XVIII-XXI

XVIII

Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) hatte eine trostlose Erbschaft überkommen, und er war am wenigsten der Mann, den verfahrenen Karren wieder halbwegs ins Geleise zu bringen.

So schmählich der Frieden von Basel war, so sicherte er dem Staate immerhin eine Reihe von Jahren, in denen er sich nach dem berufenen Schlagwort durch „friedliche und gesetzliche Reformen" hätte erholen können. Es sind denn auch mancherlei Versuche unternommen worden, dies Jahrzehnt als eine Periode solcher Reformen darzustellen, die zum gedeihlichsten Ende hätten führen müssen, wenn nicht die Schlacht von Jena, sozusagen als ein Unglücksfall von außen her, dazwischen gekommen wäre. Indessen ist diese Auffassung schon vor mehreren Jahrzehnten durch einen preußischen Historiker mit dem treffenden Satz erledigt worden, dass sie alles historische Verständnis glatt abschneide.

Der altpreußische Staat konnte sich so wenig selbst helfen, als sich Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen konnte. Eine bürgerliche Klasse, die diesen Namen irgend in historischem Sinne verdiente, gab es nicht, und die bäuerliche Bevölkerung lebte in völligem Stumpfsinn dahin, es sei denn, dass sie hier und da in ziellose Unruhen ausbrach. Der Adel aber hielt zähe an seinen Vorrechten fest und dachte nicht daran, sie aus freien Stücken zu opfern, so wenig, wie je eine herrschende Klasse daran gedacht hat, und die Monarchie konnte sie ihm nicht entreißen.

Ebendeshalb mussten alle Reformversuche scheitern. Richtig ist nur, dass es an solchen Reformversuchen in dem Jahrzehnt vor Jena nicht gefehlt hat. Die Schäden dieses Gemeinwesens sprangen, namentlich in dem Licht, das der Widerschein der Französischen Revolution auf sie warf, so klar hervor, dass sie in nicht völlig verblendeten Köpfen ein unheimliches Gefühl der Unsicherheit hervorrufen mussten. Selbst in der nächsten Umgebung des Königs fehlte es an solchen Köpfen nicht. Seine Kabinettsräte waren zum Teil fähige und in ihrer Art liberale Männer, wie Mencken, der Großvater Bismarcks von mütterlicher Seite, und dann namentlich Beyme; auch im Heere gab es jüngere Offiziere, die wohl ahnten, dass es unaufhaltsam in den Abgrund gehe, und die hier oder da zu bessern gedachten. Aber über allerlei hilfloses Flick- und Stückwerk kam man nirgends hinaus.

Das Haupthindernis jeder Reform blieb das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis, das der Adel nach wie vor als Landesverfassung betrachtete, von der er sich auch nicht ein Tüttelchen abdingen ließ. Die einsichtigeren Elemente der Bürokratie mussten sich daran genügen lassen, die Ketten der Bauern auf den Domänen, wenn auch keineswegs völlig zu lösen, so doch einigermaßen zu lüften, was mit Recht als die verhältnismäßig bedeutsamste der vorjenaischen Reformen gerühmt worden ist. Indessen hatte es auch mit der Emanzipation der Bauern, so wie sie von denjenigen Reformern geplant wurde, die in ihr die entscheidende Tatsache sahen, eine eigene Bewandtnis.

Sie wurden dabei keineswegs von dem praktischen Vorbild der Französischen Revolution bestimmt, deren flammende Schlagworte sie nicht einmal in ihrem historischen Sinn verstanden, sondern im Sinne der verkrüppelten Welt, in der sie lebten. Dadurch kamen sie, wie von gegnerischer Seite nicht mit Unrecht gesagt worden, zu „halb verrückten" Phantasien. So die „Beiträge zum republikanischen Gesetzbuch", die 1798 in der Form von Anmerkungen zum Allgemeinen Landrecht anonym in Königsberg erschienen. Um einen Begriff von dem kunterbunten Inhalt dieser Schrift zu geben, sei erwähnt, dass sie, da das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern von der Stiftung des Staates unabhängig sei, die Ehe zwischen Vater und Tochter oder Mutter und Sohn gestatten, aber die Pressfreiheit nur insoweit zulassen wollten, als sie darauf verzichte, Leidenschaften zu erwecken. Verfasser dieser Schrift war keineswegs der erste beste, vielmehr einer der namhaftesten Justizbeamten Preußens, ein gewisser Morgenbesser, der noch von 1819 bis 1834 als Chefpräsident des Königsberger Oberlandesgerichts, bis auf den heutigen Tag der einzige Bürgerliche in diesem hohen Amt, tätig gewesen ist.

