XV-XVII

XV

Der König Friedrich Wilhelm I. begann seine Regierung mit einer bedeutenden Vermehrung des stehenden Heeres; er brachte es von 38 Bataillonen und 53 Schwadronen auf 66 Bataillone und 114 Schwadronen.

Alsbald zeigte sich jedoch, dass ein Heer in dieser Stärke nicht von dem Lande aufrechterhalten werden konnte, wenn es bei dem bisherigen Werbesystem blieb. Nicht nur wegen der Kostspieligkeit der Werbungen, nicht nur, weil der entsetzliche Menschenraub der preußischen Werber im Ausland fortwährende Konflikte mit den benachbarten Staaten hervorrief, sondern in erster Reihe, weil der gleiche Menschenraub im eigenen Lande einen Widerstand erzeugte, dem der König gern oder ungern weichen musste.

Treffend wird die Lage der Dinge dadurch gekennzeichnet, dass der Generalauditeur Katsch einmal den Wunsch aussprach, dass bei den Werbungen wenigstens das viele Blutvergießen vermieden werden möchte. In der Tat machten Adel und Bauern gemeinsame Sache gegen die Werber des Königs und erwehrten sich ihrer im Notfall mit gewaffneter Hand. Dann aber wich die junge Mannschaft, wo sie irgend konnte, über die Grenze; es fehlte an ausreichenden Arbeitskräften, die Saat zu bestellen und die Ernte einzubringen; die Behörden äußerten sich besorgt darüber, dass die Kontribution nicht mehr pünktlich entrichtet und auch das Kommerzium nicht mehr florieren, also die Akzise ebenfalls abnehmen würde. Schon ein Jahr nach dem Antritt seiner Regierung musste der König alle gewaltsame Werbung verbieten. Er ließ noch alle möglichen Hintertüren offen; die „freiwillige" Werbung sollte in der Form gestattet werden, „dass nämlich keine Exzesse und große Gewalttätigkeiten dabei vorgehen und desfalls keine Klagen einkommen mögen" usw. Indessen der Widerstand der Bevölkerung war nicht zu überwinden. So hat denn der König – wenn anders die patriotische Legende zutrifft – sich durch das Kantonreglement von 1733 zur allgemeinen Wehrpflicht bekehrt und das Heer, wenn nicht schon aus der ganzen Bevölkerung, so doch aus ihrer bäuerlichen Masse rekrutiert. Urheber dieser Legende ist Scharnhorst, der sie im Jahre 1810 erfand, um die allgemeine Wehrpflicht dem widerstrebenden König als ein althohenzollernsches Erbstück schmackhaft zu machen. Die Legende hat sich dann fast ein Jahrhundert lang am Leben erhalten, obgleich ihre Unmöglichkeit sozusagen auf der Hand lag.

Es ist noch das wenigste, dass Friedrich Wilhelm I. dermaßen in das Söldnerheer verliebt war, dass er nicht nur das Wort „Miliz", sondern selbst das Wort „Militär" auf seine Regimenter anzuwenden verbot. Rätselhaft war vor allem, dass der Adel, ohne ein Sterbenswörtlein des Protestes, sich der „allgemeinen Wehrpflicht" seiner Hintersassen gefügt haben sollte, obgleich er schon wegen der paar Groschen Lehenpferdegelder einen wahren Höllenspektakel erhoben und sogar in den für ihn sauersten Apfel gebissen und seine Hörigen bewaffnet hatte, um die gewaltsame Werbung des Königs zu hindern. Endlich in dem Kantonreglement von 1733 stand etwas ganz anderes, als was Scharnhorst darin gelesen haben wollte.

In der Tat, wenn der preußische Militärstaat, wie seine Historiker nicht mit Unrecht sagen, erst unter Friedrich Wilhelm I. entstanden ist, so doch nicht als Schöpfung dieses Königs, sondern als einer jener Verträge zwischen Adel und Monarchie, die die preußische Geschichte kennzeichnen, Verträge, bei denen der Löwenanteil immer auf die Seite des Adels fällt. Der märkische Adel hatte sich von Anfang des miles perpetuus an in die Offizierstellen gedrängt, aber im Anfang noch mit ausländischen Adligen, deutschen Kleinfürsten oder auch bürgerlichen, im Dreißigjährigen Kriege emporgekommenen Offizieren zu kämpfen gehabt. Seine eigentliche Domäne wurde das Heer erst, als er die Frage zu lösen verstand, wie eine Bevölkerung von wenig über 2 Millionen ein Heer von 80000 Mann unterhalten könne.

