Siebter Abschnitt

SIEBENTER ABSCHNITT

Die deutsche Sozialdemokratie

1. Gründungsschwindel und Kulturkampf

Wie die Revolution von oben durch den Bund zwischen dem preußischen Militärstaate und der deutschen Bourgeoisie gesichert worden war, so hatten diese beiden Mächte den Eroberungskrieg gegen Frankreich geführt, und so teilten sie sich in die Beute.

Der Hauptgrund, womit die Annexion Elsass-Lothringens befürwortet worden war, nämlich dass sie Deutschland vor allen Angriffsgelüsten Frankreichs sichere, erwies sich sofort als der holde Humbug, der er war. Ganz im Gegenteil gab Moltke, die gefeiertste militärische Größe des neuen Reiches, die Parole aus: „Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen werde." Der Militarismus schwoll zu Dimensionen an, die den ärgsten Pessimisten der sechziger Jahre unglaublich erschienen wären.

Aber das nahm die Bourgeoisie gern in den Kauf, da ihr die Kolbenstöße der deutschen Heere die Tore des Weltmarktes weit geöffnet hatten. Zwar kam der Milliardensegen ganz überwiegend dem Militärstaat zugute, um Schulden abzutragen, Dotationen und Pensionen zu zahlen, Festungen und Kasernen zu bauen, die Bestände von Waffen und Militäreffekten zu erneuern, allein die enorme Vermehrung des disponiblen Kapitals und der zirkulierenden Geldmenge gab der jungen Großindustrie einen mächtigen Aufschwung. Die Konzentration des Kapitals ergriff alle Zweige des gewerblichen Lebens; die Jahre 1871 bis 1873 schufen an Aktienkapitalien mehr als 1200 Millionen Taler, fast soviel, wie die französische Kriegsentschädigung betrug; Bankinstitute und Industriegesellschaften schossen in den buntesten Formen aus dem Boden hervor. Eisen-und Kohlenwerke wurden in großer Zahl gegründet, Eisenbahnlinien massenhaft entworfen. In diesem wilden Taumel der Spekulation verlor die Bourgeoisie den letzten Rest ihrer politischen Haltung.

Sie warf sich platt auf den Bauch vor dem „Säkularmenschen", der ihr all die goldene Herrlichkeit beschert hatte. Bismarck selbst nahm diese überschwänglichen Huldigungen herablassend entgegen, ohne sie jedoch zu erwidern. Die politischen Ansprüche der Bourgeoisie hielt er nach wie vor mit eiserner Faust nieder; wagte einmal einer ihrer Redner im Reichstage ein schüchternes Wort von den „Rechten des Volkes" zu murmeln, so wurde er von Bismarck als ein überlästiger Bettler angeschnarrt. Aber auf wirtschaftlichem Gebiete ließ er der Bourgeoisie noch freien Spielraum, und die Beseitigung der Hindernisse, die der Entfaltung der kapitalistischen Entwicklung im Wege standen, wurde in den ersten Jahren des neuen Reiches fortgesetzt. Bismarcks rechte Hand in diesen Fragen blieb der Minister Delbrück, der das Geheimnis der Zeit darin erblickte, keine Zinsen zu verlieren, und allen kapitalistischen Schwindel durch das geflügelte Wort segnete, keine Gesetzgebung könne die Dummen daran hindern, ihr Geld loszuwerden.

Innerhalb der bürgerlichen Klassen fand Bismarck eine ernsthafte Opposition nur noch in den partikularistischen Elementen des Reiches, die sich zu einer großen parlamentarischen Partei zusammengeballt hatten. Die deutschen Waffen hatten mittelbar die weltliche Macht des Papstes gestürzt und dadurch alle streitbaren Kräfte des Katholizismus mobil gemacht. Unter dem Namen des Zentrums trat eine katholische Fraktion in den ersten deutschen Reichstag ein. Sie kam zunächst noch nicht mit feindlichen Absichten gegen Bismarck, der bis dahin ein erprobter Freund der Jesuiten gewesen war. Aber es lag in der Natur der Dinge, dass die neue Fraktion der Sammelplatz aller partikularistischen Elemente wurde. In den katholischen Gegenden Deutschlands, am Rhein, in Schlesien, in Bayern, war die Antipathie gegen das Preußentum immer am stärksten gewesen; dazu kamen die katholischen Polen und etwas später auch die katholischen Elsässer; ja, der partikularistische Charakter des Zentrums überwog von vornherein so sehr seinen religiösen Charakter, dass sich ihm auch die orthodox-protestantischen Hannoveraner anschlossen, die ihr früheres Königreich wiederhergestellt wissen wollten.

So fand sich unter dem gemeinsamen Banner des Ultramontanismus1 alles zusammen, was aus partikularistischen Gründen dem neuen Reiche widerstrebte, eine Masse der politisch und sozial verschiedensten Elemente, die nach den verschiedensten Richtungen auseinandergingen: von den Auffassungen kleinbäuerlicher und kleinbürgerlicher Demokratie bis zu den Auffassungen feudaler Romantik und zünftlerischer Krähwinkelei. Das Programm der neuen Partei, das im Frühjahr 1871 veröffentlicht wurde, betonte in erster Reihe den partikularistischen Gesichtspunkt, die Selbständigkeit und Selbstbestimmung der einzelnen Staaten, und erst in zweiter Reihe den religiösen Gesichtspunkt, den Schutz der Religionsgesellschaften vor Eingriffen der weltlichen Gesetzgebung. Dementsprechend wurde zum Führer des buntgemischten Haufens auch kein katholisches Kirchenlicht erkoren, sondern der ehemals hannoversche Minister Windthorst, ein Diplomat der alten Schule wie Bismarck, nur dass er sich mit Recht rühmen konnte, früher aufzustehen als dieser.

Diese Opposition hätte wenig zu bedeuten gehabt, wenn das neue Reich nicht mit dem preußischen Korporalstocke, sondern wie ein moderner Kulturstaat regiert worden wäre; sie hätte sich dann in sehr absehbarer Zeit in ihre heterogenen und alles in allem historisch rückständigen Elemente auflösen müssen. Allein was Bismarck nach 1866 bis zu einem gewissen Grade geleistet hatte, das leistete er nach 1870 nicht mehr; er wusste die gegebene Lage nicht mit eigenem Geschick auszunutzen; der Weihrauch, der seinem unvergleichlichen Genie in unabsehbarem Maße gestreut wurde, hatte ihm jede Aussicht über den alten Junkerhorizont hinaus vernebelt. Er schlug mit dem altpreußischen Korporalstock auf alles los, was nicht nach seiner Pfeife tanzen wollte; wer sich seinen Launen und Nerven nicht fügsam anschmiegte, wurde zum „Reichsfeind" erklärt und in den Reichsbann getan.

In dieser Verblendung verkannte Bismarck gänzlich die Möglichkeit, die ihm gegeben war, die Opposition des Zentrums lahmzulegen. Er suchte sie nicht durch eine moderne Gesetzgebung, sondern durch Gewaltmaßregeln in altpreußischem Polizeigeiste zu bändigen, wobei er noch den Schein für das Wesen nahm und mit der katholischen Kirche als solcher anband, der er mit allerlei Ausnahmegesetzen und gehässigen Antastungen ihres inneren Lebens so zusetzte, dass er die ganze katholische Bevölkerung des Reiches gegen sich aufbrachte. Statt selbst mit den Waffen bürgerlicher Freiheit zu kämpfen, drängte er diese Waffen dem Zentrum auf und machte es dadurch für seine reaktionäre Staatskunst unüberwindlich, wenn er sich auch prahlerisch vermaß, dass er niemals nach Canossa gehen werde.

Noch törichter als Bismarck selbst erwies sich die liberale Bourgeoisie, indem sie ihrem bewunderten Helden auch auf diesem Wege nachstampfte, obgleich sie nicht einmal den mildernden Umstand für sich geltend machen konnte, in feudalen Anschauungen aufgewachsen zu sein. Selbst ein liberaler Gelehrter von dem Weltrufe Virchows hielt sich nicht für zu schlecht, dies historische Satyrspiel auf den ehrwürdigen Namen eines Kulturkampfes zu taufen. Für die gerissene Gründersippe, die in der Nationalliberalen Partei ihre Unwesen trieb, war der „Kulturkampf" allerdings nur eine Kulisse, um die Massen desto bequemer zu plündern; man konnte mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen, dass, wer in Parlament und Presse am heftigsten „gegen Rom" donnerte und am feierlichsten den Schatten des armen Ulrich Hutten beschwor, auch den meisten Gründerschmutz am Stecken hatte.

So vertrödelten Bismarck und die liberale Bourgeoisie die Flitterjahre des neuen Reiches. Sie verfuhren eine für sie unvergleichlich günstige Situation in unvergleichlicher kurzsichtiger Weise, und bereits die nächsten Reichstagswahlen, die im Januar 1874 stattfanden, erteilten ihnen die gebührende Quittung. In ihnen standen, wenn man von der halben Million fortschrittlicher Stimmen absah, die nach Bismarcks Rechnung halb „reichsfreundlich" und halb „reichsfeindlich" einzuschätzen waren, 2.339.936 unbedingt „reichsfeindlichen" Stimmen nur noch 2.408.549 unbedingt „reichsfreundliche" Stimmen gegenüber. Die „Reichsfreunde" hatten also nur noch die bescheidene Mehrheit von 68.613 Stimmen, wenn man anders die wohlwollende, aber schwerlich zutreffende Annahme machte, dass alle „reichsfreundlichen" Stimmen aus ehrlicher Überzeugung abgegeben worden seien.

2. Die Einigung der Arbeiterpartei

Dieselben Wahlen von 1874 brachten den beiden sozialdemokratischen Fraktionen große Erfolge und gaben den entscheidenden Anstoß zu ihrer Einigung, die sich seit dem Jahre 1871 langsam vorbereitet hatte.

Auf der einen Seite war der Hader über die nationale Frage seit dem Friedensschluss mit Frankreich geschlichtet, auf der anderen Seite drängte die historische Entwicklung selbst die feindlichen Brüder in dieselbe Kampflinie. Das neudeutsche Reich erwies sich dem Proletariat von vornherein als hartherzige Stiefmutter. Seine offiziellen Gewalten besaßen nicht einmal soviel politischen Anstand und Takt, die elenden Verfolgungen einzustellen, die sie während des Krieges gegen die Eisenacher Fraktion eingeleitet hatten. Die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses kamen vor gelehrten Richtern noch ziemlich wohlfeil weg; Bebel und Liebknecht aber wurden von den Leipziger Geschworenen auf die lächerlichsten Vorwände hin zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Freilich hatte diese unverhüllte Tendenzjustiz eine ganz andere Wirkung, als ihre Urheber von ihr erwarteten: Die Verhandlungen des Leipziger Prozesses machten gewaltige Propaganda für die Sache der Sozialdemokratie.