Um so tiefer wirkten auf die Reformer der preußischen Bürokratie die Lehren Adam Smiths ein, was natürlich keinen ideologischen, sondern einen ökonomischen Zusammenhang hatte. Der Kornhandel nach Schweden, Holland und England war die ergiebigste Quelle des Wohlstandes für die preußischen Provinzen; ihre Korn ausführenden Junker schwärmten für Handelsfreiheit; so fand Adam Smith unter den Wortführern dieser Klasse dankbare Schüler. „Ich weihte diesen Morgen der Lektüre des göttlichen Smith und habe es mir zum Gesetz gemacht, alle Morgen mein Tagewerk mit dem Lesen eines Kapitels im Smith zu beginnen", schrieb einer von ihnen in sein Tagebuch.

Und man muss gestehen: Sie verstanden ihren „göttlichen Smith", viel besser sogar als die liberalen Wortführer, die später mit Smith prahlten und die Auflösung der feudalen Produktionsweise ausschließlich darstellten als Emanzipation des Arbeiters und nicht zugleich auch als Umwandlung der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise. Diese Produktionsweise bedarf der freien Arbeiter, aber „der freien Arbeiter in dem Doppelsinn, dass weder sie selbst zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind". Diesen „Doppelsinn" der neuen Lehre, die der „göttliche Smith" verkündete, war den vorjenaischen Reformern vollkommen klar, und in dem naiven Stolz auf ihre frische Erkenntnis machten sie aus ihrem Herzen auch keine Mördergrube.

Indem sie die persönliche Freiheit der Bauern befürworteten, forderten sie zugleich die Proletarisierung der bäuerlichen Klasse.

XIX

Die zerschmetternde Niederlage von Jena führte auch noch nicht zu einer Wiedergeburt des preußischen Staates aus sich selbst heraus. Die Periode der nunmehrigen Reformen stand durchaus unter dem Zeichen der französischen Fremdherrschaft. Ihr erster Teil, der sich an den Namen Steins knüpft, erhielt seinen Anstoß aus dem Großherzogtum Warschau, das Napoleon aus den ehemals polnischen Landesteilen des preußischen Staates gebildet hatte; der zweite Teil, der sich an den Namen Hardenbergs knüpft, war beherrscht von der Gesetzgebung des Napoleonischen Königreichs Westfalen, das in seinem Kern aus den ehemals westelbischen Provinzen des preußischen Staates entstanden war.

In der Begründung des vielgerühmten Edikts vom 9. Oktober 1807, das den Bauern die persönliche Freiheit gewährte, ist es mit aller Offenheit ausgesprochen, dass diese Maßregel durch die Aufhebung der Hörigkeit und Leibeigenschaft im Großherzogtum Warschau zur „dringenden Notwendigkeit" geworden sei. Man konnte nicht einmal so lange damit warten, bis der Freiherr vom Stein, den Napoleon selbst dem König zum leitenden Minister vorgeschlagen hatte, nach Königsberg gekommen war, wo damals der Hof residierte. Stein kam gerade noch zur rechten Zeit, um den verhängnisvollen Schlag, den das Oktoberedikt gegen die bäuerliche Klasse führte, einigermaßen abzuschwächen.