Die Lösung war verhältnismäßig einfach. Noch war das Heer nicht so weit „verstaatlicht", dass es nicht noch beträchtliche Reste des Kondottierewesens enthalten hätte, vor allem die sogenannte Kompaniewirtschaft. Der Kompaniechef war, um die Worte Max Lehmanns zu gebrauchen, „ein in der Regel glücklicher, zuweilen aber auch unglücklicher Unternehmer an der Spitze einer Waffengenossenschaft". Aus der königlichen Kasse erhielt er ein Pauschquantum, aus dem er, wie es im Reglement hieß, „alle Unkosten, die bei der Kompanie vorfallen, bezahlen" musste. Das heißt, er musste nicht nur Uniformen und Waffen beschaffen und im Stande halten, sondern vor allem für die ansehnlichen Werbegelder aufkommen, um die Kompanie vollzählig zu erhalten, sobald sie durch Todesfälle und namentlich durch die zahlreichen Desertionen gelichtet wurde.

Von dieser Last und namentlich von allem Risiko befreiten sich die militärischen „Unternehmer", indem sie nicht mehr Rekruten warben, sondern ihre gutsuntertänige Jungmannschaft einzustellen begannen, mit einer Dienstpflicht von 20 Jahren, so jedoch, dass diese Rekruten jedes Jahr nur ein paar Monate, später sogar nur einen Monat, bei der Fahne zu bleiben brauchten, die übrige Zeit aber auf den adligen Gütern schanzen konnten, zu denen sie „geboren" waren. Auf diese sinnige Weise verlor der Adel keine Arbeitskraft, machte aber durch die Ersparung von Werbegeldern einen ansehnlichen Profit an den königlichen Kassen; wer sich zur Kompanie herauf gedient hatte, war ein gemachter Mann.

Der Adel war bescheiden genug, von seinem bahnbrechenden Verdienst um den Militärstaat kein Aufheben zu machen; diese „Heeresreform" vollzog sich ganz im stillen. In die Öffentlichkeit trat sie erst durch das Kantonreglement von 1733, das sie keineswegs einführte, sondern als längst vorhanden voraussetzte und nur insoweit regelte, als es dem Adel mit dem wachsenden Appetit so ging wie dem König im Anfang seiner Regierung, indem er, über die Kreise seiner Hintersassen hinaus, alles, was er gewaltsam in seine Hände bekommen konnte, zu rekrutieren oder, wie es damals hieß, zu „enrollieren" versuchte, vor allem auch die städtische Bevölkerung. Hiergegen musste sich der König wehren, schon im Interesse der Akzise; seine Reglements beschränkten sich darauf, die gewerblichen Klassen der Bevölkerung vor der „Enrollierung" durch die adligen Offiziere zu schützen und überhaupt einige Ordnung in das wild gewachsene System zu bringen, indem er, wie in dem Reglement von 1733, den einzelnen Regimentern bestimmte Kantons zum „Enrollieren" anwies: nach dem Maßstab von 5000 Feuerstellen für jedes Infanterie- und 1800 Feuerstellen für jedes Kavallerieregiment.

Dass er sich diesem eigenmächtigen Vorgehen des Adels fügte, war begreiflich genug. Es gab keine andere Möglichkeit für ihn, das viertgrößte Heer Europas auf den Beinen zu erhalten. Auch hatte er jetzt einen reichlichen Offiziersersatz in dem zahlreichen armen Adel, der sich gern ein paar Jahrzehnte in den unteren Offiziersstellen plagte und plagen ließ, mit der Aussicht auf die Kompanie, die ihm reichlich ein Rittergut ersetzte. Freilich begann hier die Kehrseite der Sache, die andere preußische Historiker schon oft und neuerdings Herr Hans Delbrück in seiner Schrift über „Regierung und Volkswille" überzeugend auseinandergesetzt haben, nämlich dass „den Geist der Armee das Offizierskorps bestimmt, das die Mannschaft in seinem Geiste erzieht und vermöge der Disziplin in seinem Geiste regiert", also „die stärkste Gewalt ist, die wir im ganzen Deutschen Reiche haben, unzerbrechlich von innen heraus, von außen wäre sie nur zu zerbrechen durch die allerfurchtbarsten Niederlagen". Delbrück geht dabei von der Illusion aus, dass zwischen Adel und Königtum, um mit Leibniz zu sprechen, eine „prästabilierte Harmonie" besteht, von welcher Illusion der König Friedrich Wilhelm I. jedoch weit entfernt war. Er sprach es offen aus, dass ein Beamter, der ihm treu dienen wolle, den ganzen Adel wider sich haben werde.