Selbst der Milliardensegen wurde dem Proletariat zum Unsegen. Er machte das Geld billiger und den notwendigen Lebensbedarf der Arbeiterklasse teurer; wollte sie ihren Reallohn auf derselben Höhe erhalten, so musste sie ihren Geldlohn steigern. So entstand eine lebhafte Streikbewegung, die, so berechtigt sie war, auf den boshaftesten Widerstand der bürgerlichen Arbeiterfreunde, geschweige denn der Regierungen stieß und für die Masse der deutschen Arbeiter eine wesentliche Verschlechterung ihrer Lebenshaltung nicht hindern konnte.

Mit gleicher Gehässigkeit suchten die bürgerlichen Parteien die Keime der gewerkschaftlichen Bewegung auszurotten, die sich aus den Streiks entwickelten. Freilich waren sie noch nicht für die kriminelle Bestrafung des Arbeitsvertragsbruches zu haben, die Bismarck schon im Jahre 1873 vom Reichstage verlangte, um die kaum gewährte Koalitionsfreiheit wieder aufzuheben, aber was sonst in ihren Kräften stand, alle Anläufe der Arbeiter zur gewerkschaftlichen Organisation zu hindern, das haben sie unbedenklich getan. Jeder Streik und jede Gewerkschaft wurden von der bürgerlichen Presse als „sozialdemokratische Machenschaft" denunziert, als eine künstliche Aufhetzung der Arbeiter durch gewissenlose Demagogen. Dabei dachten die sozialdemokratischen Fraktionen nicht im Traume daran, Streiks zu provozieren; sie wurden vielmehr nicht müde, den Arbeitern einzuschärfen, dass sie sich erst eine tüchtige Organisation schaffen müssten, ehe sie zu der zweischneidigen Waffe der Arbeitseinstellung griffen. Freilich schlug auch in diesem Falle wie gewöhnlich die bürgerliche Untreue ihren eigenen Herrn; sie drängte den Arbeitermassen die Erkenntnis auf, dass sie unter allen politischen Parteien nur in der Sozialdemokratie eine allezeit zuverlässige Freundin besäßen.

Auf politischem Gebiete empfing die Arbeiterbewegung einen nicht minder kräftigen Anstoß. Das altpreußische Regierungssystem, das unverändert im neudeutschen Gemeinwesen fortbestand, machte aller schwärmerischen Begeisterung für Kaiser und Reich ein sehr schnelles Ende. Die Militär- und Steuerlasten nahmen nicht ab, und sie wirkten doppelt abschreckend überall in Deutschland, wo man bis dahin noch nicht an diese angenehme Fuchtel gewöhnt war. Neben dem Soldatwerden und Steuerzahlen blieb auch das Mundhalten in altpreußischen Ehren. Bismarck verlangte vom Reichstage einen neuen Kautschukparagraphen des Pressgesetzes, durch den Angriffe auf die Familie, das Eigentum, die allgemeine Wehrpflicht mit schweren Strafen geahndet werden sollten. Wie das Kontraktbruchgesetz auf ökonomischem, so war dieser Paragraph auf politischem Gebiete das erste Ausnahmegesetz Bismarcks gegen die Sozialdemokratie, doch ging auch er der bürgerlichen Reichstagsmehrheit einstweilen noch über den Spaß.

Bei den Wahlen von 1874 erreichten die beiden sozialdemokratischen Fraktionen die Gesamtziffer von 351.670 Stimmen, die sich ziemlich gleichmäßig auf sie verteilten. Freilich eroberten sie nur die verhältnismäßig geringe Zahl von neun Mandaten. Hätten sie von vornherein gemeinsam operiert, so würden sie vielleicht ein paar Mandate mehr gewonnen haben; tatsächlich erwies es sich jedoch von größerem Vorteil, dass sie getrennt in die Wahlschlacht marschiert waren. Die fast gleiche Zahl der Stimmen, die jede der Fraktionen aufgebracht hatte, wirkte abkühlend auf die gegenseitige Überreizung. Die Lassalleaner erkannten, dass die Eisenacher kein Anhängsel der bürgerlichen Demokratie seien, und die Eisenacher sahen, dass die Regierungsfreundlichkeit der Lassalleaner ein Märchen sei. Die persönliche Berührung im Reichstage trug auch zur Milderung der noch vorhandenen Missstimmungen bei, zumal da für beide Fraktionen ringsum nur Feinde waren, die bürgerlichen Parteien sie mit hochnäsigem Hohne als „Gäste" behandelten, die sich manierlich zu betragen hätten, wenn sie geduldet werden wollten, und Bismarck sofort wieder mit den beiden Ausnahmegesetzen anrückte, mit denen er beim vorigen Reichstage abgeblitzt war und zunächst allerdings auch bei diesem Reichstage abblitzte. In allen Abstimmungen standen die sozialdemokratischen Abgeordneten gemeinsam, und es gab nur noch eine einzige nennenswerte Verschiedenheit zwischen ihnen: die Frage der Organisation, die den Eisenachern bei den Lassalleanern zu straff, den Lassalleanern aber bei den Eisenachern zu lose war.

Da zerstach denn Bismarck den letzten Damm, der die beiden Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung noch trennte. Er hatte den Staatsanwalt Tessendorff nach Berlin berufen, um die sozialdemokratischen Fraktionen mit den Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuches tot zu prozessieren, und dieser feile Streber tat das Menschenmögliche, seinem unehrlichen Auftrage gerecht zu werden. Aber da er damit nicht vorwärts kam, so verfiel er auf den gloriosen Gedanken, die sozialdemokratische Organisation zu zerstören, da er sich in seinem bornierten Bürokratendünkel einbildete, dass mit dem Mantel auch der Herzog verschwinden würde. Mit Hilfe willfähriger Gerichte gelang es ihm sehr bald, die Organisationen sowohl der Lassalleaner wie der Eisenacher zu zerstören, allerdings in schreiendem Widerspruch selbst mit dem preußischen Vereinsgesetze. Aber die Zeiten waren vorüber, in denen die Reaktion wenigstens noch Sinn und Wortlaut ihrer eigenen Gesetze geachtet hatte; auf diesen Luxus verzichtete sie bereitwillig, seitdem ihr die Arbeiterbewegung über den Kopf zu wachsen begann. Und wenn die Einigung der sozialdemokratischen Fraktionen auch sonst wohl nicht mehr lange auf sich hätte warten lassen, so wurde sie doch durch die geniale Taktik der Bismarck und Tessendorff in erfreulicher Weise beschleunigt.

Tatsächlich vollzog sie sich auf dem Kongress in Gotha, der vom 22. bis zum 27. Mai 1875 tagte. In allen wesentlichen Problemen, die die moderne Arbeiterfrage berühren, ergab sich eine erfreuliche Übereinstimmung, die sich gerade auch in den Fragen bewährte, in denen weder die Lassalleaner noch die Eisenacher schon auf die Höhe wissenschaftlicher Erkenntnis gelangt waren. Keiner von beiden Teilen brachte – trotz der Befürchtungen, die selbst Marx in dieser Beziehung hegte – der Einigung irgendein intellektuelles oder prinzipielles Opfer, und so hat sie sich durchaus bewährt.2

3. Reaktionäre Umkehr

Zur gleichen Zeit begann innerhalb der bürgerlichen Parteien eine reaktionäre Umkehr. Der große Krach, dessen erste Schatten schon in die Reichstagswahlen von 1874 gefallen waren, hatte einen riesenhaften Umfang angenommen. Nach einem kurzen Rausch erfuhr das neue Reich in einem furchtbaren Katzenjammer, was es bedeute, als ebenbürtige Macht auf dem Weltmarkt zu konkurrieren.

Die große Industrie war durch die sinnlose Überproduktion der Gründerjahre in eine schwere Absatzkrise geraten; sie schrie nach Schutzzöllen, um sich auf dem inneren Markte hohe Preise zu sichern und so auf dem Weltmarkte durch Schleuderpreise um so sicherer die ausländische Konkurrenz zu unterbieten. Die eigenen Volksgenossen sollten weißgeblutet werden, damit die überschüssigen Produkte um so wohlfeiler an fremde Nationen abgesetzt werden könnten. In gleichem Maße aber begannen die Großgrundbesitzer, die bis dahin begeisterte Freihändler gewesen waren, nach Schutzzöllen zu schreien, denn die Grundrente begann zu sinken durch die Überschwemmung des deutschen Marktes mit Fleisch und Getreide, die ihrerseits eine Folge der durch den Kapitalismus treibhausartig geförderten Entwicklung der Verkehrsmittel war. Bismarck war sowohl Großgrundbesitzer wie Großindustrieller und hatte deshalb inniges Mitgefühl mit den beiden so herzbrechende Not leidenden Klassen. Aber als großer Staatsmann hatte er noch seine besonderen Sorgen. Die fünf Milliarden Kriegsentschädigung waren in leichtsinniger Weise verpulvert worden, und die Finanznot pochte drohend an die Tore der neuen Reichsherrlichkeit. Die Regierung musste neue Steuerquellen erschließen, Steuerquellen, die massenhaft strömten und durch den Reichstag nicht nach dessen Belieben verstopft werden konnten. Die Wege dazu waren indirekte Steuern auf den Massenverbrauch, Finanzzölle, Verstaatlichung großer Erwerbs- und Verkehrszweige.

So kam Bismarck in eine reaktionäre Finanz-, Steuer- und Zollpolitik hinein. Jedoch sein Missgeschick wollte, dass er diese Politik zunächst nicht mit den reaktionären Parteien machen konnte. Zwar mit den Junkern, die wegen seiner kapitalistischen Wirtschaftspolitik eben einen hartnäckigen Verleumdungsfeldzug gegen ihn begonnen hatten, vertrug er sich schnell, ein bekanntes Sprichwort abermals bestätigend. Aber mit dem Zentrum, das sonst zu haben gewesen wäre, konnte er noch nicht anbinden, von wegen des famosen Kulturkampfes. Weder konnte das Zentrum den „diokletianischen Christenverfolger"3, wie es ihn nannte, sofort pardonieren, noch konnte er so ohne weiteres „nach Canossa gehen", wogegen er sich so prahlerisch verwahrt hatte. Die Zeit sollte kommen, wo auch diese schönen Seelen sich fanden, aber vorläufig hatte Bismarck allen Anlass zu versuchen, ob die Liberalen, die ihm ihre politischen Ideale geopfert hatten, nicht auch über ihre materiellen Interessen mit sich handeln lassen würden.