Denn die preußischen Reformer, deren namhaftester Vertreter Schön war, wollten mit ihrem „göttlichen Smith" völligen Ernst machen und, unter Beseitigung des Schutzes, den die friderizianische Gesetzgebung nicht dem Bauern, aber dem Bauernacker gewährt hatte, den Rittergutsbesitzern die Einziehung aller nichterblichen Bauernhöfe – und deren war die große Überzahl – unter der Verpflichtung gestatten, an Stelle des vertriebenen Bauern einen Tagelöhner anzusetzen. Dem widersetzte sich Stein und erließ eine Ausführungsverordnung des Edikts, wonach die Einziehung des Bauern- zum Ritteracker nur gestattet sein sollte, wenn gleichzeitig eine ebenso große Fläche Bauernlandes in große erbliche und freie Bauernhöfe umgewandelt würde. Trotz dieser Einschränkung wären die meisten Bauern zu Tagelöhnern herabgedrückt worden, wenn nicht die Not der Zeit die Rittergutsbesitzer gehindert hätte, aus Mangel an Betriebsmitteln ihre Güter zu vergrößern. Es ist aber gar nicht übertrieben zu sagen, dass die „Habeas-Corpus-Akte" des preußischen Staates, wie Schön das Oktoberedikt lobpreisend nannte, die Masse der Bevölkerung in eine üblere Lage versetzte, als in der sie je gewesen war.

In Schöns Augen war Stein ein Reaktionär, und so viel ist gewiss, dass Stein von den Herrlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise noch keinen rechten Begriff hatte. Er war wesentlich noch in ständischen Anschauungen befangen und wollte dem Adel durchaus nicht an den Kragen, aber als Reichsfreiherr betrachtete er das ostelbische Junkertum nur mit sehr gemäßigter Hochachtung, und er wollte dessen lastendes Übergewicht über eine kraftlose Bürger- und eine verelendete Bauernklasse allerdings beseitigen. In der Herstellung eines kräftigen Bürger- und Bauernstandes sah er die Rettung des Staates, und er begann damit, die Axt an die obrigkeitlichen Rechte des Junkertums zu legen, zunächst an die Patrimonialgerichtsbarkeit. Allein noch ehe er damit zu Rande kam, stürzten ihn die Junker mit nichts weniger als wählerischen Mitteln, und Stein musste nach kaum einjähriger Wirksamkeit vom Platze weichen. Es war ihm jedoch noch vergönnt, im Augenblick seines Scheidens eine neue Städteordnung zu erlassen.

Sie war die freisinnigste aller nachjenaischen Reformen; einzelne ihrer Bestimmungen sind wörtlich der Gemeindegesetzgebung der Französischen Revolution entnommen worden. Das war weniger das Verdienst Steins, der die Französische Revolution hasste, als des Polizeidirektors Frey, der sein Haupthelfer bei der Städteordnung war. Allerdings war auch in ihr noch lange nicht ganze Arbeit gemacht worden, und ein tüchtiger Schuss aus dem trüben Wasser des Allgemeinen Landrechts verdünnte den fremden Wein. Aber im Grunde waren es mehr die Vorzüge als die Schwächen der Städteordnung, die ihr verhängnisvoll wurden. Die preußischen Städte hatten ein eigentümliches Pech: Nachdem sie durch mehrere Jahrhunderte völlig unterdrückt und in der mannigfachsten Weise von einer gesunden Entwicklung abgedrängt worden waren, wurden sie jetzt mit Rechten gesegnet, mit denen ihre verarmte, verdummte, zünftlerisch verhutzelte Bürgerschaft nichts anzufangen wusste. Und als sie sich in die neue Ordnung der Dinge einzuleben anfing, begann auch die Rückwärtsrevidierung der Städteordnung, bis sie zu dem verkümmerten Abbild wurde, das die heutige Städteordnung im Vergleich mit der Städteordnung von 1808 darstellt.

Nach dem Sturze Steins stockte die preußische Reform, und sie kam erst im Frühjahr 1810 wieder in Fluss, unter dem finanziellen und moralischen Drucke der Fremdherrschaft. Die nunmehrigen Reformgesetze, die Hardenberg als leitender Minister ausgehen ließ, waren nichts anderes als eine verschlechterte Kopie der napoleonisch-westfälischen Gesetzgebung, die ihrerseits eine verschlechterte Kopie der französischen Revolutionsgesetzgebung war. Das ist stets von dem preußischen Adel behauptet worden, namentlich auch von Bismarck; inzwischen ist die Tatsache durch eingehende Forschungen deutscher und französischer Historiker so festgestellt worden, dass ihre Richtigkeit nicht mehr bestritten werden kann.