Bis zum Jahre 1791 hat es in diesem Heere nicht weniger als 895 Generale aus 518 adligen Familien gegeben, darunter aus der Familie Kleist 14, Schwerin 11, Goltz 10, Bork und Bredow je 9, Dohna und Marwitz je 7; aus der Familie Marwitz allein haben von der Mitte des siebzehnten bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts einige hundert Offiziere gedient. Geben diese Ziffern schon einen Begriff davon, in welchem Umfang der Adel das Heer beherrschte, so ist der Beweis noch kürzer und schlagender durch die Tatsache geführt, dass die Grundlage der ganzen Heeresverfassung das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis war. Wo es nicht bestand, erwies sich die „Enrollierung" als unmöglich, so in Kleve-Mark. Daraus erklärt sich die herzhafte Abneigung, die Friedrich Wilhelm I. und fast noch mehr sein Nachfolger gegen die niederrheinischen Besitzungen der Krone empfanden, obgleich diese den ostelbischen Provinzen an Kultur und Wohlstand weit voran waren. Friedrich Wilhelm I. sagt in seinem politischen Testament, die Vasallen in Kleve-Mark seien „dume Oxen, aber Malitiös wie der Deuffel"; „die Nacion ist intrigant und falsch dabei und saufen wie die Beester, mehr wissen sie nichts", und der Philosoph von Sanssouci gibt, ebenfalls in seinem politischen Testament, der niederrheinischen Bevölkerung die denkbar schlechteste Note; von ihr sei der geringste Nutzen zu ziehen; der dortige Adel sei in der Trunkfälligkeit der Altvordern erzeugt und empfangen.

Für die Mitwelt aber war dieser neue Militärstaat ein Gegenstand halb des Grauens und halb des Spottes: des Grauens, weil seine Voraussetzung soziale Zustände waren, die man als barbarisch empfand; des Spottes, weil man keinen irgend vernünftigen Zweck einer so beispiellosen Verwüstung von Gut und Blut zu erkennen vermochte. Die auswärtige Politik des Königs hatte weder Hand noch Fuß; der einzige Erfolg, der ihm, gleich nach Beginn seiner Regierung, in den Agonien des schwedischen Karl XII. mit leichter Mühe zufiel, war der Erwerb Stettins und der Odermündungen, aber er hatte keine Ahnung davon, weshalb sein Großvater so hartnäckig und solange diesem Erwerb nachgejagt war. Im Allgemeinen war dieser König in seiner auswärtigen Politik ein Spielball der europäischen Mächte, was in der Tat nicht geeignet war, seinem Militarismus ein ernsthaftes Ansehen zu geben. Damals kam das geflügelte Wort vom „preußischen Wind" auf und das andere: Die Preußen schießen nicht.

Einige Übertreibung lief freilich bei diesem Spott mit unter. Wie die pünktliche Buchführung das Finanzwesen dieses Königs auszeichnet, so das genaue Exerzitium sein Militärwesen. Man erkennt den Fortschritt, der darin lag, in der Klage der Kaiserin Maria Theresia, es sei kein Wunder, wenn ihre Truppen überall geschlagen würden. „Ein jeder machte ein anderes Manöver, im Marsch, im Exercitio und in allem. Einer schoss geschwind, der andere langsam. Die nämlichen Wort und Befehl wurden bei einem also, bei dem anderen wiederum anders ausgedrückt." Diese Klagen anzustimmen, bekam Maria Theresia allen Grund, als die Preußen nun doch schossen.

XVI

König Friedrich (1740-1786) hat seine Bedeutung auf dem Gebiet der auswärtigen Politik, auf dem sein Vater gänzlich versagte. Er nahm entschlossen die Überlieferungen seiner Vorfahren Joachim und Friedrich Wilhelm auf, denen er auch darin glich, dass er an der Bildung seiner Zeit seinen Anteil hatte. Friedrich verbündete sich mit Frankreich, um dem Hause Habsburg dessen Provinz Schlesien zu entreißen. Es wird auch von den preußischen Historikern nicht mehr bestritten, dass die Eroberung Schlesiens dem preußischen König nur durch die Hilfe Frankreichs möglich geworden sei; am wenigsten machte der König selbst ein Hehl daraus; er war auch dankbar, indem er die Ansprüche Frankreichs auf Elsass-Lothringen und das linke Rheinufer als berechtigt anerkannte.

