Zweiter Abschnitt

ZWEITER ABSCHNITT

Der preußische Staat und die klassische Literatur

1. Das moderne Europa

Mit dem Dreißigjährigen Kriege schloss die deutsche Reformation ab. Von nun an, bis zum Beginn der Französischen Revolution im Jahre 1789, durch fast anderthalb Jahrhunderte, schied die deutsche Nation aus den großen Welthändeln aus. Die folgenreichsten Ereignisse, die sich während dieses Zeitraumes in Deutschland vollzogen, die Entstehung des preußischen Staats und die Entstehung der klassischen Literatur, standen mehr oder weniger unter dem Einfluss des Auslandes.

Die Verlegung des Welthandels von den Gestaden des Mittelländischen Meeres an die Ufer des Atlantischen Ozeans, dasselbe weltgeschichtliche Ereignis, das in entscheidender Weise zur Verarmung Deutschlands beitrug, hatte in erster Reihe die Königreiche Spanien und Portugal gefördert. Die Spanier entdeckten im Jahre 1492 Amerika und die Portugiesen im Jahre 1498 den Seeweg nach Ostindien. So wurde namentlich Spanien die Weltmacht des 16. Jahrhunderts, das Reich, worin die Sonne nicht unterging. Seine Kolonien in Amerika, Afrika und Asien trugen ihm unermessliche Schätze ein. Aber der kapitalistische Absolutismus, der in Spanien und Portugal herrschte, begriff nicht, dass die nationale Arbeit die eigentliche Quelle des nationalen Wohlstandes sei; er unterdrückte die spanischen Städte und rottete die Mauren aus, die kundigsten Ackerbauer und gewerbfleißigsten Handwerker im Lande, in deren Händen sich die Baumwollen- und Zuckerkultur, die Papier- und Seidenindustrie befand. Es geschah unter ideologischen Vorwänden religiöser Unduldsamkeit, aber tatsächlich aus dem Bestreben der Weltdespoten und ihrer junkerlich-pfäffischen Höflinge, alles zu zerstören, was die Nation arbeitsam, unabhängig und deshalb rebellisch gegen die Regierung der Faulenzer machen konnte. Mit der Vertreibung der Mauren entarteten Fabriken und Künste, und ungeheure Strecken Landes blieben unbebaut; als der spanische König Philipp II. im Jahre 1598 starb, hinterließ er neben einem entehrten Namen eine ungeheure Schuldenlast und ein ausgesogenes, in Elend, Schmutz und Unwissenheit hinsiechendes Volk, dessen Kopfzahl während seiner Regierung von zehn auf acht Millionen gesunken war.

Nicht so wie in Spanien war es ihm gelungen, die Anfänge bürgerlicher Kultur in Holland auszurotten, das damals unter spanischer Oberhoheit stand. Die niederländischen Städte erhoben sich unter dem Banner des Calvinismus gegen ihn und erkämpften ihre Unabhängigkeit. Indem sie die Weltpolitik des kapitalistischen Absolutismus bedrängten, eröffneten sie die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals, die im 17. Jahrhundert ihre klassischen Vertreter in Holland und England, im 18. Jahrhundert in England und Frankreich fand. Das bürgerliche Handelskapital war über die junkerlich-pfäffische Torheit hinaus, dass die Arbeit der eigenen Nation missachtet werden könne, wenn ihre herrschenden Klassen nur über die Schätze fremder Weltteile geboten; indem die holländischen Kaufleute die spanischen und portugiesischen Kolonien an sich rissen, hörten sie nicht auf, die einheimische Industrie zu fördern; die fleißigen und intelligenten Arbeiter, die der kapitalistische Absolutismus aus anderen Ländern vertrieb, fanden in Holland eine gastliche Stätte. Jeder Winkel des Landes summte wie ein Bienenkorb; die Bodenkultur, die unzähligen Kanäle, die immer geschäftigen Mühlen, die endlosen Flotten von Barken, die großen und reichen Städte, die von unzähligen Masten starrenden Häfen machten aus Holland ein Land, das im siebzehnten Jahrhundert seinesgleichen nicht hatte. Mit dem bürgerlichen Gewerbefleiß erhob sich mächtig Kunst und Wissenschaft, wofür die Namen des Malers Rembrandt, des Philosophen Spinoza, des Rechtsgelehrten Grotius zeugen.