Ohne Zweifel befand sich die liberale Bourgeoisie in einer sehr schwierigen Lage. Die große Industrie wandte sich von ihr ab; ihr kleinbürgerliches Gefolge, das sich unter den Geißelhieben des Krachs dem Antisemitismus, dem „Sozialismus des dummen Kerls", zuzuwenden begann, schwand ihr unter den Händen fort, und die frisch bekehrten Junker drangen mit besonderem Zorne auf die verstockten Sünder ein. Es war überhaupt eine verzweifelte Aufgabe, die Fahne der kapitalistischen Freiheit hochzuhalten, während das Märchen vom Tausendjährigen Reiche des Freihandels in den tausend Ruinen der Schwindelperiode zerschmettert am Boden lag. Die krampfhaften Versuche der freihändlerischen Bourgeoisie, den großen Krach aus der Welt zu hexen und die ruchlosesten Gründungen als „korrekteste Geschäfte" darzustellen, waren am wenigsten geeignet, ihr gesunkenes Ansehen wiederherzustellen.

Dennoch war ihr Spiel noch lange nicht verloren. Gegenüber der reaktionären Wirtschaftspolitik Bismarcks vertrat sie immer noch den historischen Fortschritt und konnte insoweit auf die Unterstützung der Arbeiterklasse rechnen, an der sie einen ganz anderen Halt hatte als an dem wankelmütigen Kleinbürgertum. Sie brauchte den „sozialistischen Utopien" durchaus keine Zugeständnisse zu machen; sie brauchte gar nicht einmal ein taktisches Bündnis mit der Arbeiterklasse zu schließen, die sich um ihrer selbst und nicht um der schönen Augen der Bourgeoisie willen gegen die reaktionären Massenplünderungspläne auflehnte; es genügte schon, wenn sie sich selbst nicht aus blindem Sozialistenhass die einzige Möglichkeit verbaute, der reaktionären Umkehr Bismarcks siegreichen Widerstand zu leisten.

Gewiss besaß die Sozialdemokratie damals noch nicht die Macht, über die sie heute verfügt, aber sie war in schnellem Aufblühen begriffen, und sie hatte genügenden Einfluss auf die Massen der Nation, um diese auf die Beine zu bringen gegen die edle Absicht, ihr das Fell über die Ohren zu ziehen. Bei den Wahlen von 1877 wurden zwar nur zwölf Abgeordnete der Partei gewählt, aber nahezu eine halbe Million sozialdemokratischer Stimmen gemustert. Und jeder neue Tag führte ihr neue Anhänger zu.

Es schien nun anfangs auch so, als ob die liberale Bourgeoisie endlich einmal Fuß beim Male halten wollte. Der Reichstag lehnte nochmals einen Kautschukparagraphen ab, der als ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie in das Strafgesetzbuch eingefügt werden sollte, obgleich der Minister Eulenburg im Falle der Ablehnung mit dem „hauenden Säbel und der schießenden Flinte" drohte. Bei den Reichstagswahlen von 1877 verloren die Nationalliberalen etwa 20 Mandate, die an die Konservativen fielen, aber eine schutzzöllnerische Mehrheit ließ sich trotzdem noch immer nicht im Reichstage bilden. Zu Weihnachten 1877 verhandelte Bismarck nochmals mit dem nationalliberalen Führer v. Bennigsen, aber wieder ohne Erfolg. Was Bismarck den Nationalliberalen bot, war ihnen zu wenig, und was er von ihnen verlangte, war ihnen zu viel. Sie sollten einen oder ein paar Statisten ins Ministerium stellen, aber dafür das Tabaksmonopol und einen Haufen Finanzzölle bewilligen, ohne „konstitutionelle Garantien", ohne Sicherung des dadurch arg geschmälerten parlamentarischen Budgetrechtes; sie sollten einen scheinbaren Anteil an der politischen Macht erhalten, den wirklichen Anteil daran aber, soweit sie ihn überhaupt noch besaßen, zum guten Teil preisgeben. Das war ihnen doch eine allzu bittere Zumutung.

Um so mehr hätte es nun aber im Interesse der liberalen Bourgeoisie gelegen, die Arbeiterklasse nicht gewaltsam vor den Kopf zu stoßen. Allein da ihre Opposition gegen Bismarck sie in ihres Herzens Grunde erzittern ließ, so glaubten sie sich stärken zu sollen, indem sie um so wütender über die Sozialdemokratie herfielen: eine Politik, die unter den historischen Torheiten des vorigen Jahrhunderts immer einen hervorragenden Platz behaupten wird. Die Fortschrittler hatten sogar noch einen größeren Anteil daran als die Nationalliberalen. Bennigsen hat es nie so arg getrieben wie der fortschrittliche Führer Eugen Richter, der den Kampf gegen Bismarcks reaktionäre Wirtschaftspolitik für die Neben-, den Kampf gegen das klassenbewusste Proletariat aber für die Hauptsache erklärte und diesen Kampf mit den Waffen des heutigen Reichsverbandes4 führte.

Der Pfiff einer so selbstmörderischen Politik bestand darin, dass sich die liberale Bourgeoisie der Bekämpfung der reaktionären Wirtschaftspolitik durch die Arbeiterklasse mit Recht für sicher hielt, aber sehr mit Unrecht annahm, durch heftiges Toben gegen die „Umstürzler" sich „nach oben" zu insinuieren. Dieser Pfiffigkeit war Bismarck reichlich gewachsen. Seitdem seine Verhandlungen mit Bennigsen gescheitert waren, lag er auf der Lauer, um die Gelegenheit abzupassen für einen Handstreich nach Art der bonapartistischen Plebiszite5, für irgendeinen Schrecken, unter dessen verblüffendem und verwirrendem Eindruck er eine gefügige Reichstagsmehrheit zusammentrommeln könne.

Diese Gelegenheit bot sich ihm, als der Klempnergeselle Hödel am 11. Mai 1878 Unter den Linden in Berlin beim Vorbeifahren des Kaisers eine Pistole abfeuerte, die sich von wirklichen Mordwerkzeugen durch die seltene, aber harmlose Eigenschaft unterschied, dass sie um die Ecke schoss: nach dem vereidigten Sachverständigengutachten eines Hofbüchsenmachers auf neun Schritt einen Fuß zu hoch und ebenso viel nach links. Auf die telegraphische Nachricht von dem beiläufigen Zwischenfall, dessen historische Bedeutung genügend erschöpft gewesen wäre, wenn ihn der Polizeibericht der Zeitungen mit drei Zeilen erwähnt hätte, sandte Bismarck aus Friedrichsruh die telegraphische Antwort: Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Statt die staatsmännische Forderung für einen schlechten Witz zu erklären, der übel genug zu der immerhin doch traurigen Tatsache stimmte, dass Hödel ein Opfer der kapitalistischen Wirtschaft war, das durch seine kuriose Schießerei die öffentliche Aufmerksamkeit auf sein intellektuelles, moralisches und physisches Elend lenken wollte, gefiel sich der gesamte Liberalismus darin, diesen kümmerlichen Keim eines kümmerlichen Humbugs zu fröhlichem Gedeihen zu bringen.

Alle liberalen Blätter jubelten halb über die „wunderbare Rettung" des Kaisers, halb gefielen sie sich in tiefsinnigen Betrachtungen darüber, dass Hödels verdorbene Schlüsselbüchse beinahe „der Weltgeschichte eine andere Wendung" gegeben haben würde. „Wunderbar" war jedoch nur die Selbstverleugnung, womit sie sich beeiferten, der „Weltgeschichte" diejenige „Wendung" zu geben, die Bismarck ihnen zum Verderben betrieb. Die Liberalen wussten sehr gut, dass dies angebliche Attentat im schlimmsten Falle, wie Bennigsen selbst einmal sagte, der „Dummejungenstreich eines nichtsnutzigen, jugendlichen Subjektes" war; sie wussten ganz genau, dass Bismarck in erster Reihe darauf hinauswollte, sie selbst an die Wand zu drücken; sie konnten mit einem bescheidenen Maße von Energie und Verstand die Kreise zerstören, die er um sie zog, aber gleichwohl stimmten sie über die Hödelei den Höllenlärm an, der Bismarcks Pläne reifen musste. Hödels Aufmachung zu einem unheimlichen Luzifer war das sicherste Mittel, ein neues Attentat vorzubereiten und in weiten Volkskreisen die Stimmung auszulösen, die durch solch neues Attentat zu völligem Wahnsinn aufgepeitscht werden musste.

Demgegenüber hatte es wenig zu bedeuten, dass die liberalen Fraktionen des Reichstags das erste Sozialistengesetz ablehnten, um so weniger, als sie ihre Ablehnung in einer Weise begründeten, die ein neues und gemeinschädlicheres Sozialistengesetz anbahnen musste. Bennigsen fand, dass die bestehende Gesetzgebung noch nicht bis zur äußersten Grenze des Zulässigen ausgenutzt worden wäre, und wenn er in seinen Ausführungen wenigstens noch einen Schimmer von Ahnung verriet, was die moderne Arbeiterbewegung historisch zu bedeuten habe, so wurde er wieder von Eugen Richter übertrumpft, der die fixe Idee produzierte, an der dieser arme Teufel all sein Lebtag gelitten hat, dass die deutsche Sozialdemokratie ein „Kunstprodukt" der Regierung sei und nur dadurch ihr Leben fristen könne, dass die reaktionäre Press- und Vereinsgesetzgebung nicht geschickt genug gegen sie gehandhabt würde. Mit so beschränkten Gegnern hatte Bismarck begreiflicherweise leichtes Spiel.

Ihm wurde sogar die Mühe erspart, die Lockspitzel ausschwärmen zu lassen, die alsbald so Hervorragendes im Fabrizieren von Attentaten leisten sollten. Es war noch kein Monat ins Land gegangen, als ein bürgerlicher Herostrat, ein Dr. Karl Nobiling, einen ernsthaften Mordversuch auf den Kaiser unternahm, der dabei schwer verwundet wurde. Die Saat der liberalen Delirien schoss nunmehr in die Halme, und die liberalen Parteien brachen in dem Sturm zusammen, den sie in selbstmörderischer Torheit heraufbeschworen hatten.

Vergebens bemühten sie sich, diesen Sturm durch ein letztes Opfer der Selbstachtung zu beschwören, indem eine Anzahl ihrer Häupter sich feierlich bereit erklärte, nunmehr alles und jedes Ausnahmegesetz zu bewilligen. An politischer Sentimentalität litt Bismarck durchaus nicht; er schmiedete vielmehr sein Eisen, solange es heiß war, und löste den Reichstag auf, angeblich damit die Wähler das durch Königsmord gefährdete Vaterland retten, tatsächlich damit sie ihm eine Mehrheit schaffen sollten, die bereit war, seine reaktionären Pläne durchzuführen und deren gefährlichste Gegnerin, die Sozialdemokratie, mundtot zu machen.