Nicht jedoch ging seine Dankbarkeit so weit, sich einfach als „Auxiliarmacht" behandeln zu lassen, als Frankreich seine Unterstützung beanspruchte in einem Kriege mit England, der die preußischen Interessen nichts anging. Wie er sich diesem Ansinnen zu entziehen versuchte und darüber in den Siebenjährigen Krieg geriet, habe ich erst jüngst an dieser Stelle in den „Kriegsgeschichtlichen Problemen" geschildert. Herr Hintze fasst den Siebenjährigen Krieg richtig auf, nicht als ein urwüchsiges Stück preußischer Heldengeschichte, sondern, wie er sich etwas pathetisch ausdrückt, als „den großen weltpolitischen Kampf um die See- und Handelsherrschaft zwischen der romanischen und angelsächsischen Rasse", und in diesem Kampfe wurde der preußische Staat eine englische „Auxiliarmacht", weil er keine französische „Auxiliarmacht" sein wollte. In demselben Jahre 1759, wo Friedrich durch die Schlachten bei Kay, Kunersdorf und Maxen fast völlig vernichtet wurde, durfte Horace Walpole lachend sagen: „Wir müssen jeden Morgen fragen, was für ein Sieg errungen worden ist, aus Furcht, dass uns einer entgeht." In der Fülle seiner Siege dachte England aber gar nicht an die Nöte seiner „Auxiliarmacht". Als sie ihm mit ihren Hilferufen unbequem wurde, warf er sie wie eine ausgepresste Zitrone fort, und selbst ein englischer Historiker, J. R. Green, sagt in seiner „Geschichte des englischen Volkes" von dem König Georg und dessen Ministern: „Mit schamloser Gleichgültigkeit für die Nationalehre ließen sie Friedrich nicht nur im Stich, sondern boten sich sogar an, ihm einen Frieden zu vermitteln, durch den ihm zugemutet wurde, Schlesien an Österreich und Ostpreußen an Russland abzutreten." Hat je ein Mensch triftigen Grund gehabt, über das „perfide Albion" zu klagen, so ist es der König Friedrich gewesen.

Was ihn endlich doch noch aus dem Strudel gerettet hat, der ihn fast schon verschlungen hatte, ist der Schutz des närrischen Zaren Peter und nach dessen alsbaldiger Ermordung die berechnende Schonung der Zarin Katharina gewesen, die den preußischen König als „Auxiliarmacht" brauchte, um das polnische und das türkische Wild in ihr Garn zu treiben. Der König selbst empfand die russische Vasallenschaft viel schwerer als ehedem die französische, aber abschütteln konnte er dies Erbe des Siebenjährigen Krieges nicht, das seitdem mit mehr oder minder drückender Schwere auf dem preußischen Staat und dem Deutschen Reiche gelastet hat.

Und zwar um so weniger, als der König sich nicht im Geringsten darum bemüht hat, die innere Entwicklung des Staates im Sinne westeuropäischer Kultur zu entwickeln. Er beließ es im Wesentlichen bei den Einrichtungen seines Vaters; was er daran änderte, waren zum geringeren Teile Verbesserungen, zum weitaus größeren Teile aber Verschlechterungen. So löste er die Riesengarde auf, womit die Rekrutenkasse und der Ämterverkauf fortfiel, aber wenn bisher nur das Offizierkorps dem Adel gehörte, so lieferte ihm der König nun auch die ganze Bürokratie aus, die sein Vater gerade als Gegengewicht gegen den Adel geschaffen hatte.

