenn er darstellen will, „wie unsere inneren Zustände geworden sind und warum sie so und nicht anders werden mussten". Versteht sich, unter den gebotenen Einschränkungen, über die zunächst einige aufklärende Bemerkungen gestattet sein mögen.

I

Von den zwölf Kapiteln des Buches fallen die drei letzten, die die Zeit von 1840 bis 1889 umfassen, ganz aus dem Rahmen einer wissenschaftlichen Darstellung heraus und verdienen keine ernsthafte Beachtung. Hier ist Herr Hintze durchaus der loyale Staatsdiener, der im allgemeinen den Standpunkt vertritt, den er in einem einzelnen Falle mit den Worten umschreibt, möge auch die Rechtsfrage zweifelhaft gewesen sein, so habe tatsächlich die Regierung des Königs das Vernünftige und Heilsame vertreten. Wenn Johann Jacoby seine „Vier Fragen" in einem „heftigen, rechthaberischen Ton" geschrieben oder die Deputation, die die preußische Versammlung am 9. November 1848 an den König sandte, „eine drohende, unehrerbietige Sprache" geführt haben soll, so muss man zugunsten des Herrn Hintze annehmen, dass er weder die „Vier Fragen" noch die Adresse, die jene Deputation überreichte, jemals gelesen hat. Seine Darstellung der Revolutionsjahre widerspricht nahezu in jedem Satze den urkundlichen Tatsachen. Ebenso verzerrt wie die Dinge erscheinen die Personen. Der altpreußische Patriot Waldeck wird zum „starren Doktrinär", der „von den Ideen des Vernunftrechts und der Volkssouveränität durchdrungen" gewesen sei. Aber immerhin – wenn der König im Jahre 1848 den Verfassungsentwurf der Berliner Versammlung die „Charte Waldeck" genannt habe, so sei das nicht richtig; wenn dieser Entwurf „sehr stark im radikalen Sinne" ausgefallen sei, so habe der „ultramontan-demokratische Abgeordnete Peter Reichensperger" den Haupteinfluss dabei geübt. Tatsächlich war Reichensperger in der Berliner Versammlung der Führer der Rechten und in der Verfassungskommission, deren Arbeiten Waldeck als Vorsitzender leitete, nur stellvertretender Schriftführer. Allerdings lobt Reichensperger in seinen Denkwürdigkeiten den Verfassungsentwurf in der Fassung der Kommission, aber nicht in irgendwelchem „demokratischen" oder „radikalen" Sinne, sondern gerade umgekehrt wegen seiner „Mäßigung", die es dem Ministerium Brandenburg-Manteuffel nach der Sprengung der Versammlung ermöglicht habe, den Entwurf nahezu wörtlich in die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 aufzunehmen. Virchow wieder wird nicht mit seinem geflügelten Worte vom „Kulturkampf" verewigt, sondern mit dem geflügelten Worte vom „Großmachtkitzel", der dem preußischen Staat ausgetrieben werden müsse, das bekanntlich Schulze-Delitzsch zum Urheber hat.

Viel schlimmer noch ergeht es der deutschen Arbeiterbewegung. „Zwei Agitatoren von jüdischer Herkunft" haben sie ins Leben gerufen: Lassalles Anhang habe eine „mehr nationale Richtung" verfolgt und sei im Zuge gewesen, sich zu einer „monarchisch-demokratischen Arbeiterpartei mit einem sozialistischen, aber auch deutsch-nationalen Programm" zu entwickeln, als Marx, „der verbitterte Flüchtling von 1848", mit seiner „internationalen Richtung" und seiner „absolut giftigen Staatsfeindschaft" dazwischengekommen sei und das Feld behauptet habe. Es ist wirklich etwas hart, diese uralten Scherze heute noch in einem angeblich wissenschaftlichen Werke lesen zu müssen. Aber Herr Hintze steht nun einmal der Arbeiterbewegung so weltfremd gegenüber, dass er ihr sogar nicht in den äußerlichsten Kleinigkeiten gerecht zu werden weiß. So erzählt er, das Sozialistengesetz sei „1879 zunächst auf vier Jahre erlassen und auf Grund zweimaliger Erneuerung bis 1890 in Wirksamkeit gewesen". Das sind gleich drei chronologische Schnitzer in einer einzigen Zeile. Das Sozialistengesetz ist nicht 1879, sondern 1878 erlassen worden, und zwar zunächst nicht auf vier, sondern auf zweieinhalb Jahre, und es ist nicht zwei-, sondern viermal erneuert worden.