4. Das Sozialistengesetz

Durch einen Wahlkampf, der mit allen Mitteln des weißen Schreckens geführt wurde, von der infamen Fälschung amtlicher Aktenstücke an bis zu der moralischen Pest der Majestätsbeleidigungsprozesse, erreichte Bismarck seinen Zweck; er drückte die Nationalliberalen so an die Wand, dass ihnen die Überbleibsel eines politischen Rückgrats zerbrachen. Die liberalen Fraktionen verloren etwa 40 Sitze, und ebenso viel gewannen die Konservativen. Mit deren 115 Mandaten konnte Bismarck, je nachdem es ihm passte, eine konservativ-nationalliberale oder eine konservativ-ultramontane Mehrheit bilden. Er hatte jetzt freie Bahn.

Nicht jedoch war ihm gelungen, die Sozialdemokratie im ersten Ansturm zu bewältigen, obgleich ihm keine Waffe unsauber genug gewesen war, sie zu bekämpfen. Nur drei von ihren zwölf Mandaten und nur etwa den zehnten Teil der halben Million Stimmen, die sie anderthalb Jahre früher, bei den Wahlen von 1877, erobert hatte, vermochte er ihr abzujagen, und das wollte nichts besagen, zumal da die Sozialdemokratische Partei in dem furchtbaren Sturm, der sie umtobte, von vornherein alle Außenposten freiwillig aufgegeben und ihre ganze Kraft auf die Behauptung der etwa dreißig Kreise konzentriert hatte, in denen sie am längsten angesiedelt war. Hier aber hatte sie ihre unzerstörbare Lebenskraft glänzend bewährt; in Berlin, wo der weiße Schrecken in all seiner Weißglut brannte, stiegen die sozialdemokratischen Stimmen von 31.522 auf 56.147.

Und dieser Widerstand war unter den denkbar ungünstigsten Umständen geleistet worden. Die gesetzlichen Waffen, die allen bürgerlichen Parteien zur unbeschränkten Verfügung standen, wurden den Arbeitern zerbrochen oder wenigstens aufs äußerste verkümmert; ein Versammlungsrecht hatten sie in weiten Strecken des Reiches überhaupt nicht, in anderen Gebieten nur in äußerst beschränktem Maße; ihre Flugblätter wurden unter den nichtigsten Vorwänden beschlagnahmt und ebenso ihre Zeitungen durch einen ununterbrochenen Guerillakrieg der Polizei und Staatsanwaltschaft lahmgelegt; mindestens die Hälfte ihrer Vorkämpfer saß hinter Gefängnisgittern. Selbst bürgerliche Blätter bekannten, dass der Polizei gegenüber der Sozialdemokratie einfach alles erlaubt sei. Dazu kam ein unerhörter Notstand, der nun schon ins fünfte Jahr währte, die wirtschaftliche Maßregelung zahlloser Parteigenossen und nicht zuletzt auch der Wirbelsturm des Hasses und der Wut, den die angebliche moralische Verantwortung für die Attentate gegen die Sozialdemokratie entfesselte.

Die Haltung der Partei in den Attentatswahlen genügte zum Beweise dafür, dass sie durch keine äußere Gewalt mehr entwurzelt werden würde. Allein Bismarck verstand die Lehre nicht oder soweit er sie etwa verstand, nahm er nicht mit Unrecht an, dass ein Ausnahmegesetz, wenn nicht die Sozialdemokratie vernichten, so doch die liberalen Parteien entmannen würde. Anfang September 1878 berief er den neuen Reichstag ein, um ihm ein Ausnahmegesetz vorzulegen, das die Arbeiterklasse ihrer politischen Rechte berauben sollte. Über die einzelnen Bestimmungen dieser Vorlage verhandelte der Reichstag dann sechs Wochen lang in einer Komödie der Irrungen. Am einfachsten und klarsten war innerhalb der bürgerlichen Parteien die Stellung der 115 Konservativen, die zu jeder Unterdrückung des Proletariats ihr Ja und Amen sagten. Viel unklarer schon war die Stellung der bürgerlichen Opposition von 160 Stimmen, Fortschrittlern und Ultramontanen, die von der Vorlage nichts wissen wollten, aber gegen eine ärgere Bedrückung der Arbeiterklasse nichts einzuwenden hatten; nur sollte sie nicht durch ein Ausnahmegesetz erfolgen, sondern durch das „gemeine Recht", dessen „Lücken" in arbeiterfeindlichem Sinne auszufüllen sowohl die Fortschrittler wie die Ultramontanen sich gern bereit erklärten. Ihre wirkliche Sorge bestand darin, dass die schrankenlosen Polizeibefugnisse, die Bismarck forderte, nicht nur gegen die proletarische, sondern auch gegen die bürgerliche Opposition angewandt werden könnten. Sobald die fortschrittlichen wie die ultramontanen Staatsmänner hierüber beruhigt waren, haben sie das Sozialistengesetz nicht beseitigt, als sie es beseitigen konnten, und somit war der ebenso reichliche wie volltönende Phrasenschwall, in den sie sich bei der ersten Beratung ergossen, nicht mehr wert als der Wind, der durch den Schornstein fährt.

Die Entscheidung lag bei den Nationalliberalen, die zwar erst wie die Bären auf glühenden Platten, aber dann doch gehorsam nach Bismarcks Peitsche tanzten, namentlich nachdem er ihre anfängliche Widerborstigkeit mit der freundlichen Frage gezähmt hatte, ob sie etwa nach einer neuen Auflage der Attentatswahlen lüstern wären. Ihr politisches Gewissen suchten sie dadurch zu beschwichtigen, dass sie den Freibrief, den sie der polizeilichen Willkür ausstellten, mit „gesetzlichen Garantien" umgaben. Bismarck ging mit treuherziger Fuchsmiene auf diese Erfindung des hölzernen Eisens ein; er versprach die zärtlichste Sorgfalt für alle berechtigten Bestrebungen der Arbeiterklasse; nur die umstürzlerischen Pläne gewissenloser Demagogen sollten vereitelt werden. So lieblich klang die Pfeife des Vogelstellers, bis die Vögel auf dem Leime saßen; Bismarck wusste natürlich sehr gut, dass, wenn er nur erst den Aeolusschlauch6 dieses Gesetzes öffnen durfte, der erste Windstoß alle nationalliberalen Kartenhäuser vom Tische fegen würde. Von allen „Milderungen", die die Nationalliberalen an der Vorlage der Regierung anbrachten, war nur die zeitliche Begrenzung des Gesetzes, zunächst auf 2 Jahre, halbwegs der Rede wert.

Sobald das Gesetz am 19. Oktober mit 221 gegen 149 Stimmen angenommen worden war, trat die Regierung alle halben und ganzen Versprechungen, die sie für die „loyale Handhabung" der ihr anvertrauten polizeilichen Vollmachten gegeben hatte, einfach mit Füßen. Sie handelte so, als wenn das Gesetz aus dem einzigen Paragraphen bestanden hätte: Die Arbeiterklasse ist vogelfrei für jede Brutalität und Perfidie der Polizei. Was die moderne Arbeiterbewegung an Blättern, Schriften und Vereinen besaß, wurde rücksichtslos niedergemetzelt, als brächen barbarische Horden in ein zivilisiertes Land. Es lässt sich auch nicht bestreiten, dass dieser Wolkenbruch von Verfolgungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, die bei allem Misstrauen in die Versprechungen eines Bismarck doch nicht darauf gefasst gewesen war, dass der „Heros des Jahrhunderts" seine eigenen Verheißungen so unbeschämt an den Pranger schlagen würde, einige Verwirrung anrichtete. Aber das dauerte nur wenige Wochen; Bismarck selbst war es, der wieder die nötige Ordnung schuf, indem sein blinder Arbeiterhass sich selbst überschlug.

Er glaubte zum letzten Schlage gegen die Arbeiterpartei auszuholen, als er am 28. November, kurz vor der Rückkehr des von seinen Wunden genesenen Kaisers nach Berlin, über Berlin und Umgegend den kleinen Belagerungszustand verhängte, der im Paragraph 28 des Sozialistengesetzes vorgesehen worden war und der Polizei die Ausweisung aller ihr missliebigen Personen gestattete. Am nächsten Tage wurden 67 Parteimitglieder, fast durchweg Familienväter, aus Berlin ausgewiesen. Es war der schnödeste von allen Wortbrüchen Bismarcks; den Paragraphen 28 des Sozialistengesetzes hatten die Nationalliberalen nur für den äußersten Notfall bewilligt: Wenn ein Bezirk von der sozialdemokratischen Agitation so unterwühlt wäre, dass jeden Augenblick ein gewaltsamer Ausbruch erwartet werden könnte, sollte der Paragraph angewandt werden, um der Verhängung des wirklichen Belagerungszustandes vorzubeugen. Selbst die bürgerliche Presse erkannte einstimmig an, dass alle tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen der Paragraph 28 angewandt werden durfte, in dem damaligen Berlin fehlten.

Wenn aber Bismarck mit diesem barbarischen Streiche der Sozialdemokratie den Todesstreich versetzt zu haben wähnte, so trat gerade der umgekehrte Fall ein. Die Sozialdemokratie erkannte jetzt, dass ihr ein Kampf auf Leben und Tod bevorstünde; überall, wo die Parteigenossen für einen Augenblick entmutigt worden waren, kehrten sie auf ihre alten Posten zurück. Die Sammlungen für die Ausgewiesenen und ihre Familien knüpften die ersten Fäden einer neuen Organisation, und die Ausgewiesenen selbst wie ihre hungernden Weiber und Kinder wurden Agitatoren, wie sie das klassenbewusste Proletariat noch nicht besessen hatte. Und nun begann sich auch der moralische Bann zu lösen, der seit den Attentaten in der Vorstellung weiter Volkskreise auf der Sozialdemokratie gelastet hatte. Liberale Politiker führten namhafte Summen an den Unterstützungsfonds für die Ausgewiesenen ab, und als Bismarck in der Frühjahrssession des Reichstages von 1879 die parlamentarische Redefreiheit der sozialdemokratischen Abgeordneten vernichten wollte, lehnten die Nationalliberalen dieses Maß von Selbstentwürdigung ab. Freilich – einen auch nur papiernen, geschweige denn wirksamen Protest gegen den Missbrauch des Paragraphen 28 zu erheben, wagte keine der bürgerlichen Parteien.