Unter den zwanzig Ministern, die der König im Laufe seiner Regierung ernannt hat, ist nur ein Bürgerlicher gewesen, und der hat nur ganz kurze Zeit amtiert. Zu Präsidenten und Direktoren der Kriegs- und Domänenkammern wurden nur Adlige genommen, wie denn auch die Landräte immer von Adel waren. Unzählig sind die Verordnungen des Königs zugunsten des Adels. Er verbot, Rittergüter für die Krone zu erwerben, wie es sein Vater vielfach getan hatte, denn er wolle Edelleute behalten. In Streitigkeiten mit dem Fiskus sollte den Edelleuten soviel als möglich nachgegeben werden; bei Strafe des Stranges wurde den Fiskalen und ebenso den Jägern verboten, die Edelleute zu schikanieren, ihnen alte Prozesse und Grenzstreitigkeiten aufzuwärmen. In Streitsachen zwischen Domänen und Rittergütern sollten die Behörden den Edelleuten nicht allein Gerechtigkeit widerfahren lassen, sondern „Mir lieber selber Unrecht tun. Denn was ein kleiner Verlust vor mir ist, das ist für den Edelmann ein großer Vorteil, dessen Söhne das Land defendieren und die Rasse davon so gut ist, um auf alle Art meritiert und konserviert zu werden." Am bezeichnendsten trat diese Begünstigung des Adels in der alten Streitfrage wegen des Bierbrauens und des Branntweinbrennens hervor. Seinen Domänenpächtern verbot es der König unter der zutreffenden Begründung: „Dieses soll durchaus nicht seind, denn es schneidet den Bürgern den Hals ab", aber den Rittergutsbesitzern verbriefte er es noch nachdrücklicher, als schon sein Vater getan hatte.

Mit der Auslieferung des gesamten Verwaltungsorganismus an den Adel wollte der König keineswegs seine Selbstherrlichkeit aufgeben. Im Gegenteil glaubte er sie dadurch zu befestigen, dass er das Prinzip seines Vaters, „die Nase in jeden Dreck zu stecken", in anderer Weise anwandte als dieser. Er arbeitete nicht mehr mit seinen Ministern gemeinsam, sondern sah sie überhaupt nur einmal im Jahre, griff aber über ihre Köpfe weg, je nach Laune, Willkür und Zufall, mit Hilfe einiger subalterner Schreiber, in den geregelten Geschäftsgang ein, um seine souveräne Machtvollkommenheit zu beweisen oder sich, wie er es ausdrückte, als „erster Diener des Staats" zu bewähren. Man kann diese Regierungsmethode heute an vielen Hunderten von Kabinettsordern studieren, die, von jenen subalternen Schreibern auf Befehl des Königs verfasst und von ihm oft noch mit eigenhändigen Randbemerkungen versehen, den denkbar gröbsten Ton gegen die ersten Beamten des Landes anschlagen, sie als Esel, Ignoranten und mit besonderer Vorliebe als bestechliche Subjekte titulieren, wozu dann in eigentümlichem Gegensatz die geheimen Schreiben standen, in denen der Minister des Auswärtigen v. Podewils, der Generaladjutant v. Winterfeldt oder der Großkanzler Cocceji die „Kabinettsräte", die jeden Morgen das Ohr des Königs hatten, als „liebe Herzensfreunde" umschmeichelten.

So mischte der König Friedrich den Kelch, den er dem Adel kredenzte, mit einem bitteren Tropfen Wermut, aber dem Adel schmeckte er dennoch sehr süß. Denn die tatsächliche Macht war in seiner Hand, was sich sofort ergab, wenn der König in seinen Kabinettsordern einmal eine sachlich durchgreifende Anordnung treffen wollte. Nie ist ein wirkungsloserer Schlag ins Wasser geführt worden, als da der König 1763 befahl: „Sollen absolut, und ohne das geringste Räsonniren, alle Leibeigenschaften, sowohl in Königlichen, Adligen als Stadteigentumsdörfern, von Stund an gänzlich abgeschafft werden, und alle diejenigen, so sich dagegen opponiren würden, so viel möglich mit Güte, in deren Entstehung aber mit force dahin gebracht werden, dass diese von Sr. K. M. so festgesetzte Idee zum Nutzen der ganzen Provinz Pommern ins Werk gesetzt werde." Es lag nicht in der Macht des Königs, die Herrschaft des Adels über die bäuerliche Klasse zu brechen, wenn er sich auch im Interesse seiner Rekruten und seiner Steuern darum bemühte. Nur so viel erreichte er, dass der Adel, der nunmehr auch ein dringendes Klasseninteresse an der Erhaltung des Heeres hatte, auf das Bauernlegen verzichtete, wie es gleichzeitig in Mecklenburg und Schwedisch-Pommern das Land verwüstete.