Aber wenn die holländischen Kaufleute die Arbeit der Nation nicht mehr missachteten, so sahen sie doch auch noch nicht in ihr die Quelle des Völkerreichtums; der Handelsprofit blieb der Moloch, dem sie alles opferten. Indem sie für sich freien Handel bis zur Hölle verlangten, kehrten sie gegen die übrigen Völker Europas einen engherzigen, krämerischen Monopolgeist heraus. Dadurch wurden sie gezwungen, eine ungeheure Land-und Seemacht zu unterhalten, die die Kräfte des kleinen Landes aufzehrte. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts begann England die Niederlande zu überflügeln, und erst in England gelangte die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals auf ihre volle Höhe. Als England seine Weltpolitik begann, hatte die nationale Arbeit, Ackerbau, Handwerk, Manufaktur, schon viel zu tiefe Wurzeln geschlagen, um jenes wucherische Aufschießen des Großhandels zuzulassen, das in Holland einen glänzenden Aufschwung und einen schnellen Verfall herbeigeführt hatte. Hatte die holländische Weltpolitik damit begonnen, dass waghalsige Kaufleute das Joch des spanischen Despoten zerbrachen, um dann die eigene Nation auszuwuchern, so begann die englische Weltpolitik damit, dass kräftige Bauern und Handwerker das Joch ihres heimischen Despoten zerbrachen und die trotz alledem unzerstörbaren Grundlagen der bürgerlichen Freiheit errichteten.

Es geschah in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, die gegen die tyrannische Diktatur des Königs Karl I. ausbrach und, nachdem alle gesetzmäßigen Formen des Widerstandes an der unbelehrbaren Hartnäckigkeit dieses Despoten gescheitert waren, in seiner Hinrichtung im Jahre 1649 gipfelten. Hinfort hatte das englische Parlament das Heft in der Hand; ohne seinen Willen konnte kein König mehr eine Flotte oder ein Heer rüsten, und ihrer bürgerlich freien Verfassung verdanken die Engländer, dass sie den Schlussstein in die Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals fügen, nicht bloß Handels-, sondern auch Ackerbaukolonien gründen, dass ihre Kolonien nicht nur von zehrender Ausbeutung, sondern auch von schaffender Arbeit leben konnten. Mit der Besiedlung Nordamerikas vollbrachten sie die für die menschliche Gesittung folgen-und segensreichste Tat, die von der Weltpolitik des bürgerlichen Handelskapitals vollbracht worden ist.

Anders als in Holland und England gestaltete sich diese Politik in Frankreich. Es hatte dem spanischen Nebenbuhler nicht zuletzt deshalb den Vorsprung auf dem europäischen Festlande abgewonnen, weil die französische Monarchie die französischen Städte nicht brandschatzte, sondern als wertvolle Hilfstruppen gegen die feudalen Stände des Adels und der Geistlichkeit zu benutzen verstand. Aber das Blatt wandte sich, als die europäische Hegemonie durch den Westfälischen Frieden nun wirklich an Frankreich fiel. Der junge König Ludwig XIV. wurde in seiner neuen Machtstellung von Weltmachtskitzel ergriffen; er bildete den modernen Absolutismus in so raffinierter Weise aus, dass er seine allerhöchste Person für den Staat selbst erklärte; unfähig, die historisch treibenden Kräfte des nationalen Lebens zu erkennen, versöhnte er sich mit den feudalen Ständen, die nun gern zu Hofe gingen, um den Preis, dass ihnen die arbeitenden Klassen des Volkes zur beliebigen Plünderung überlassen würden. Die Schmarotzer des Hofadels zerstörten für die unsinnigsten Verschwendungszwecke den erarbeiteten Wohlstand der Nation, unterstützt von den Schmarotzern des Hofpfaffentums, auf dessen Betrieb Ludwig XIV. die gewerbfleißigsten Bewohner des Landes, die Hugenotten, ebenso vertrieb, wie Philipp II. die Mauren vertrieben hatte.