In dieser Session des Reichstages begann nun auch die „Finanz- und Wirtschaftsreform" in Bismarcks reaktionärem Sinne. Das Parlament wurde dabei zur Börse, an der Bismarck mit den Großindustriellen und den Großgrundbesitzern um den Anteil handelte, den jeder dieser drei edlen Verbündeten aus der Haut der konsumierenden Volksmassen schneiden könne. Nach langen und widerlichen Verhandlungen hatten die Großindustriellen ihre Eisen- und Textil-, die Großgrundbesitzer ihre Getreide- und Vieh-, Bismarck seine Finanzzölle in der Tasche, dem Volke aber kostete der Spaß eine Verteuerung aller Lebensmittel und 130 Millionen Mark neuer Steuern. Politisch vollzog sich dabei eine völlige Parteiverschiebung. Die gebrochenen Nationalliberalen gaben ihren Mitgliedern die Abstimmung in allen wirtschaftlichen Fragen frei: Ein Teil blieb mit den Fortschrittlern bei der freihändlerischen Fahne, ein anderer Teil ging zu den Schutzzöllnern über. Aber an ihren „konstitutionellen Garantien" hielten sie fest, das Einnahmebewilligungsrecht des Reichstages wollten sie nicht völlig in der Versenkung verschwinden lassen. So musste Bismarck mit den Ultramontanen abschließen, die sich mit „föderativen Garantien", mit der Überweisung aller Überschüsse an die Einzelstaaten, begnügten und als angenehmes Trinkgeld die Entlassung des kulturkämpferischen Kultusministers Falk mit in den Kauf bekamen. Einen großen Geist wie Bismarck genierte das nicht; wo solche Summen heimzuramschen waren, lohnte sich nicht nur der Gang nach Canossa, sondern auch eine Kniebeuge vor dem Partikularismus.

Die neuen, auf das Volk gewälzten Lasten lieferten neues Wasser auf die Mühlräder der Arbeiterbewegung; in mehreren Ersatzwahlen drängten die Massen immer ungestümer vor. Allein gegenüber den trügerischen Schlagworten, womit die neue Massenplünderung von ihren Urhebern ausstaffiert wurde, machte sich auch die Notwendigkeit eines klärenden und sammelnden Parteiorgans, das natürlich nur im Auslande erscheinen konnte, immer dringender geltend. Es kam hinzu, dass einzelne Parteimitglieder, die bis dahin in erster Reihe gekämpft hatten, wie Most und Hasselmann, eine anarchistische Gewalttaktik befürworteten; gewann diese Agitation zunächst auch nur einen geringen Einfluss, so konnte sie doch gefährlich werden, wenn die Gewaltstreiche der Regierung die Erbitterung der Massen zur Siedehitze steigerten. Zudem bot die „Freiheit", das erst in London, dann in der Schweiz als Wochenblatt erscheinende Organ dieser Richtung, den Lockspitzeln der Regierung einen willkommenen Unterschlupf für blutdürstige Phrasen, die dann von den preußischen Ministern im Reichstage benutzt wurden, um die verbrecherischen Pläne der Sozialdemokratie zu beweisen. Es ist urkundlich erwiesene Tatsache, dass die „Freiheit", die in jeder Nummer den Fürstenmord predigte, zeitweise sogar durch preußisches Polizeigeld am Leben erhalten worden ist.

Vom Oktober 1879 ab erschien in Zürich „Der Sozialdemokrat", ebenfalls eine Wochenzeitung. Er wurde von vornherein, was er werden sollte: ein Organ der Gesamtpartei; die enge und nahe Verbindung mit den deutschen Parteigenossen sicherte ihn vor den Gefahren der Emigrantenliteratur. Von Woche zu Woche drang er tiefer ins deutsche Parteileben ein, trotz aller polizeilichen Spürkünste, trotz der Hunderte von Haussuchungen, trotz aller postalischen Briefstiebereien7. In diesem Guerillakrieg schürzten sich die neuen Fäden der Organisation, die in den Sammlungen für die Ausgewiesenen angeknüpft worden waren, zu einem Gewebe, das, wie ein Staatsanwalt schon im Jahre 1880 klagte, wohl in einzelne Maschen aufgelöst, aber niemals zerrissen werden könne. Das hungernde und verachtete Proletariat erwies sich als der wirkliche Herr der modernen Produktiv- und Verkehrskräfte, mit deren Waffen es die historisch längst überlebte Polizeiwirtschaft spielend überwand.

Was noch niemals in der Geschichte gelungen war, das gelang jetzt mit unübertrefflicher Leichtigkeit und Sicherheit; ein verbotenes Auslandsblatt, dessen Verbreitung mit schweren Strafen bedroht war und dessen Wege von dem polizeilichen Heerbann eines großen Staates besetzt waren, wurde allwöchentlich in vielen tausend Exemplaren bis in die entlegensten Orte dieses großen Staates pünktlich vertrieben. Die Möglichkeit eines so beispiellosen Erfolges, den die modernen Produktions- und Verkehrsverhältnisse schufen, wurde zur Wirklichkeit durch ein ganzes Heer energischer, geschickter und unbedingt zuverlässiger Parteigenossen, deren Opfermut und Überzeugungstreue in desto hellerem Lichte strahlen, als sie wohl wussten, dass „kein Lied, kein Heldenbuch" künden würde, wie sorgsam sie ihre Parteipflicht erfüllt hätten.

Die politische Organisation der deutschen Arbeiterklasse war zertrümmert worden, aber ihre ökonomische Organisation konnte nicht vernichtet werden, es sei denn, dass die moderne Zivilisation aufgehoben wurde, der Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses, der die Arbeiterklasse vereint, schult und organisiert. Mit ihm waren tausend Mittel der schnellen Verständigung eröffnet, ohne dass zu dem gefährlichen und zweischneidigen Mittel einer hierarchisch gegliederten Geheimorganisation gegriffen zu werden brauchte. Jeder gemeinsame Arbeitstag in den großen Werkstätten der Industrie, jede Form geselliger Vereinigung, jeder Bildungs- und Leseverein, jeder Rauch- und Tanzklub, jeder sonntägliche Ausflug in Feld und Wald, jeder Spaziergang am Feierabend spottete aller polizeilichen Anstrengungen, die sozialdemokratische Organisation zu zerbrechen. Geheim war diese Organisation, die sich je nach den örtlichen Verhältnissen in der verschiedensten Weise gestaltete und jeder Form des Angriffes ihren siegreichen Widerstand anzupassen wusste, nur insoweit, als sie geheim sein musste, um dem Proletariat gleiches Recht mit den übrigen Bevölkerungsklassen zu sichern. Ebendeshalb war sie moralisch so unüberwindlich, wie sie ökonomisch unzerbrechlich war.

Dank dieser Organisation konnte die Sozialdemokratische Partei, als das zweite Jahr des Sozialistengesetzes zur Neige ging, wieder einen Parteitag vom 20. bis 28. August 1880 auf dem Schlosse Wyden in der Schweiz abhalten. Er schloss Most und Hasselmann aus der Partei aus und beseitigte die letzten Spuren der Verwirrung, die das Sozialistengesetz innerhalb der Partei angerichtet hatte: In der Hauptsache rüstete er für die Reichstagswahlen des nächsten Jahres, die die Entscheidung darüber bringen mussten, ob das Sozialistengesetz ein Schlag ins Wasser gewesen sei oder nicht.

Aus dem gleichen Grunde machte sich Bismarck für diese Wahlen stark. Er verlangte vom Reichstage die Verlängerung des Sozialistengesetzes bis zum Herbst 1884 und erhielt sie bewilligt; zu der konservativ-nationalliberalen Mehrheit gesellte sich jetzt schon eine Minderheit der Ultramontanen Partei. Dann berief er zum obersten Handhaber des Sozialistengesetzes den kassubischen Junker v. Puttkamer, eine gemeine und schäbige Polizeiseele, so großmäulig wie unwissend, aber tief von der konservativen Weisheit durchdrungen, dass die ausgesuchtesten Schufte die stärksten Stützen von Thron und Altar seien, einen Beschützer und Förderer des schamlosesten Lockspitzeltums. Wie der kleine Belagerungszustand über Berlin von Jahr zu Jahr erneuert wurde, so wurde er im Oktober 1880 über Hamburg, im Juni 1881 über Leipzig verhängt. In diesen drei Gebieten folgten sich die Ausweisungen Schub auf Schub; die sozialdemokratischen Wahlflugblätter wurden beschlagnahmt, mochte ihr Inhalt noch so harmlos sein, die Wahlversammlungen der Arbeiter unterlagen einem allgemeinen Verbote; in den letzten Wochen vor der Wahl wurden nicht weniger als 600 vollkommen unberechtigte Verhaftungen gezählt. Daneben ließ es Bismarck nicht an trügerischen Lockungen fehlen; er versprach den Arbeitern das Tabaksmonopol als „Patrimonium der Enterbten", wenn sie nur an seinen „Sozialismus" glauben wollten; dienstwillige Professoren gaben sich dazu her, diese wundersame Mär im Lande zu verbreiten.

Aber alle Mühe war umsonst; die Arbeiter wussten, was es galt, und bestanden die Generalprobe des Sozialistengesetzes als Männer. In der Hauptwahl gewannen sie 312.000 Stimmen; es waren 130.000 Stimmen weniger als bei den Attentatswahlen, aber keinem Gegner fiel es ein, auf diesen Unterschied zu pochen. Die allgemeine Bestürzung im bürgerlichen Lager bestätigte die historische Tatsache, dass die Sozialdemokratie sich als unbesiegbar erwiesen habe, wenn sie, seit drei Jahren mit allen Gewaltmitteln gehetzt, unterdrückt und verfolgt, dennoch ein Heer von mehr als dreimalhunderttausend Köpfen mustern konnte. Durch die Stichwahlen kam sie dann auch wieder in den Besitz von zwölf Mandaten, derselben Zahl, die sie vor dem Erlass des Sozialistengesetzes behauptet hatte.

5. Die milde Praxis

Auch sonst fielen die Reichstagswahlen von 1881 ungünstig für Bismarck aus. Seine nationalliberale Schutztruppe hatte sich im Jahre 1880 gespalten; unter dem Namen der Sezessionisten splitterte sich eine Fraktion der „geärgerten Freihändler" ab, die politisch lendenlahm genug blieb, aber für neue Erhöhungen des Zolltarifs nicht zu haben war. Sie näherte sich wieder der Fortschrittspartei, und beide Fraktionen gewannen über 100 Mandate, so dass Bismarck sowohl die konservativ-nationalliberale wie die konservativ-ultramontane Mehrheit verlor.

Er spielte den tief gekränkten Biedermann: Um der Bourgeoisie willen habe er das Sozialistengesetz erlassen, das die Arbeiterklasse gegen ihn erbittere. Nun aber mache die Bourgeoisie gemeinsame Arbeit mit den Arbeitern, ihren wirtschaftlichen Erbfeinden, deren unbequeme Ansprüche auf ökonomischem Gebiete sie nach wie vor zu vereiteln suche, während das Sozialistengesetz die Arbeiter hindere, die ihnen wohlwollenden Absichten der Regierung zu würdigen. Das sei eine angenehme Lage für die Bourgeoisie, solange sie vorhalte. Aber die Regierung werde durch die Befriedigung der gerechten Arbeiterforderungen den gesunden Kern der sozialistischen Idee verwirklichen, und dann sei das Sozialistengesetz überflüssig.