Solange sich der König auf despotische Eingriffe in den Gang der Finanz- und Militärverwaltung beschränkte, die sein Vater eingerichtet hatte, hielt der Organismus noch einigermaßen zusammen. Anders jedoch, als der König nach den Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges, dessen zerrüttende Qualen seine geistige Kraft ohnehin gebrochen hatten, auf eigene Faust zu „reformieren" begann. Er hat das Werk seines Vaters tatsächlich ruiniert, so dass schon im Bayerischen Erbfolgekrieg von 1778 das Heer völlig versagte. Beim Tode des Königs war der altpreußische Staat bereits völlig reif für den Untergang, der ihn zwanzig Jahre später bei Jena ereilte.

Nach der Legende, und namentlich nach der liberalen Legende, ist der Verfall freilich erst unter dem Nachfolger des Königs eingetreten. Man muss mit dieser Legende, die Herr Hintze erst schüchtern antastet, etwas gründlicher aufräumen, da sie den roten Faden der preußischen Geschichte völlig verdunkelt, so anerkennenswert die Pietät der liberalen Enkel sein mag, den Einzug ihrer Ahnen in dies Gemeinwesen zu verschönern.

XVII

König Friedrich Wilhelm II. (1786-1797) war ein schwacher und unbedeutender Regent, von dem nicht viel mehr zu sagen ist, als dass es im Wesentlichen beim Alten blieb. Seine Mätressenwirtschaft ist sehr übertrieben worden, namentlich soweit es auf die Gräfin Lichtenau ankam, die bürgerlichen Ursprungs war; in die Politik hat diese nicht einmal sehr kostspielige Wirtschaft kaum übergegriffen, wie sich denn die Hohenzollern vom politischen Mätressentreiben überhaupt, namentlich im Vergleich mit anderen Fürstengeschlechtern, auffallend frei gehalten haben.

Das Unglück des Staates soll der neue König nun aber doch verschuldet haben, indem er die Aufklärung ausrottete, die unter seinem Vorgänger die dumpfen Köpfe zu erleuchten begonnen habe. Und das sei um so unentschuldbarer gewesen, als er sich dabei von einem Manne habe betören lassen, den der Adlerblick des großen Friedrich bereits als einen „betrügerischen und intriganten Pfaffen" erkannt habe. Durch Wöllners Religions- und Zensuredikt sei die „geistige Freiheit" vernichtet worden, und ohne sie sei der „Staat der Intelligenz" ins Verderben getaumelt.

Die Sache stimmt nun schon insofern nicht, als das Zensuredikt ganz und gar, das Religionsedikt aber zur Hälfte nichts als friderizianisches Erbe waren. Das Zensuredikt erneuerte einfach – sogar nur in gemilderter Form – die Zensuredikte des Königs Friedrich, und das Religionsedikt machte das geflügelte Wort dieses Königs, wonach im preußischen Staate jeder nach seiner Fasson selig werden dürfe, in seinem ersten Teil zu einem staatsrechtlichen Grundsatz, was es bisher nicht gewesen war. In seinem zweiten Teile mordete es allerdings die, wenn anders Lessing recht hatte, „einzige Freiheit", die unter dem vorigen König bestanden hatte, nämlich die Freiheit, gegen die Religion so viele Sottisen zu Markte zu bringen, als man wolle; bei Strafe der Kassation wurde den Geistlichen verboten, die Bekenntnisschriften zu verspotten, auf die sie durch ihren Amtseid verpflichtet waren; sie sollten sich diese Bekenntnisschriften in ihrer öffentlichen Wirksamkeit vielmehr zur Richtschnur nehmen. Was Lessing und Kant durch moralische Mittel erreichen wollten, indem jener sagte, der „einzigen Freiheit", über die Religion zu spotten, müsse sich der rechtliche Mann bald schämen, und dieser: Wenn das Gewissen eines Geistlichen mit seinem Amte kollidiere, so gebiete ihm der kategorische Imperativ, auf sein Amt zu verzichten, das suchte Wöllner durch Stockschläge auf den Magen zu erzwingen.

Die Aufklärung, wie sie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland und namentlich in Berlin um sich griff, war kein bodenständiges Gewächs, denn eine bürgerliche Klasse mit irgendwelchem Selbstbewusstsein gab es nicht, wenigstens nicht im preußischen Staate. Sie war eine Reflexerscheinung ausländischer Klassenkämpfe, keine geistige Waffe, sondern ein geistiges Spielzeug, ein lärmender Spatz gegen den lieben Gott, aber ein stummer Hund gegen „Despotismus und Unterdrückung", wie Lessing den Gegensatz markiert. Immerhin gab es auch in Preußen einzelne Aufklärer, die sich nicht am „seichten Aufkläricht" genügen ließen, und einer von diesen war der Wöllner des Religionsedikts.