Danach braucht wohl nicht mehr ausführlich begründet zu werden, weshalb ein längeres Verweilen bei den letzten drei Kapiteln des Herrn Hintze keinen lohnenden Ertrag geben würde.

II

Anders steht es mit seinen neun ersten Kapiteln, die manches Anregende und Lehrreiche enthalten. Sie sind viel unbefangener geschrieben als die drei letzten. Ihr Inhalt widerlegt auch hinlänglich den Titel des Buches; wer sie mit Verstand liest, wird sehr bald die Überzeugung gewinnen, dass der preußische Staat keineswegs ein Werk der Hohenzollern ist, sondern dass dieser besondere Fall nur die immer gültige Wahrheit bestätigt, wonach nicht die Fürsten die Geschichte machen, sondern umgekehrt die Geschichte die Fürsten macht. Aber freilich mit Verstand wollen auch diese Kapitel gelesen sein.

Die wirkliche Geschichte des preußischen Staates lässt sich heute nur noch aus den Archiven schöpfen. Dieser Staat hat niemals einen Thukydides besessen, der die Geschichte dessen, was er miterlebt hat, auch nur mit der geringsten Treue und Wahrhaftigkeit zu erzählen wusste. Was von derartigen gleichzeitigen Nachrichten vorhanden ist, hat entweder gar keinen Wert oder ist so kritiklos zusammengeschrieben, dass es ohne andere Hilfsmittel gar nicht möglich ist, die etwaigen paar Körner Weizen aus der massenhaften Spreu zu sondern. Erst seitdem sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Archive zu öffnen begannen, kann man von einer preußischen Geschichtsschreibung sprechen. Aber auch sie hatte von vornherein ihre bestimmten Grenzen.

Einmal wird sie durch die Staatsräson eingeengt, die keineswegs eine rücksichtslose Durchstöberung der Archive gestattet und je nachdem ihren Schlagbaum auf hundert und mehr Jahre zurückerstreckt. Dann aber erhält nicht jeder Forscher, der über das notwendige wissenschaftliche Rüstzeug gebietet, den Zutritt zu den Archiven, sondern wer diesen Vorzug genießen will, muss gewisse Bürgschaften seiner politischen Überzeugung bieten; Marx und Lassalle würden zum Beispiel niemals den Zutritt in preußische Archive erlangt haben. Nun kann die beanspruchte politische Überzeugung auf durchaus ehrliche Weise erworben worden sein, und der Fall mag sogar immer so liegen, aber von einer „voraussetzungslosen" Forschung – um das in bürgerlichen Kreisen so beliebte Schlagwort zu gebrauchen – kann doch nicht mehr gesprochen werden, wenn nur solche Forscher zugelassen werden, die die Urkunden nicht mit bloßen Augen, sondern durch eine bestimmte Brille lesen, mag ihnen diese Brille auch sozusagen angewachsen sein. Und damit nicht genug, so hängt der archivalischen Arbeit noch ein anderer Klotz am Bein. Sie ist nicht nur von einer bestimmten Voraussetzung abhängig, sondern auch von bestimmten Ergebnissen, die nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach politischen Maßstäben gemessen werden. Mit anderen Worten: Wer auf Grund seiner archivalischen Arbeiten historische Darstellungen veröffentlicht, die der jeweiligen Regierung politisch unzuträglich erscheinen, der muss darauf gefasst sein, dass sich ihm die Archive noch schneller schließen, als sie sich ihm geöffnet haben. Um nur ein paar allbekannte Fälle anzuführen, so musste der Historiker Martin Philippson auf Verfügung des Generaldirektors v. Sybel die Archive räumen, weil sein Werk über die Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. in leitenden Kreisen irgendwelchen Anstoß erregt hatte, aber dem Historiker v. Sybel – heute mir, morgen dir – wurden dann nach dem Sturze Bismarcks die Archive des Auswärtigen Amtes gesperrt, weil den nunmehr leitenden Kreisen die Ergebnisse nicht zusagten, die Sybel zur Zeit Bismarcks aus denselben Archiven geschöpft hatte.