So begannen die Jahre der „milden Praxis", der Versuche, die Sozialdemokratie nicht mehr bloß mit der Peitsche, sondern auch mit dem Zuckerbrot zu zähmen, auf dem Wege der Korruption zu erreichen, was auf dem Wege der Gewalt misslungen war. Am 17. November 1881 wurde der neue Reichstag mit einer kaiserlichen Botschaft eröffnet, die ein Krankenkassen- und Unfallversicherungsgesetz ankündigte und für deren finanzielle Durchführung das Tabaksmonopol forderte. Gleichzeitig wurde der Arbeiterbewegung ein etwas größerer Spielraum gelassen, als sie in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes besessen hatte. Die Anfänge einer neuen gewerkschaftlichen Bewegung wurden geduldet, Arbeiterversammlungen und Arbeiterblätter nicht gleich von vornherein verboten; die Arbeiter mussten sprechen können, sei es auch nur, um der Regierung für deren „Wohltaten" zu danken, ihren „Verführern" zu fluchen und namentlich um die Bourgeoisie ins Bockshorn zu jagen. Freilich hörten deshalb die polizeilichen Schikanen überhaupt nicht auf; Ausweisungen, Verbote, Aufruhr-, Hochverrats-, Majestätsbeleidigungs-, Aufreizungs- und andere Kautschukprozesse blieben an der Tagesordnung; es gehörte zum Wesen der „milden Praxis", dass die Arbeiter keinen Augenblick vergessen durften, unter welchem Damoklesschwert sie lebten. Bismarck spann keine andere Nummer, aber einen anderen Faden polizeilicher Willkür.

Zu dieser neuen Lage der Dinge nahm die Sozialdemokratie ihre prinzipielle und taktische Stellung auf dem Parteitage, den sie vom 29. März bis zum 2. April 18828 in Kopenhagen abhielt. War die kaiserliche Botschaft vom November 1881 gewissermaßen eine Anfrage an die Arbeiterklasse, ob sie ihr politisches Erstgeburtsrecht preisgeben wolle für das Linsengericht einer verbesserten Armenpflege, einer gewissen Fürsorge für den kranken und den verunglückten Arbeiter, so antwortete der Kongress in Kopenhagen mit einem kategorischen Nein. Einstimmig und ohne jede Debatte wurde beschlossen, dass er nach dem bisherigen Verhalten der besitzenden Klassen weder an ihre ehrlichen Absichten noch auch an ihre Fähigkeiten glaube, vielmehr überzeugt sei, dass die angebliche Sozialreform nur als taktisches Mittel benutzt werde, um die Arbeiter vom richtigen Wege abzuleiten. Wohl aber sei es die Pflicht der Partei und ihrer parlamentarischen Vertreter, bei allen auf die ökonomische Lage des Volkes gerichteten Vorschlägen, gleichviel welchen Motiven sie entsprängen, die Interessen der Arbeiterklasse energisch wahrzunehmen, selbstverständlich ohne dabei auch nur einen Augenblick auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu verzichten.

Gemäß diesen Beschlüssen beteiligte sich die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages an der Beratung des Kranken- und des Unfallversicherungsgesetzentwurfes, die Bismarck einbrachte. Sie sah darin keine sozialen Reformen im historischen Sinne des Wortes, sondern nur Versuche, das Proletariat durch eine materielle Verbesserung seiner Lage von seiner historischen Aufgabe abzulenken, aber sie tat ihr Bestes, diese Reform der Armenpflege in vernünftiger Weise auszugestalten. Sie verlangte, dass die Unfallversicherung von den Unternehmern allein als ein Teil ihrer Produktionskosten getragen würde, ohne dass die Unternehmer deshalb aus den Kassen des Staates oder den Taschen der Arbeiter eine Entschädigung beanspruchen dürften, dagegen wollte sie die Krankenversicherung ganz und gar auf die Schultern der Arbeiter legen, die dafür nichts verlangten, als was für alle übrigen Klassen der Gesellschaft selbstverständlich sei: die selbständige Verwaltung ihrer Krankenkassen. Für diese bescheidenen und logischen Forderungen hatte die bürgerliche Reichstagsmehrheit aber nur taube Ohren; sie verkoppelte die Kranken- und die Unfallversicherung in der zweckwidrigsten Weise, um ein bourgeois-bürokratisches Ungetüm von Organisation zu schaffen, worin die Arbeiter so wenig wie die Beamten und Unternehmer viel zu sagen hatten. Hiergegen stimmten die sozialdemokratischen Abgeordneten pflichtgemäß, weshalb sie von Bismarck und seinen Tintenkulis als Arbeiterfeinde denunziert wurden, ohne dass dieser demagogische Kniff bei den Arbeitermassen je verfangen hätte.

Auch sonst erwiesen sich diese Massen völlig immun gegen die moralische und politische Seuche, die durch die „milde Praxis" in ihren Reihen entfacht werden sollte. Sie wurden durch dies launenhafte Willkürregiment sogar noch mehr erbittert als durch das frühere schonungslose Verfolgungssystem, das in all seiner Verwerflichkeit wenigstens noch den Vorzug der Offenheit besessen hatte. Es wurde in den Arbeiterkreisen zum geflügelten Worte: Bismarcks Zuckerbrot verachten wir, seine Peitsche zerbrechen wir.

Nicht entfernt auf gleicher Höhe hielt sich die liberale Opposition. Sie bekämpfte das Tabaksmonopol, das auch ohne sie nicht durchzusetzen gewesen wäre, aber in allen politischen Fragen trieb sie eine ungemein schwächliche Politik. Es war denn auch ein sehr dürftiges Programm, auf das sich im Frühjahr 1884 die Fortschrittler und die Sezessionisten zur Freisinnigen Partei zusammenschlössen. Die Anregung dazu kam keineswegs aus den Wählermassen, sondern die Parlamentarier der beiden Fraktionen hatten die Einigung hinter den Kulissen abgekartet, wie alle Welt wusste, als Morgengabe für den angeblich „liberalen" Kronprinzen, dessen Thronbesteigung bei dem hohen Alter des Kaisers jeden Tag erfolgen konnte. Unter den fortschrittlichen Wählern erhob sich sogar etwelches Murren über die neue Abschwächung des Programms, doch wurde es von den Führern damit beschwichtigt, dass die neuen sezessionistischen Freunde nunmehr gegen das Sozialistengesetz stimmen und es dadurch stürzen würden, getreu der Forderung des neuen Programms: Gleichheit vor dem Gesetze ohne Ansehen der Person und der Partei.

Es war ganz richtig, dass hier die Entscheidung lag: Unter der Versumpfung des öffentlichen Lebens durch das Sozialistengesetz hatte der Liberalismus viel mehr zu leiden als die Sozialdemokratie. Aber das wusste auch Bismarck, und obgleich das Sozialistengesetz erst im Herbst 1884 ablief, spielte er der jungen Partei schon in ihren Flitterwochen, im Frühjahre dieses Jahres, zum Tanze auf. Er drohte mit neuen Attentatswahlen, wenn das Gesetz nicht auf zwei Jahre verlängert werden würde, und er begann sofort, die offiziöse Wahlmaschine spielen zu lassen. Da brach die bürgerliche Opposition zusammen, obgleich sie den Sieg in der Hand hatte; neben 39 Ultramontanen fielen 27 Freisinnige um, ehemalige Sezessionisten, aber auch die ehemaligen Fortschrittler ließ Eugen Richter zur größeren Sicherheit für die entscheidende Abstimmung abkommandieren; der urkundliche Beweis dafür liegt vor und kann mit allem heftigen Leugnen nicht aus der Welt geschafft werden.

Damit war der Freisinnigen Partei, ehe sie noch den ersten Schritt ins Leben tun konnte, das Rückgrat zerbrochen. Aber da Bismarck gern mehr als eine Sehne auf seinen Bogen spannte, so ließ er für die neuen Reichstagswählen, die im Herbst 1884 stattfanden, noch die Kolonialpolitik, deren abgesagter Gegner er bis dahin gewesen war, als Wahltrick ausrufen. Diesmal hütete er sich vor dem Tabaksmonopol und ähnlichen verfänglichen Wahlparolen; er schwärmte für die Sozialreform und die Kolonialpolitik und bekämpfte den vaterlandsverräterischen Freisinn, der die deutsche Nation um solche Herrlichkeiten bringen wolle. So jagte er der Freisinnigen Partei etwa 40 Mandate ab, weit über ein Drittel ihres Besitzstandes; über 30 davon fielen an die Konservativen, und Bismarck hatte zunächst wieder eine konservativ-ultramontane, wenn auch noch keine konservativ-nationalliberale Mehrheit.

Wie sich in diesen Wahlen an der bürgerlichen Opposition eine feige und schwankende Politik rächte, so lohnte sich in ihnen an der proletarischen Opposition eine konsequente und tapfere Politik. Die Sozialdemokratie gewann an Sitzen und Stimmen mehr, als sie jemals besessen hatte: 24 Mandate und in runder Summe 550.000 Stimmen. Sie war bei diesen Wahlen nicht ganz so arg bedrängt worden wie 1878 und 1881, doch wurzelte nicht sowohl hierin ihr größerer Erfolg als vielmehr darin, dass sie nun auch wieder auf dem Boden vordrang, den der großindustrielle Kehrbesen noch nicht geebnet hatte: in die kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten, die nachgerade alle bürgerlichen Heilmittel des sozialen Elends durchgekostet hatten, den Freihandel wie den Schutzzoll, die liberale Manchesterei wie die reaktionäre Zünftlerei, und dabei nur immer tiefer in den Sumpf geraten waren, deren gesundeste und tüchtigste Elemente sich mit dem Gedanken vertraut zu machen begannen, dass nur die Radikalkur der Sozialdemokratie ihnen helfen könne, oder doch einsahen, dass alle Beschwerden der Unterdrückten nirgends als an dieser prinzipienklaren und prinzipientreuen Partei einen festen Halt fänden. Von diesen Wahlen datiert namentlich die feste Ansiedlung der Partei in dem alten Bauernlande Bayern, dem zweitgrößten Staat des Reiches.