Er mag ein mehr oder minder schlechter Kerl gewesen sein, und es soll hier keineswegs seine persönliche Apologie geschrieben, sondern nur der historische Ort bestimmt werden, wo der Mann steht. Ursprünglich evangelischer Theologe, war Wöllner doch von aller pfäffischen Beschränktheit frei und hat sich nach Kräften bemüht, die preußischen Juden aus der niederdrückenden Knechtschaft zu befreien, zu der sie durch den König Friedrich verurteilt worden waren. Der Fall Wöllners steht beiläufig darin einzig da, dass ein um die Judenemanzipation verdienter Mann von der heutigen liberalen Presse nicht als Engel des Lichts gefeiert, sondern als Ausgeburt der Hölle verflucht wird.

Als Hauslehrer war Wöllner in die adlige Familie der Itzenplitze geraten, deren einzige Tochter er als Dorfpfarrer geheiratet hatte. Über diese „Missheirat" war der philosophische König in höchsten Zorn geraten; er ließ den jungen Ehemann in die Hausvogtei stecken und die junge Ehefrau unter Vormundschaft stellen. Da sich beide aber nicht brechen ließen, so musste sich der König begnügen, die Ehe mit einem Schimpfwort über den „betrügerischen und intriganten Pfaffen" zu segnen.

Dass Wöllner danach seine Bewunderung für den alten Fritz wesentlich einschränkte, war ihm am Ende nicht so sehr zu verdenken, doch ist es nicht wahr, dass er aus persönlicher Ranküne gegen den König plötzlich umgelernt habe. Durch seine Heirat war er veranlasst worden, den geistlichen Beruf aufzugeben und sich der Landwirtschaft zuzuwenden; er wurde ein sehr tüchtiger Ökonom und behandelte in Nicolais „Allgemeiner Deutscher Bibliothek", dem Hauptorgan der damaligen Aufklärung, fünfzehn Jahre lang volkswirtschaftliche Fragen in einer für die damalige Zeit sehr aufgeklärten Weise. Diesen Anschauungen ist Wöllner auch keineswegs untreu geworden, als er durch den geheimen Orden der Rosenkreuzer in vertraute Beziehungen zu dem Thronfolger geriet, den er geistig bald beherrschte.

Gewiss „hetzte" er gegen den alten König bei dem Prinzen, aber wenn er diesem in seinen Vorträgen empfahl, den launenhaften Despotismus der Kabinettsregierung aufzugeben und wieder an den geregelten Geschäftsgang Friedrich Wilhelms I. anzuknüpfen, wenn er dem Thronfolger die Ausrottung der Erbuntertänigkeit bis auf die letzte Spur, die Beseitigung der adligen Steuerfreiheit, die Einführung einer progressiven Einkommensteuer, den Verzicht auf die ausländische Werbung, die Emanzipation der Juden usw. anriet, so ist Wöllner geradezu ein Vorläufer der Scharnhorst, Stein und Hardenberg gewesen. In alledem stand er turmhoch über dem „seichten Aufkläricht", den er mit dem Polizeiknüppel verfolgte, um den frömmelnden und mystischen Vorstellungen zu schmeicheln, die sich, wie so oft beobachtet werden kann, in dem neuen König mit zügelloser Sinnlichkeit verbanden.