Gleich Hardenbergs erstes Finanzgesetz, das eine sklavische Wiederholung westfälischer Steuergesetze war, versprach „der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation sowohl in den Provinzen als auch für das Ganze". Im Jahre 1811 wurde zunächst eine Notabelnversammlung einberufen, deren Mitglieder vom König ernannt waren; vom 10. April 1812 bis zum 15. April 1815 hat dann aber, mit starken Unterbrechungen, die erste preußische Volksvertretung getagt, „interimistische Landesrepräsentation" genannt. Sie bestand aus 18 Rittergutsbesitzern, 9 bäuerlichen Grundbesitzern von mindestens einer Hufe und 9 grundbesitzenden Vertretern, darunter je einem von Berlin, Breslau und Königsberg. Sie hatte, wie die Notabelnversammlung, nur beratende Stimme, aber beide Körperschaften haben tiefe Spuren in der preußischen Geschichte hinterlassen.

Hardenberg hatte aus dem Schicksal Steins gelernt; er hat die adligen Vorrechte der Rittergüter gar nicht angetastet, weder die Patrimonialgerichtsbarkeit noch die gutsherrliche Polizei, noch das Kirchen- und Schulpatronat, noch das Jagdrecht, noch die Steuerfreiheit usw. Nur die Besitzverhältnisse der Bauern konnte er nicht in der Schwebe lassen, in die sie durch das Oktoberedikt geraten waren, denn die Bauern bildeten den Kern des neuen Heeres, das den Kampf gegen die Fremdherrschaft führen sollte. Sein Rat Scharnweber machte den einfachen Vorschlag, alle Bauern mit unsicherem Besitzrecht, ob sie nun erblich oder lebenslänglich oder nur zeitweise auf ihren Hufen saßen, über einen Kamm zu scheren und allen sofort Eigentum zu verleihen, dann aber die Rechte und Pflichten zwischen Bauern und Gutsherren gegeneinander aufzurechnen, wobei die Möglichkeit bestand, dass die Bauern etwas herausbekamen und nicht die Gutsbesitzer.

Das wagte aber schon Hardenberg nicht dem Adel zu bieten. Er verlangte, dass mindestens die Zeitpachtbauern die Hälfte ihres Ackers an den Gutsherrn abtreten sollten, um den Rest dienstfrei zu erhalten. Damit war aber die Notabelnversammlung von 1811, die den Gutswert begutachten sollte, noch lange nicht zufrieden; sie verlangte, dass die lebenslänglichen Besitzer mit den Zeitbauern auf dieselbe Stufe gestellt und die erblichen Besitzer mindestens den dritten Teil ihres Ackers opfern sollten. Dieser „beratenden" Stimme gab Hardenberg sofort nach, und in dieser Form wurde das sogenannte Regulierungsedikt vom 14. September 1811 erlassen.

Aber es kam nicht einmal zur wirklichen Ausführung, sondern die „interimistische Landesrepräsentation", die 1812 zusammentrat, nahm es noch einmal in die Mache und verhunzte es, während die Bauern den Feind aus dem Lande schlugen, zu der berüchtigten „Deklaration", die nach erfochtenem Siege, am 26. Mai 1816, veröffentlicht wurde. Sie beschränkte die „Regulierbarkeit" auf eine Minderzahl wohlhabender Bauern, schloss die große Masse der Bauern aber sowohl von der Befestigung ihres Eigentums als auch von der Ablösung der feudalen Lasten aus und überlieferte sie, unter ausdrücklicher Beseitigung des friderizianischen Bauernschutzes, der unbeschränkten Willkür der Gutsherren.