Gleichwohl gab Bismarck seine Hoffnung auf ein „Damaskus" der Sozialdemokratie noch nicht auf. Es ging ihm, wie es allen Machthabern zu gehen pflegt, die für ihre eigennützigen Zwecke die Presse zu korrumpieren pflegen: Sie glauben schließlich selbst an die Lügen ihrer Soldschreiber. Gerade auch das Eindringen der Partei in kleinbürgerliche Schichten mochte die Hoffnung nähren, dass sie nun eher mit sich reden lassen werde, und diese Hoffnung wurde dadurch bestärkt, dass sich in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die stark genug geworden war, um eigene Anträge einzubringen, manche taktischen Meinungsverschiedenheiten geltend machten, die im Sommer 1885 sogar wegen der verhältnismäßig untergeordneten Frage der Dampfersubvention zu scharfen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit führten. Genug, als der neue Reichstag im November 1885 zusammentrat, wünschte Bismarck der Sozialdemokratie zu ihren zwei Dutzend Mandaten noch ein drittes Dutzend und nannte sie „ein ganz nützliches Element", ohne das die mäßigen Fortschritte, die bisher gemacht worden seien, auch noch nicht gemacht sein würden. Selbst Puttkamer schnitt der Partei, die nach seiner Behauptung „in weniger revolutionäre Bahnen" eingelenkt sein sollte, ein möglichst freundliches Gesicht und behauptete zur Abwechslung, das Sozialistengesetz richte sich nicht gegen sie, sondern nur gegen die anarchistische Gruppe, die vor keinen Mordtaten zurückschrecke.

Indessen zu solchen Redereien stimmten die Taten der Regierung sehr schlecht. Die sozialdemokratischen Wahlerfolge hatten das politische Gewissen der bürgerlichen Parteien geschärft; mit der einzigen Ausnahme der Freisinnigen Partei brachten alle mehr oder minder weitgehende Anträge zur Ausbildung eines gesetzlichen Arbeiterschutzes ein. Jedoch sie stießen damit auf den hartnäckigen Widerstand Bismarcks, der in dieser Frage den verbohrtesten Manchesterstandpunkt vertrat, in holdem Wetteifer mit seinem angeblichen Todfeinde Eugen Richter. Stattdessen pflanzte Bismarck die Züchtung von Millionären als sein Banner auf und richtete in der ersten Session des neuen Reichstages eine zweite Auflage der schutzzöllnerischen Orgie von 1879 an. Da die Wölfe sechs Jahre gedarbt hatten, so stürzten sie mit heißem Hunger auf die konsumierenden Massen. Die Getreidezölle wurden verdreifacht, die Holzzölle verdoppelt, die Vieh-und Branntweinzölle wurden erhöht und ebenso eine große Zahl industrieller Zölle. Die Session, die unter dem angeblichen Zeichen der „Sozialreform" begonnen hatte, endete mit einem „Raubzuge am arbeitenden Volke", wie die sozialdemokratische Fraktion erklärte.

Ihr unerschütterlicher Widerstand gegen die Massenplünderung begann nachgerade Bismarcks Augen zu öffnen. Es kam hinzu, dass die Mindestforderungen, die auch der „rechte Flügel" der Sozialdemokratie stellte: Beseitigung des Sozialistengesetzes, unbeschränkte Koalitionsfreiheit, Arbeiterschutzgesetzgebung nach englischem Muster, ihm im Grunde noch viel verhasster waren als selbst die Forderung des Gemeineigentums an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, da sie seinem über alles geliebten Profit viel unmittelbarer auf den Leib rückten. Endlich erhielt die „milde Praxis" den Gnadenstoß, als im Frühjahr 1886 die sozialdemokratische Fraktion ein grelles Schlaglicht auf das infame Lockspitzelsystem warf, indem sie einen etatsmäßig angestellten Beamten des Berliner Polizeipräsidiums ans Tageslicht zog, der sich unter falschem Namen in einen unter dem Sozialistengesetze geduldeten Arbeiterverein eingeschlichen hatte, um zu Dynamitattentaten aufzureizen.9

Im Frühjahr 1886 war die Methode der Korruption ebenso bankrott wie im Herbst 1881 die Methode der rechtlosen Gewalt.

6. Bismarcks Sturz

Das System Bismarck-Puttkamer versuchte es nun nochmals, sich durch eine schrankenlose Polizeiwirtschaft aufrechtzuerhalten.

Der erste Gewaltstoß galt der gewerkschaftlichen Bewegung; am 11. April 1886 erschien der Streikerlass Puttkamers, der unter der famosen Begründung, dass hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauere, die Koalitionsfreiheit gänzlich abzuwürgen unternahm. Die politische Bewegung der Arbeiter aber wurde durch eine Fülle von Geheimbundsprozessen auszurotten gesucht, bei denen eine willfährige Justiz die eigentliche Henkersarbeit verrichten sollte. Neben diesen Hauptschlägen brach eine unabsehbare Masse der mannigfachsten Schikanen über die Arbeiterklasse herein.

Der Reichstag trug, wie selbst dies oder jenes bürgerliche Blatt anerkannte, ein gehäuftes Maß der Mitschuld daran, dass die polizeiliche Willkür also ins Grenzenlose wuchs. Er hatte nicht den Mut, gegen den Streikerlass zu protestieren, und ebenso wenig den Mut, die Verlängerung des Sozialistengesetzes bis zum Herbst 1888 abzuschlagen. Aber das Schnapsmonopol10, das Bismarck von ihm verlangte, lehnte er doch ab; selbst die Junker wagten nicht dafür zu stimmen aus Furcht vor der anwachsenden Empörung der Massen über ihre gewerbsmäßige Plünderung. Insoweit war diese Zitrone ausgepresst, und Bismarck sann darauf, sich einen neuen Reichstag zu schaffen, der wie Wachs in seiner Hand sei; er bedurfte seiner auch für den Thronwechsel, der unmöglich noch lange auf sich warten lassen konnte; er wusste, dass der Thronfolger ihn nicht liebte und gar „liberaler" Neigungen verdächtig war.

Das Schnapsmonopol war nun aber keine zugkräftige Wahlparole, und für dieses Mal ließ sich auch nicht der rote Schrecken missbrauchen, da der Reichstag sich in allem, was die Sozialdemokratie betraf, willfährig erwiesen hatte. So wählte Bismarck den Militärschrecken, um die Wähler einzuseifen. Er brachte im November 1886 eine Vorlage ein, die eine nicht unbeträchtliche Erhöhung des Militäretats und seine Bewilligung auf sieben Jahre verlangte. Die bürgerliche Opposition, Fortschrittler wie Ultramontane, bewilligte ihm nun zwar „jeden Mann und jeden Groschen", die er forderte, aber nicht auf sieben, sondern nur auf drei Jahre, und obgleich sie schließlich auch in diesem Punkte nachgegeben haben würde, so löste Bismarck sofort nach der ersten Abstimmung der zweiten Lesung den Reichstag auf und beraumte die Neuwahlen auf den Faschingstag des Jahres 1887 an.

Der Wahlkampf war durch die Schwäche der bürgerlichen Opposition von vornherein verfahren worden. Mit der beiläufigen Frage: drei oder sieben Jahre? ließen sich große Wählermassen schwer auf die Beine bringen. Bismarck fand einen viel durchschlagenderen Trumpf in der Frage: Krieg oder Frieden? Während der ganze Regierungsapparat aufgeboten wurde, um die Wahlagitation der liberalen Parteien lahmzulegen, arbeitete die ganze offizielle und offiziöse Presse daran, bis in die entlegenste Hütte des Reiches die Lüge zu verbreiten, dass dem Siege der Oppositionsparteien eine französische Kriegserklärung an das nunmehr entwaffnete Deutschland auf dem Fuße folgen werde. Unterstützt wurde der erbärmliche Schwindel durch die Konservativen und die Nationalliberalen, die sich zum Kartell zusammenschlossen, durch dasselbe Bündnis des Großgrundbesitzes und der Großindustrie, das zehn Jahre früher die wirtschaftliche Reaktionsperiode eingeleitet hatte.

Die einzige Oppositionspartei, die weder einen Mann noch einen Groschen bewilligte und den Kampf in voller prinzipieller Schärfe aufnahm, war die Sozialdemokratie. Sie hatte unter ähnlichen schwierigen Umständen zu kämpfen wie 1878 und 1881; außer über Berlin, Hamburg und Leipzig wurde der kleine Belagerungszustand auch über Frankfurt a. M. und Stettin verhängt. Wiederum lohnte sich ihre tapfere Haltung; sie musterte etwas über dreiviertel Millionen Stimmen, wenngleich sie nur elf Mandate eroberte, dank namentlich der Feigheit, womit bei den Stichwahlen die Freisinnigen ins Lager des Kartells überliefen, um den Sieg der sozialdemokratischen Kandidaten zu vereiteln.

Allein noch wurzelte sie nicht tief genug in den Massen, um diese schon immun zu machen gegen den Appell an die Furcht, womit Bismarck arbeitete. Er gewann in den Faschingswahlen eine Kartellmehrheit und hatte nun auf drei Jahre freie Hand. Der neue Reichstag bewilligte ihm nicht nur sofort die Militärvorlage, sondern auch eine Erhöhung der Branntweinsteuer um jährlich mehr als 100 und der Zuckersteuer um jährlich etwa 40 Millionen, daneben aber auch noch aus den Taschen der Steuerzahler eine jährliche Liebesgabe von 40 Millionen für die Schnapsbrenner und von 30 Millionen für die Zuckersieder.

Im Oktober 1887 hielt die Sozialdemokratie ihren dritten Parteitag unter dem Sozialistengesetz in St. Gallen ab; es war ein neuer schmerzlicher Schlag für Bismarck, dessen Geheimbundsprozesse nicht zuletzt darauf abzielten, neben dem Parteiorgan auch die Parteikongresse lahmzulegen. Der Kongress zeigte die Reihen der Partei so ungebeugt und ungebrochen wie je; hatte es überhaupt einen „rechten Flügel" gegeben, so war er spurlos verschwunden. Bismarck rächte sich, indem er einen Monat später in der zweiten Session des Kartellreichstags neben anderen reaktionären Gesetzentwürfen – der Erhöhung der Brotzölle von drei auf fünf Mark und der Erstreckung der Gesetzgebungsperioden von drei auf fünf Jahre – den Antrag einbrachte, das Sozialistengesetz auf fünf Jahre zu verlängern, und zwar unter kannibalischen Verschärfungen. Insbesondere sollte allen wegen Geheimbündelei Verurteilten sowie allen Teilnehmern an sozialdemokratischen Kongressen, die im Auslande abgehalten würden, die Staatsangehörigkeit entzogen werden können.

Indessen die sozialdemokratische Fraktion zertrümmerte dies „Ächtungsgesetz" mit einem Schlage durch eine umfassende Enthüllung der Korruptions- und Spitzelwirtschaft, durch die das System Bismarck-Puttkamer nicht nur das ganze Deutschland, sondern auch das halbe Europa verseuchte. Unter dem Eindruck dieser beispiellosen Schmach brach selbst das Kartell auseinander; die Nationalliberalen erklärten als ihre äußerste Bereitwilligkeit, das Sozialistengesetz, so wie es lag und stand, nochmals auf zwei Jahre zu bewilligen. Am 18. Februar 1888 wurde es zum vierten und letzten Male bis zum 30. September 1890 verlängert.