Wöllner war auch darin ein echter Sohn der Aufklärung, dass er meinte, um notwendige Reformen durchzuführen, müsse man die Fürsten geistig beherrschen und zum Guten anleiten. Der Aufklärung heiligte dabei, ähnlich wie dem Jesuitenorden, mit dem sie überhaupt Geschwisterkind war, der Zweck die Mittel, und sie scheute nicht – siehe den Marquis Posa – vor Intrigen zurück, um ihren Zweck zu erreichen. Allerdings konnte Wöllner sich sagen, dass selbst die geringste der von ihm geplanten Reformen mehr wert war als die Freiheit, von Kanzeln der christlichen Kirchen herab Sottisen gegen die christliche Religion zu schleudern, und die Art, wie selbst ein Kant vor seinem drohend erhobenen Polizeistock zurückwich, konnte Wöllners geringe Achtung vor dieser „janzen Richtung" nicht erhöhen. Aber bei alledem verfolgte er seine wirklich gefährlichen Gegner, wie den Minister Zedlitz und den Großkanzler Carmer, mit einer Gehässigkeit, die sicherlich nicht gerechtfertigt oder auch nur entschuldigt werden kann. Er hat beide – und andere dazu – um die Ecke gebracht, und sie erscheinen deshalb in der liberalen Legende als unschuldige Märtyrer, was sie nun aber doch auch nicht waren. Zedlitz begünstigte als Minister des geistlichen Departements den „seichten Aufkläricht" mit einer ungeschminkten Parteilichkeit, die vollkommen die Prophezeiung Lessings erfüllte, dass diese Sorte Aufklärung, wenn sie einmal zur Herrschaft gelangen sollte, unduldsamer sein würde als die Orthodoxie, und war im übrigen ein beschränkter Vorkämpfer der Adelsherrschaft; in einer besonderen Schrift verlangte er, dass alle hervorragenden Ämter in der Militär- und Zivilverwaltung dem Adel vorbehalten werden müssten. Carmer aber hat als Leiter der Justizverwaltung das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis in ganzer Herrlichkeit in das Allgemeine Landrecht aufgenommen und es auch formell zur gesetzlichen Grundlage des Staates gemacht, was es tatsächlich freilich schon seit dem Jahre 1653 gewesen war. Die Tendenzen, die diese Männer vertraten und die Wöllner bekämpfte, haben den Staat nach Jena geführt und nicht das Religions- oder das Zensuredikt, von denen das erste schon lange vor Jena beseitigt wurde, das zweite aber nicht nur Jena, sondern selbst Waterloo überdauert hat und erst am 18. März 1848 abgewürgt worden ist.

Inzwischen hatte Wöllner seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Indem er den frömmelnden und mystischen Neigungen des Königs schmeichelte, wurde er insoweit zum mächtigen Manne, machte aber auch hier schon die Erfahrung, dass man mit dem Feuer nicht spielen kann, ohne sich die Finger zu verbrennen. Was für ihn Mittel war, das war für den König Zweck. Der König trieb die Verfolgung der Aufklärer weit über die Grenzen, die Wöllner sich gesteckt hatte, so dass dieser zuletzt, wie auch Herr Hintze anerkennt, schon auf diesem Gebiet mehr der Getriebene als der Treibende war. Ganz und gar nicht gelang es ihm aber, den König auf die Bahn der Reformen zu treiben, die er tatsächlich plante. Denn um sie durchzuführen, wäre ein Kampf auf Leben und Tod mit dem Adel aufzunehmen gewesen, und dem König fehlten alle intellektuellen und moralischen Eigenschaften, um diesen Kampf auch nur einzuleiten, geschweige denn siegreich durchzuführen.

So ist Wöllner von der Nemesis ereilt worden, und niemand wird versucht sein, seinem Schicksal eine Träne nachzuweinen. Jedoch wenn die liberale Legende aus diesem Schicksal nur die Lehre entnimmt, dass „seichter Aufkläricht" das Prinzip ist, mit dem die Staaten stehen und fallen, so vermag man sich diese Auffassung wohl aus einem Gefühl intimster Seelenverwandtschaft zu erklären, aber sie hat wirklich nichts mit dem inneren Zusammenhang des historischen Problems zu schaffen, das sich an Wöllners Namen knüpft.

In allem Wesentlichen blieb es, wie gesagt, unter Friedrich Wilhelm II., wie es unter seinem Vorgänger gewesen war. In den inneren Zuständen nahm der Verfall von Jahr zu Jahr zu, und die auswärtige Politik wurde durch das verhängnisvolle Erbe gelähmt, das der König Friedrich in seiner russischen Vasallenschaft hinterlassen hatte. Mit diabolischer Geschicklichkeit hetzte die Zarin Katharina im Interesse ihrer polnischen Raubpläne den König in den abenteuerlichen Krieg mit der Französischen Revolution, aus dem der preußische Staat schon nach wenigen Feldzügen als völlige Ruine hervorging: In dem demütigenden Frieden von Basel erkaufte er sich 1795 dadurch noch eine kurze Galgenfrist, dass er das linke Rheinufer den Franzosen opferte.

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