Ein biederer Landpfarrer aus Niederschlesien schreibt über diese Reform in dem eben erschienenen Märzheft der „Preußischen Jahrbücher": „Die ganze Landgesetzgebung Preußens aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts – soweit sie in Fortführung des Oktoberedikts im Jahre 1807 die Regulierung und Ablösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses betrifft – vollzog sich nach dem Grundsatz: Wer hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer nicht hat, dem wird genommen, was er hat. Gefestigt worden ist nämlich durch diese Gesetzgebung erstens der größere, in gutem Besitzrecht befindliche bäuerliche Besitz und vor allem zweitens der Großgrundbesitz. Der ganze kleine bäuerliche Besitz dagegen ist durch die Regulierungsgesetze in seiner Existenz bedroht und je länger desto mehr wirtschaftlich heruntergedrückt und proletarisiert worden." Der biblische Vergleich trifft den Nagel auf den Kopf; nur dass auch dem „größeren bäuerlichen" Besitz genommen wurde, was er hatte, denn um sein Eigentum zu „befestigen", musste er die Hälfte oder mindestens den dritten Teil des Landes opfern, auf dem seine Vorfahren als freie Leute gesessen hatten.

Ein günstigeres Urteil als die agrarische verdient die militärische Reform, die nach Jena eingeleitet und durchgeführt wurde. Zwar ist es ein leeres Schlagwort, wenn ihr nachgerühmt wurde, dass sie ein „Volk in Waffen" geschaffen habe; sie hielt vielmehr an allen wesentlichen Eigentümlichkeiten der stehenden Heere und namentlich an deren entnervender Disziplin fest, ebenso an dem aristokratischen Charakter des Offizierkorps, unter mehr formeller als tatsächlicher Einschränkung des adligen Monopols. Aber technisch eiferten Scharnhorst und seine Gehilfen dem französischen Muster mit großem Erfolg nach und übertrafen es sogar in einem entscheidenden Punkt; nach jahrelangen Mühen gelang es ihnen, im Augenblick der höchsten Not die allgemeine Wehrpflicht durchzusetzen.

Der Gipfel der nachjenaischen Reformen war dann die Verordnung vom 22. Mai 1815 über die zu bildende Repräsentation des Volkes. Sie ist niemals im profanen Leben verwirklicht worden, aber dafür hat sie im Luftreich der liberalen Träume eine desto glänzendere Existenz geführt.

Tatsächlich war sie weiter nichts als eine Wiederholung des Versprechens, das Hardenberg schon in seinem ersten Finanzgesetz gegeben hatte, um den finanziell und moralisch aufs tiefste erschütterten Kredit des Staates zu stärken, ein Schritt weiter auf dem Wege, der schon mit der Notabelnversammlung von 1811 und der „interimistischen Landesrepräsentation" von 1812 bis 1815 beschritten worden war.

In der Verordnung vom 22. Mai 1815 war einfach festgesetzt, dass die alten Stände, wo sie in den preußischen Provinzen noch vegetierten, wiederhergestellt oder, wo sie nicht mehr oder noch nicht existierten, neu eingerichtet werden sollten. Aus der Mitte dieser Provinzialstände sollte dann die Landesrepräsentation gewählt werden, mit beratender Stimme über alle Gegenstände der Gesetzgebung, einschließlich der Besteuerung, und mit dem Sitz in Berlin. So dürr und trocken lautet dieses „Königswort", dessen angeblicher „Bruch" den preußischen Staat bis in die Grundfesten erschüttert haben soll.

XX

Das endgültige Ergebnis des siegreichen Kampfes gegen die französische Fremdherrschaft war für den preußischen Staat die Wiederherstellung der Adelsherrschaft auf breiterer und festerer Grundlage.

Alle obrigkeitlichen Rechte waren den Gutsherrschaften erhalten geblieben. Durch die Abtretungen an Land, womit die größeren Bauern ihr Eigentumsrecht hatten erkaufen müssen, waren die Gutsflächen bedeutend erweitert worden, und für ihren landwirtschaftlichen Betrieb war in den kleinen Bauern ein Proletariat gewonnen worden, dessen Arbeitskraft bis auf den letzten Tropfen ausgenutzt werden konnte. Dazu kam dann noch das Ablösungsgesetz von 1821, durch das den Bauern mit gutem Besitzrecht gestattet wurde, sich mit einmaliger Kapitalzahlung oder jährlichen Renten von den feudalen Abgaben und Lasten zu befreien. Der Gesamtgewinn des Adels belief sich an Land auf mehr als anderthalb Millionen Morgen und an Geld auf mehr als achtzehn Millionen Taler, dazu an jährlichen Renten auf mehr als anderthalb Millionen Taler und mehr als eine Viertelmillion Scheffel Getreide.