Man darf nun aber doch auch nicht die Missstände übertreiben, die sich aus diesem Konflikt zwischen Staatsräson und Wissenschaft ergeben. Bis zu einem gewissen Grade werden sie dadurch aufgehoben, dass die Arbeiter in den Archiven zwar an eine bestimmte Voraussetzung gebunden sind und bis zu einem gewissen Grade unter einem Damoklesschwert forschen, aber deshalb doch keineswegs alle über einen Kamm geschoren sind. Der eine sieht dies schärfer, der andere jenes, der eine will diesen Zeitabschnitt genauer untersuchen, der andere jenen, der eine ist geschickter, der andere unvorsichtiger: genug, sie lassen sich gegenseitig kontrollieren, wodurch die Unzulänglichkeit des einzelnen freilich nicht aufgehoben, aber bis zu einem gewissen und unter Umständen weitreichenden Grade ausgeglichen wird. Man muss jeden dieser preußischen Historiker lesen, wie Lessing seine Dramen schrieb: indem man seine ganze Belesenheit gegenwärtig hat und bei jedem Punkt alles, was man bei den anderen preußischen Historikern über denselben Punkt gelesen, ruhig durchläuft. Ebendies meinen wir, wenn wir sagten, Herr Hintze wolle mit Verstand gelesen sein. Man muss seine Darstellung unter steter Kontrolle der Ranke, Droysen, Sybel, Treitschke, Koser, Schmoller usw. halten, und man wird dann mit einiger Genauigkeit erkennen können, wie sich die fünf Jahrhunderte vaterländischer Geschichte wirklich abgespielt haben.

Es sei noch gestattet, die hier empfohlene Methode an einem oder dem anderen beliebig herausgegriffenen Beispiel zu erläutern. Herr Hintze erzählt uns, der hohenzollernsche Kurfürst Friedrich II., der von 1440 bis 1470 regierte, habe bedeutende Erfolge der landesfürstlichen Politik auf dem Gebiet des Kirchenregiments errungen. Er habe durch ein Konkordat mit der römischen Kurie sich die Ernennung der Landesbischöfe von Brandenburg, Havelberg und Lebus gesichert, er habe die geistliche Gerichtsbarkeit und einiges andere mehr erreicht. Dann heißt es wörtlich: „Im Zusammenhang mit der spezifisch märkischen Färbung der Kirchenpolitik stand auch, dass Friedrich das sogenannte ,Wunderblut' von Wilsnack, dessen Pfarrkirche mit ihren blutschwitzenden Hostien zu einer berühmten Wallfahrtstätte geworden war, gegen die Einmischung des Erzbischofs von Magdeburg in Schutz nahm und zugunsten der Wallfahrer sogar einen päpstlichen Ablass auswirkte. Fasst man das alles zusammen, so kann man sagen: Der Kurfürst erwarb durch diese Privilegien die wesentlichsten Befugnisse der bisher vom Papste ausgeübten oder beanspruchten Kirchenhoheit in Seinem Lande… Es würde zu weit gehen, wenn man behaupten wollte, dass damit bereits die Anfänge einer brandenburgischen Landeskirche in katholischer Zeit vorhanden gewesen wären; aber eine Grundlage war allerdings geschaffen, auf der später eine solche Landeskirche erbaut werden konnte." So Herr Hintze.

Sieht man zunächst von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Darstellung ab, so hängt sie wenigstens in sich zusammen – bis auf den Punkt mit dem „Wunderblut" in Wilsnack. Die blutschwitzenden Hostien gehörten im ausgehenden Mittelalter zu jenem großen Auspumpungssystem, womit die römische Kurie die Völker aussog, und jeder Versuch, eine Landeskirche zu gründen, begann damit, sich aus diesem weitmaschigen Netze zu befreien. Nach Herrn Hintze ließ der Kurfürst Friedrich dies Netz selbst dann, wenn ein Erzbischof es zu zerreißen drohte, durch den Papst noch fester knüpfen, was die Grundlage einer besonderen Landeskirche geschaffen haben soll. Man kann in diese Darstellung höchstens einen Zusammenhang bringen, wenn man annimmt, dass der Erzbischof von Magdeburg bei seinem geistlichen Einschreiten gegen einen geistlichen Unfug die Rechte des Landesherrn verletzt habe, aber wie das möglich gewesen sein soll, ist vollends rätselhaft.

Gelöst wird dies Rätsel durch Herrn Heidemann, der ebenfalls Professor ist oder war, wenn auch nicht an der Berliner Universität, so doch an einem Berliner Gymnasium, und der – im Jahre 1889 – ebenfalls eine Festschrift aus den Archiven geschöpft hat, zwar nicht zu einem Hohenzollern-, sondern zu einem Reformationsjubiläum. In dieser Schrift („Die Reformation in der Mark Brandenburg") erzählt Herr Heidemann ausführlich die Geschichte des „Wunderbluts" von Wilsnack, die hier aus räumlichen Rücksichten nur kurz wiedergegeben werden kann.