Wenige Wochen darauf starb der alte Kaiser, und sein Nachfolger bestieg den Thron. Kaiser Friedrich war inzwischen ein todkranker Mann geworden; wenn er keinen Gefallen an dem System Bismarck-Puttkamer fand, so besaß er doch nicht die Kraft, es zu ändern. In den hundert Tagen seiner Regierung führte Bismarck einen neuen Gewaltstreich aus, die Vertreibung des „Sozialdemokrat" aus der Schweiz, die er durch einen heftigen Druck auf die schweizerische Regierung erreichte. Aber auch dieser Streich war ein Schlag ins Wasser; das Blatt siedelte nach London über, und seine Verbreitung in Deutschland wurde erfolgreicher durchgeführt als je. Das einzige, was Kaiser Friedrich erreichte, war die Beseitigung Puttkamers, den er, schon im Sterben, mit einem tausendfach verdienten Fußtritte davonjagte.

Ihm folgte Wilhelm II., unter dem Bismarck zunächst wieder freie Hand hatte. Aber da es für seinen Größenwahn keine Umkehr gab, so begann er den Bogen so zu überspannen, dass seiner getreuesten Gefolgschaft angst und bange wurde. Eine Reihe von Blamagen, namentlich auch ein Krakeel mit der Schweiz, die bei aller Nachgiebigkeit doch einen preußischen Polizeibeamten ausgewiesen hatte, der auf ihrem Boden lockspitzelte, erschütterten selbst seinen diplomatischen Ruf. Die Kartellratten begannen unruhig auf dem Schiffe hin und her zu rennen, das offensichtlich zwischen die Klippen geriet, und die ultramontane Presse fand das geflügelte Wort: Es gelingt nichts mehr.

Als letzten Rettungsanker betrachtete Bismarck die „militärische Lösung" der Arbeiterfrage, die Erstickung der Arbeiterbewegung in Strömen von Blut. Zwar hatten die Arbeiter genugsam gezeigt, dass sie sich durch keine Lockspitzelei vor die Kleinkalibrigen jagen ließen, um ein bankrottes System wieder zahlungsfähig zu machen. Allein Bismarck rechnete damit, dass er sie auf die Straße treiben würde, wenn er ihnen durch einen Staatsstreich das allgemeine Wahlrecht raubte. Diesen Staatsstreich aber bereitete er vor, indem er im Oktober 1889 dem Kartellreichstage einen Gesetzentwurf vorlegte, der das Sozialistengesetz verewigen sollte, mit Verstärkung der „richterlichen Garantien" und ein paar anderen Milderungen derselben komischen Art. Bismarck wusste, dass die Nationalliberalen hierauf nicht eingehen würden, da das „Unglücksgesetz", das die Sozialdemokratie immer gewaltiger anschwellen ließ, auch in liberalen Kreisen arg verrufen war. Immerhin dachten sie noch kläglich genug, für ihre Zustimmung zur Verewigung des Gesetzes nicht mehr zu verlangen als den Verzicht auf die polizeilichen Ausweisungsbefugnisse des Paragraphen 28, die sich von allen zweischneidigen Bestimmungen des Gesetzes als die zweischneidigsten erwiesen hatten und selbst schon bei den beschränktesten Polizeiseelen anrüchig geworden waren. Selbst die Junker waren bereit, für das also „gemilderte" Gesetz zu stimmen, und auch der Kaiser befürwortete seine Annahme im Kronrat. Bismarck aber widersetzte sich, nicht jedoch so, dass er öffentlich und offiziell das „gemilderte" Gesetz für unannehmbar erklärte, sondern hinter den Kulissen die Junker durch zweideutige Redensarten ermunterte, gegen das Gesetz zu stimmen, falls die polizeilichen Ausweisungsbefugnisse des Paragraphen 28 gestrichen würden. Und als dies in zweiter Lesung geschah, stimmten die Konservativen in dritter Lesung gegen das Gesetz, das also am 25. Januar 1890 fiel, um nicht wieder aufzuerstehen.

So hatte Bismarck die Intrige angelegt, um den Schein hervorzurufen, dass selbst dieser Reichstag ohne jede Schuld der Regierung die notwendigen Waffen der Abwehr gegen die grundstürzenden Pläne der Sozialdemokratie verweigert habe, und damit war im Sinne Bismarcks das allgemeine Wahlrecht schwer kompromittiert. Aber auf dieser ersten Etappe seiner Staatsstreichpläne erfuhr Bismarck schon den Widerspruch des Kaisers, der die Sozialdemokratie von Grund seiner Seele hasste, jedoch aus einem richtigen Instinkt der Selbsterhaltung nicht gleich bei Beginn seiner Regierung die Rolle des „Kartätschenprinzen" übernehmen wollte. Ohnehin waren ihm Bismarcks Hausmeiermanieren längst auf die Nerven gefallen, und, frei von dessen Borniertheit in den Fragen des gesetzlichen Arbeiterschutzes, hoffte der Kaiser, die neuen Reichstagswahlen durch zwei Erlasse günstig zu beeinflussen, von denen der eine die Fortbildung der Arbeiterschutzgesetzgebung, namentlich die Beschränkung der Arbeitszeit, der andere aber die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz versprach.

Die Entscheidung fiel nicht durch den Kaiser und nicht durch den Kanzler, sondern durch die Arbeiterklasse, die am 20. Februar 1890 nahe an anderthalb Millionen Stimmen aufbrachte und so in reißendem Strom das ganze System Bismarck wegschwemmte, dessen Träger wenige Wochen darauf ruhmlos fiel. Es war ein weltgeschichtliches Ereignis, das eine neue Geschichtsperiode eröffnete; denn so reich an menschlichem Heldentum die Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert gewesen sind, so hatte doch zum ersten Male eine Arbeiterpartei in einem klug, konsequent und kühn geführten Kampf von zwölf Jahren einen Großstaat mit seinen ungeheuren Machtmitteln besiegt.

Freilich hatte sie schwere Opfer bringen müssen. Nach einer längst nicht erschöpfenden Statistik waren unter dem Sozialistengesetz 1300 periodische oder nicht periodische Druckschriften und 332 Arbeiterorganisationen der einen oder der anderen Art verboten worden; Ausweisungen aus den Belagerungsgebieten waren gegen 900 erfolgt, von denen über 500 die Ernährer von Familien betroffen hatten; die Höhe der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen belief sich auf etwa 1000 Jahre, die sich auf 1500 Personen verteilten.

Aber diese Opfer waren nicht umsonst gebracht worden. Unter dem Sozialistengesetz stiegen die Reichstagsstimmen der Partei um eine Million, stieg die Mitgliederziffer der gewerkschaftlichen Organisationen von 50.000 auf 200.000. Die deutsche Arbeiterklasse war in den Schwerpunkt der historischen Entwicklung gerückt, aus dem sie keine Macht der Welt mehr verdrängen konnte. Ihr Schicksal wurde das Schicksal der Nation, das sich nie, solange es eine deutsche Geschichte gibt, in festeren und treueren Händen befunden hat.

Quellen. Leipziger Hochverratsprozess, im Berliner Parteiverlage. Ebenda: Auer, Nach zehn Jahren. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.

1 ultramontan (lat.) – jenseits der Berge, d. h. der Alpen. Der Ultramontanismus war eine äußerst reaktionäre Richtung des Katholizismus, die jedes nationalkirchliche Bestreben ablehnte und das päpstliche Recht der Einmischung in die innere Angelegenheiten jedes Staates verfocht. Der zunehmende Einfluss des Ultramontanismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerte sich u. a. in der Bildung katholischer Parteien in verschiedenen europäischen Staaten und in der Proklamation des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes durch das Vatikanische Konzil im Jahre 1870.

2 Diese Ansicht Mehrings ist unrichtig. Das auf dem Kongress in Gotha angenonmene Parteiprogramm entsprach nicht der Bedeutung der Vereinigung. Maßgebliche Führer der Sozialdemokratie missachteten die grundsätzliche Kritik von Marx und Engels am Programm und gaben es als ein revolutionäres Dokument aus. Die Annahme des neuen Parteiprogramms in Gotha belastete die weitere Entwicklung der Partei.

3 Unter der Regierung des römischen Kaisers Diokletian (284-305 u. Z.) wurden in den Jahren 303 und 304 vier Edikte gegen die Christen erlassen, die eine grausame Verfolgung einleiteten.

4 Am 9. Mai 1904 wurde der „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie" von führenden Vertretern der Schwerindustrie, der Banken und schon bestehender imperialistischer Propagandaorganisationen (Alldeutscher Verband) gegründet. Wegen der Verlogenheit, der politischen Skrupellosigkeit und Unsachlichkeit seiner Agitation gegen alles Fortschrittliche wurde er von den Arbeitern treffend „Reichslügenverband" genannt.

5 Anspielung auf die „Volksabstimmungen", die Louis Bonaparte veranstalten ließ.

6 Aeolus — nach der griechischen Mythologie Sohn des Poseidon, von Zeus zum König der Winde bestellt.

7 Bezieht sich auf Stieber, der einer der Organisatoren und Hauptzeuge im Kölner Kommunistenprozess war.

Alle „Dokumente" in diesem Prozess erwiesen sich als polizeiliche Fälschungen. „Die Furcht der Regierung vor einer Enthüllung war so groß, dass sie nicht nur die Post veranlasste, alle an die Verteidigung adressierten Dokumente zurückzuhalten, sondern diese auch durch Stieber mit der Drohung einer strafrechtlichen Verfolgung wegen ihrer 'kriminellen Verbindung' mit den Unterzeichneten einschüchtern ließ." (Marx/Engels: Erklärung zum Abschluss des Kölner Prozesses. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 8, S. 396.)

8 Der Kongress fand vom 29. März bis 2. April 1883 statt.

9 Gemeint ist die 1886 beziehungsweise 1888 erfolgte Entlarvung der Lockspitzel Naporra und Ihring. (Siehe dazu Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 2 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1960, S. 628/629.)

10 Das Schnapsmonopol war dazu bestimmt, die Taschen des Fiskus und der Junker zu füllen. Die Rohproduktion des Branntweins sollte von der Monopolisierung ausgeschlossen sein, und den Produzenten, den Junkern, sollte ein Durchschnittspreis von 35 Mark für den Hektoliter gesichert werden, während der Marktpreis 24 Mark betrug. Bismarck selber ließ auf seinen Gütern monatlich 900 Hektoliter brennen.

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