Irgendein Gegengewicht gegen diese Übermacht des Adels boten die Städte nach wie vor nicht; sie hatten genug damit zu tun, notdürftig die Wunden zu heilen, die ihnen die zehnjährige Kriegsperiode geschlagen hatte. Etwas anders stand es mit den „geistigen Ständen", wie man sich damals auszudrücken pflegte. Namentlich die Studenten, die mit den Idealen unserer klassischen Literatur genährt in den Krieg gezogen und mit der siegreichen Waffe in der Faust heimgekehrt waren, konnten sich nicht darein finden, dass nunmehr das alte Elend in neuer Form beginnen sollte. In einem Geschlecht von Ideologen, Schulmeistern, Studenten, Tugendbündlern verkörperte sich die erste Form des politischen Liberalismus im preußischen Staat. Es waren sicherlich treffliche Kräfte darunter, beseelt vom besten Willen, und als Märtyrer ihrer Überzeugung des Nachruhms würdig, aber wenn man diese ganze Bewegung in der Zeit von 1815 bis 1840 und noch später überblickt, so zeigt sich doch nur, wie kläglich ohnmächtig eine politische Bewegung ist, die keine kampffähige Klasse hinter sich hat.

Dieser Liberalismus verlangte die Teilnahme des „Volkes" an der Regierung, aber seine Mittel passten zum Zweck wie die Faust aufs Auge. Er verherrlichte überschwänglich die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung als das edlere und würdigere Gegenbild der Französischen Revolution, das heißt, er verherrlichte die Wiederherstellung der Adelsherrschaft. Und er forderte ungestüm die Einlösung des Verfassungsversprechens von 1815, das heißt, er forderte die Krönung dieser Adelsherrschaft durch einen letzten Schmuck.

Denn es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass die Ausführung der Verordnung vom 22. Mai 1815, so wie sie gemeint war, dem Adel und nur dem Adel eine Handhabe der Herrschaft geliefert haben würde. Dafür bürgte genugsam die Geschichte der alten Stände, deren Wiederherstellung oder Neuschaffung nach dem königlichen Versprechen die Grundlage der preußischen Verfassung werden sollte; dafür bürgte die „interimistische Landesrepräsentation" von 1812 bis 1815, die die agrarische Reform in schmählichster Weise verhunzt hatte. Hätte sie ihre Fortsetzung in der verheißenen „Repräsentation des Volkes" gefunden, so wäre es der städtischen Reform ebenso an den Kragen gegangen wie der agrarischen, namentlich aber auch der militärischen Reform, denn der allgemeinen Wehrpflicht widersetzten sich die Städte ebenso sehr, ja sogar noch mehr als der Adel.

Das Verfassungsversprechen ist denn auch keineswegs leichtfertig in den Tag hinein gegeben worden, sondern Hardenberg hat lange Jahre und bis an seinen Tod daran gearbeitet, es auszuführen. Woran seine Durchführung gescheitert ist, war die Unmöglichkeit, es in dem Sinne, worin es gemeint war, in die Wirklichkeit zu versetzen; die alten Stände ließen sich nicht wiederherstellen, zumal bei dem unabsehbaren Wirrwarr der rechtlichen Zustände in den neuen Landesteilen, die der Wiener Kongress1 dem preußischen Staat hinzugefügt hatte. Nach achtjährigen Mühen brachte man endlich die verheißenen Provinzialstände fertig, auf der Grundlage des Großgrundbesitzes, aber sie waren so künstlich fabriziert, dass sie nicht einen Schritt vorwärtstun konnten. Aus ihnen dann „eine Repräsentation des Volkes" zu destillieren, scheiterte mindestens ebenso sehr an dem partikularistischen Geiste des provinzialen Adels wie an der Scheu der Monarchie und Bürokratie vor einer allgemeinen Landesvertretung.