Im Sommer 1383 äscherte ein Ritter Bülow Dorf und Kirche Wilsnack ein. Als man den Schutt der Kirche wegräumte, trat plötzlich der Wilsnacker Priester Johannes Cabutz, der schon früher in Entdeckung von „Wunderblut" gemacht hatte, mit der Behauptung hervor, dass er drei vor dem Brande geweihte Hostien, die in der Kirche aufbewahrt worden waren, unversehrt aufgefunden habe mit einem Blutstropfen in der Mitte jeder Hostie. Der Bischof von Havelberg, zu dessen Diözese Wilsnack gehörte, bestätigte sofort dies Wunder, und alsbald begannen die Pilgerfahrten nach Wilsnack. Zwar erklärte Cabutz, dessen Habsucht nach den Opfergeldern von dem Bischof nicht genügend befriedigt wurde, schon im Jahre 1386, er habe das Wunderblut gefälscht, allein der Bischof wusste dies Geständnis unwirksam zu machen, indem er die unlauteren Beweggründe, aus denen es abgelegt wurde, gegen den geständigen Sünder kehrte.

Gefährlicher war ein Vorstoß, den im Jahre 1405 Johannes Hus im Auftrag des Erzbischofs von Prag gegen den Schwindel unternahm. An der Spitze eines für diesen Zweck eingesetzten Ausschusses untersuchte Hus die angeblichen Heilwirkungen des Wunderbluts und kam zu dem Ergebnis, dass sie durchweg auf Betrug oder Täuschung beruhten. Allein alsbald begann Hus seine ketzerische Laufbahn und wurde in Konstanz verbrannt, wodurch das Wunderblut nur umso größeres Ansehen gewann.

Von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strömten immer dichtere Pilgerfahrten nach Wilsnack, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Böhmen und Ungarn, aus Dänemark und Schweden. Die Sache wurde zum europäischen Skandal. Erst im Jahre 1442 fand sich ein neuer Streiter gegen den gräulichen Unfug in der Person des Magdeburger Domherrn Tocke. Er untersuchte die Hostien und fand sie vom Alter aufgezehrt, dünn wie Spinnweben und ohne jede Spur von Blut oder auch nur von Röte. Er suchte nun die geistliche wie die weltliche Macht zum Einschreiten zu bewegen: den Erzbischof von Magdeburg, dem die Havelberger Diözese unterstand, wie den Kurfürsten Friedrich, in dessen Lande Wilsnack lag.

Geneigtes Gehör fand er nur bei jenem, aber nicht bei diesem. Vielmehr als der Erzbischof von Magdeburg gegen seinen kirchlichen Untergebenen in Havelberg einschritt, wurde dieser von der weltlichen Macht unterstützt; unter anderem veranlasste der Kurfürst Friedrich einen gelehrten und damals sehr angesehenen Theologen, seinen „würdigen und andächtigen Rat und lieben Getreuen", einen Traktat für die Echtheit des Wunderbluts zu schreiben; „religiöse Überzeugung und finanzpolitische Rücksichten", schreibt Heidemann, „machten den Kurfürsten zu einem Beschützer des Wünderbluts". Der Streit schwebte noch, als der seinerzeit berühmte Kardinal Nikolaus von Cusa als Legat des Papstes in kirchlichen Angelegenheiten nach Deutschland kam. Als er in Magdeburg von dem Wilsnacker Skandal hörte, ordnete er die Schließung der Wilsnacker Kirche an, und als der Bischof von Havelberg sich dagegen sträubte, belegte er diesen mit dem; Bann und Wilsnack mit dem Interdikt. „Aber", so schreibt wieder Heidemann, „selbst die schwersten Kirchenstrafen vermochten nicht, die Anhänger des Wunderbluts zu schrecken. Ohne dieselben zu beachten, setzten sie eine überaus rührige Agitation gegen die Entscheidung des Kardinallegaten bei der römischen Kurie ins Werk. Am 6. März 1453 erließ der Papst Nikolaus V. eine Bulle zugunsten des Wunderbluts, und Aberglauben und Fanatismus feierten einen glänzenden Triumph über Glauben und Wahrheit." Und dieser Triumph hat dem Wilsnacker Wunder noch jahrzehntelang unabsehbare Scharen von opfernden Betern zugeführt.