Von diesen historischen Zusammenhängen hatte der Liberalismus der „geistigen Stände" nicht die entfernteste Ahnung, wie sich noch an seiner klassischen Urkunde, den „Vier Fragen" Johann Jacobys, mit aller Gründlichkeit studieren lässt. Jacoby wollte eine Verfassung im modern-konstitutionellen Sinne des Wortes, „gesetzliche Teilnahme aller selbständigen Bürger an der Gesetzgebung des Staates", aber als deren Vorläufer verherrlichte er die Stein-Hardenbergische Gesetzgebung; er meinte: „Die Regierung kann, was sie Freisinniges geweckt, unterdrücken, aber nicht töten", und sogar der „interimistischen Volksrepräsentation" Hardenbergs sagte er nach, dass „unter ihrer Mitwirkung eine Reihe der freisinnigsten organischen Gesetze zustande gekommen" sei. Bei aller Berechtigung seiner eigenen Forderung aber wusste er sie nur auf Sand zu bauen, indem er als ihren einzigen Rechtstitel das „königliche Wort von 1815" ansprach. Leider wusste die Regierung dem unvorsichtigen Fragesteller nur zu antworten, indem sie ihn auf Hochverrat und Majestätsverbrechen anklagte; viel bündiger und gründlicher hätte die Krone ihn beschieden, indem sie ihm erwiderte: Was du verlangst, habe ich nie versprochen; wenn ich aber ausführen könnte und wollte, was ich versprochen habe, so würdest du dein blaues Wunder erleben.

Diese hoffnungslose Illusion des vormärzlichen Liberalismus dauerte bis in die Märzrevolution hinein, die in erster Reihe den Opfern der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung geschuldet wurde. Auch Herr Hintze sieht ihren gefährlichsten Zündstoff in der ländlichen Bevölkerung. „Der größte Vorteil war den Gutsbesitzern zugefallen, die ihre Wirtschaften meist bedeutend vergrößert, abgerundet und in besseren Betrieb gebracht hatten. Dagegen konnte ein großer Teil des Bauernstandes der neugewonnenen Freiheit und Selbständigkeit nicht recht froh werden, weil es ihm an Kapital fehlte, um die notwendig werdende Umwälzung in der Wirtschaft ohne Schaden ins Werk zu setzen, und vollends der zu ungesunder Massenhaftigkeit angeschwollene Taglöhnerstand, der ganz ohne die notwendige Staatshilfe geblieben und lediglich dem guten oder bösen Willen der Gutsbesitzer preisgegeben war, hatte sich zu einem meist in kümmerlichen Verhältnissen lebenden Proletariat entwickelt, das schwere soziale Gefahren in sich barg." Das Berliner Parlament, das aus den Stürmen der Revolution, lebte und webte in den Illusionen des vormärzlichen Liberalismus: Erst nachdem es nahezu ein halbes Jahr vertrödelt hatte, um eine schöne Verfassung aufs Papier zu schreiben, dachte es derer, denen es das eigene Dasein verdankte. Und es war ein beißender Witz der Geschichte, dass, als das Hohe Haus gerade die „unter dem Namen Hundebrot, Hundekorn, Hundehafer, Hundeackerkorn, Hundeackerhafer und Hundeackerzins vorkommenden Abgaben" diskutierte und eben beschloss, auch die „Hundsatzung" nicht zu vergessen, die Truppen vor dem Saal erschienen, um seine Türen für immer zu schließen.

Das Staatsstreichministerium Brandenburg-Manteuffel wusste viel besser, worauf es ankam. Es tat der schönen Verfassung zunächst gar kein Leid an, sondern oktroyierte sie sogar, wenn auch mit einigen Änderungen zum Schlechteren; dann aber tastete Manteuffel, woran Stein gescheitert war und Hardenberg nicht einmal gedacht hatte, die obrigkeitlichen Rechte der Gutsherren an und kappte vor allem die Patrimonialgerichtsbarkeit; endlich rettete sein Agrargesetz von 1850 auch von den kleinen Bauern, was noch zu retten war, sicherlich auch unter sehr drückenden Bedingungen für die Bauern, aber immerhin war dies Gesetz, wie Herr Hintze meint, „viel bauernfreundlicher" als die Agrargesetze Hardenbergs. Erst als die bäuerliche Bevölkerung durch diese Zugeständnisse beruhigt war, machte sich Manteuffel in aller Gemächlichkeit daran, die schöne Verfassung wieder abzubauen, Paragraph für Paragraph, bis die Revolution von 1848 ihren Abschluss gefunden hatte, wie einst die Kriege gegen die französische Fremdherrschaft in den Jahren 1812 bis 1815: in der Wiederherstellung der Adelsherrschaft.