Kontrolliert man nun Hintze durch Heidemann und Heidemann durch Hintze, so ergibt sich, dass Heidemann schamhaft verschweigt, was Hintze offen zugibt, dass der Kurfürst Friedrich die Bulle des Papstes Nikolaus durchgesetzt hat. Dagegen erledigt Heidemann sehr gründlich die Behauptung Hintzes, dass der Kurfürst durch sein Verhalten in dem Wilsnacker Spektakel die Grundlage geschaffen habe, auf der sich die spätere evangelische Landeskirche erheben konnte. Diese Behauptung ist jedenfalls viel anfechtbarer als die Behauptung Heidemanns, dass der Erfolg des Kurfürsten bei der römischen Kurie ein glänzender Triumph des Aberglaubens und Fanatismus über Glauben und Wahrheit gewesen sei, obgleich auch damit keineswegs der Nagel auf den Kopf getroffen worden ist.

Man kann es nicht oft genug wiederholen, dass jede tendenziöse Geschichtsschreibung mit dem gerechten Fluche belastet ist, diejenigen am härtesten zu strafen, denen sie am eifrigsten nützen will. Bildet man sich ein, dass Fürsten die Geschichte machen, so wird man allerdings zugeben müssen, dass der Kurfürst sich in dem Wilsnacker Handel äußerst unerbaulich benommen habe. Bekennt man sich dagegen zu der Wahrheit, dass die Geschichte die Fürsten macht, so wird man billigerweise anerkennen müssen, dass kein Fürst seinerzeit anders gehandelt haben würde als der Kurfürst Friedrich, so wie diese Zeit nun einmal landesväterliche Fürsorge verstand. Man kann sogar zweifeln, ob die zeitliche Einschränkung berechtigt ist: Der Klassenstaat hat niemals heikel über den Ursprung des Geldes gedacht, das ihm Geld in seine Kassen brachte, von dem non olet jenes römischen Kaisers, der den Kloaken eine Steuer auferlegte, bis zu dem nicht minder geflügelten Worte von den Dummen, die man nicht hindern könne, ihr Geld aus dem Fenster zu werfen, womit Herr Delbrück im Jahre 1874 den deutschen Reichstag erleuchtete, um die Untätigkeit der Staatsanwälte gegenüber den Betrügereien der Gründerjahre zu rechtfertigen. Aber jedenfalls in dem ebenso geldarmen wie geldhungrigen fünfzehnten Jahrhundert hätte jeder deutsche Fürst seiner Pflicht zu fehlen geglaubt, wenn er eine Quelle verschüttet hätte oder auch nur hätte verschütten lassen, die einen Geldstrom in sein Land leitete.

Seine Frömmigkeit kam dabei keineswegs ins Gedränge, und am wenigsten in diesem Falle. Es ist zwar einseitig ausgedrückt, braucht aber nicht unrichtig zu sein, wenn ein dritter preußischer Historiker, der Berliner Universitätsprofessor Droysen, aus den Archiven zu melden weiß („Geschichte der preußischen Politik"), der Kurfürst Friedrich habe dem Domherrn Tocke auf dessen Mahnungen erwidert, man wisse wohl, wo man mit Zweifeln anfange, aber nicht, wo man mit Zweifeln aufhöre, oder wörtlich: Tocke werde ein Feuer schüren, das er nicht wieder zu löschen vermöge; wie Droysen erzählt, habe der Kurfürst die päpstliche Bulle veranlasst, weil ihm „die heilige Stätte in Wilsnack am Herzen gelegen" habe. Der Kurfürst wäre dann immerhin in besserem Einklang mit seinem religiösen Gewissen gewesen als einige Jahre später sein sächsischer Namensvetter, der mindestens ebenso fromm war und sogar noch viel mehr Heiligenknochen sammelte, aber gleichwohl Luthers Kampf gegen den päpstlichen Ablass förderte und schützte. „Religiöse Schwärmerei" her und „religiöse Schwärmerei" hin, entscheidend war immer die „finanzpolitische Rücksicht"; der Kurfürst Friedrich von Brandenburg förderte den Wilsnacker Taumel, weil er viel Geld in sein Land brachte, und der Kurfürst Friedrich von Sachsen bekämpfte den päpstlichen Ablass, weil er viel Geld aus seinem Lande zog. Beide aber handelten gemäß den Anschauungen, die ihrerzeit als durchaus erlaubt und sogar geboten galten.

Noch ein anderes Beispiel! Herr Otto Hintze sagt mit Recht, dass die Not des Dreißigjährigen Krieges am ärgsten auf Brandenburg gelastet habe, und sagt weiter: „Dass es (Brandenburg) trotz der kläglichen Rolle, die es im Dreißigjährigen Kriege gespielt hatte, doch noch mit einem vergrößerten Landbesitz aus dem Westfälischen Friedensschluss hervorging, verdankte es mehr der Erschöpfung Österreichs und den Gleichgewichtsbestrebungen der französischen Politik als seiner eigenen Bedeutung und der Geschicklichkeit seiner Diplomaten bei den Friedensverhandlungen." Nun klingt es ja sehr schön: „Gleichgewichtsbestrebungen der französischen Politik", aber doch etwas allgemein, und wenn man, um sich näher zu unterrichten, Koser („Geschichte der brandenburgisch-preußischen Politik") nachliest, so findet man, „dass hinter den hochtrabenden, so uneigennützig klingenden Beteuerungen der französischen Staatsmänner egoistische Nebenabsichten verborgen waren" und ihre wohlwollende Förderung des Kurfürsten von Brandenburg „im Grunde nur ein Hebel der französischen Eroberungspolitik" war. Sie hielten das Kurfürstentum Brandenburg für den wirksamsten Spaltpilz in dem schon sehr lockeren Gefüge des Deutschen Reiches und wollten es im Westfälischen Frieden sogar noch reichlicher ausstatten, nämlich durch ganz Schlesien, was ihnen bekanntlich erst ein Jahrhundert später gelungen ist.

An solchen Beispielen einer schillernden Darstellung ist das Werk des Herrn Hintze nur allzu reich, und deshalb muss man es unter das beständige Kreuzfeuer der anderen preußischen Historiker rücken, um was Ordentliches daraus zu lernen.

III

Unter dieser Bedingung aber ist es nicht übel zu lesen. Wenigstens kennen wir kein anderes Werk über preußische Geschichte, das ihren roten Faden so ständig und stark wenn auch nicht bloßlegt, so doch durchschimmern lässt wie dieses, wobei nur immer die drei letzten Kapitel auszunehmen sind.

Mit diesem Vorzug hängt ein anderer innerlich zusammen. Herr Hintze stellt keine übermäßigen Ansprüche an die Geduld der Leser; er selbst beklagt in der Vorrede, dass er sich auf einen Band habe beschränken müssen, während es für ihn „befriedigender" gewesen sein würde, seinen Gegenstand in drei bis vier Bänden zu behandeln. Er muss sich wesentlich auf das Tatsächliche beschränken, auf das sich der Leser weit eher selbst seinen Vers machen kann, als wenn er durch die preußischen Historiker an dem Leitseil allgemeiner Betrachtungen geführt wird.

Jenen roten Faden nun in der Darstellung des Herrn Hintze zu verfolgen, soll die Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen sein. Selbstverständlich kann es sich dabei nicht um eine noch so gedrängte Skizze des tatsächlichen Verlaufs handeln, den die preußische Geschichte genommen hat. Das würde sich schon aus räumlichen Rücksichten verbieten. Aber ihre entscheidenden Gesichtspunkte lassen sich ohne Zwang auch im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfassen. Es sind ihrer weder mannigfache noch viele, wenigstens nicht bis zum Jahre 1840, bis wohin wir Herrn Hintze nur begleiten wollen, sowohl weil er danach ganz versagt als auch aus anderen bewegenden Ursachen.

Über die Nützlichkeit eines solchen Versuchs brauchen wir uns hoffentlich nicht lange zu rechtfertigen. Bebel hat einmal auf einem Parteitag gesagt, Preußen sei ein ganz besonderer Staat, was vollkommen richtig ist, wenngleich nicht in dem – von Bebel selbstverständlich auch nicht gemeinten – Sinne, als ob es nicht denselben Gesetzen geschichtlicher Entwicklung unterstünde wie andere Staaten. Der preußische Staat hat sich nur aus ganz besonderen Zuständen entwickelt, die genau zu kennen nicht nur von historischem Interesse, sondern auch von politischem Wert ist.

I Die im Text geäußerte Vermutung ist inzwischen durch die Veröffentlichung eines landtätlichen Erlasses bestätigt worden, wonach das Buch von den Landratsämtern zum Preise von 4 Mark vertrieben wird.

Kommentare