XXI

Damit wäre die zeitliche Grenze erreicht oder selbst schon überschritten, die dieser Abhandlung von vornherein gesetzt war. Verfolgt man, wie es hier versucht worden ist, den roten Faden der preußischen Geschichte, so wird man der Behauptung des Herrn Hintze nicht zustimmen, dass der preußische Staat ein „Werk der Hohenzollern" sei. Eher wird man geneigt sein, die Ansicht Max Lehmanns zu unterschreiben, des vorurteilslosesten unter den preußischen Historikern, wonach die Junker „die eigentlichen Regenten des preußischen Staates" gewesen seien. Und ebenso nahe trifft die andere Bemerkung Lehmanns zum Richtigen, es sei doch wohl der tiefste Unterschied zwischen der preußischen und der französischen Entwicklung, dass dort der Impuls gefehlt habe, der hier von dem dritten Stande ausgegangen sei.

In der Tat gerät man notwendig in die Irre, wenn man das Verständnis der preußischen Geschichte an dem französischen oder auch dem englischen Vorbild zu erlangen sucht. In Frankreich hatte die Monarchie gemeinsam mit den Städten die mittelalterlichen Magnaten niedergeworfen, um dann mit dem höfisch gezähmten Adel über den „dritten Stand" herzufallen, der, um sich zu retten, dem Königtum und dem Adel einen erbitterten und schließlich siegreichen Krieg machte. In England aber hatten sich Adel und Städte verbunden, um die moderne Staatsgewalt in einem gemeinsamen, von ihnen abhängigen Königtum zu begründen. In der preußischen Entwicklung fehlen vollständig die Städte, aus Gründen, die in dieser Darstellung hinlänglich angedeutet worden sind; als sie endlich auf der Bühne erschienen, war ihre historische Stunde längst vorüber.

Viel nähere Analogien als mit der französischen und englischen bietet die preußische Geschichte mit der polnischen. Beide sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich. Wenn das Endergebnis dennoch sehr verschieden ausgefallen ist, so aus dem Grunde, weil die polnische Geschichte schließlich jedes Klassenkampfes entbehrte, ohne den eine historische Entwicklung unmöglich ist. Die polnische Adelsherrschaft vermochte sich so auszuwachsen, dass sie weder an der Monarchie noch an den Städten mehr ein Gegengewicht fand, und so verfaulte sie in sich selbst; auch der nahrhafteste Karpfenteich bedarf des Hechtes, wenn die Karpfen frisch und munter bleiben sollen.

Der preußische Adel aber gedieh, weil er an der Monarchie den erfrischenden und stärkenden Widerstand fand, dessen jede Klassenherrschaft bedarf, wenn sie dauern soll. Ebendarin ist denn auch die Bürgschaft gegeben, dass seine Herrschaft niemals unterliegen kann, es sei denn, dass eine neue Klasse auf den Plan tritt, die sich auf den Klassenkampf ebenso trefflich versteht wie der Adel, aber ihn mit stärkeren Waffen zu führen vermag.

1 Wiener Kongress – die Zusammenkunft der am Kriege gegen Napoleon I. Beteiligt gewesenen Herrscher und leitenden Staatsmänner der meisten europäischen Staaten, die vom September 1814 bis Juni 1815 in Wien stattfand. Sie diente der Restaurierung der politischen Verhältnisse Europas. Der Kongress wurde durch die Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 abgeschlossen, die von den fünf Großmächten und Portugal und Schweden unterzeichnet wurde. England, Russland, Österreich und Preußen annektierten zum Teil erhebliche Gebiete. Der Deutsche Bund wurde gegründet.

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