Immer aber war Frankreich noch die vorherrschende Macht auf dem europäischen Kontinent; nur in Österreich, das sich von der Niederlage des Dreißigjährigen Krieges durch glänzende Siege über die Türken erholt hatte, besaß es einen ebenbürtigen Nebenbuhler; im Anfang des 18. Jahrhunderts zerfleischten sich beide Mächte in einer ganzen Reihe mörderischer Schlachten um das Recht, den spanischen Thron zu besetzen.

Im Norden Europas sank Schweden schnell von der vorübergehenden Großmachtstellung herab, die es sich durch die Ausraubung Deutschlands geschaffen hatte, während Polen in feudaler Anarchie verkam. Polen war durch die Verlegung der Welthandelswege von den Ufern des Mittelländischen Meeres an die Gestade des Atlantischen Ozeans noch schwerer geschädigt worden als Italien und Deutschland; es war dann zwar die Kornkammer der westeuropäischen Völker geworden, allein die polnischen Junker hatten sich des Getreidehandels zu bemächtigen und die Ansammlung des Kaufmannskapitals zu hindern gewusst, das die historische Voraussetzung der modernen Entwicklung war. Sie würgten die polnischen Städte ab und hielten durch die tolle Verschwendung der in ihre eigenen Taschen fließenden Handelsprofite das Land gewaltsam im feudalen Sumpfe fest. Über Schweden und Polen aber erhob sich eine neue Macht in Russland, einem barbarischen Erobererstaate, den der Zar Peter so weit europäisierte, dass er für ein eroberndes Vordringen nach Westen befähigt wurde.

Zwischen Frankreich und Russland, von beiden gleich schwer bedroht, lag nun das Deutsche Reich in seiner jämmerlichen Verfassung, ausgeraubt und verfault, zerrissen in dreihundert Souveränitäten. Alle Einrichtungen des Reiches waren in hoffnungslosem Verfall. Der Kaiser besaß fast nur noch das Recht, Adelstitel zu verleihen; der Reichstag in Regensburg war ein Gesandtenkongress, der seine Zeit mit dem nichtigsten Klatsch und Kram vertrödelte, das Reichskammergericht in Wetzlar die berüchtigtste Verschleppungsanstalt in Europa und das Reichsheer ein verlotterter Haufe von Vogelscheuchen.

2. Der preußische Staat

Beherrscht wurde Deutschland in diesem Zeitraum von den souveränen Landesobrigkeiten, in erster Reihe den Fürsten, die so wenig fähig wie gewillt waren, die nationalen Interessen zu fördern oder auch nur zu schützen.

In der ganzen Weltgeschichte gibt es vielleicht keine Klasse, die so lange Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwänglich reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts. Schamlos entartet, wälzten sie sich in allen Lastern und Sünden. Ihr souveränes Recht, Bündnisse mit dem Auslande zu schließen, missbrauchten sie dazu, Fleisch und Blut ihrer Untertanen an ausländische Despoten als Futter für Pulver zu verkaufen, um die Mittel für einen prahlerischen Luxus, für einen sinnlosen Aufwand zu gewinnen, durch die sie mit dem französischen Könige zu wetteifern versuchten.

Es gab aber keine Klasse in Deutschland, die dieser fürstlichen Winkeltyrannei einen wirksamen Widerstand hätte entgegensetzen können oder wollen. Die Junker verlotterten mit den Fürsten als deren Kammerherren oder auch Kammerdiener oder auch Kuppler; die Bauern vegetierten unter einem furchtbaren Drucke mehr als dass sie lebten, und auch die Städte verfielen in dem Maße, wie das deutsche Handwerk, der deutsche Handel und die deutsche Industrie verfielen.

Einzelne Städte gab es wohl, in denen sich Reste des früheren Wohlstands erhalten hatten, wie Hamburg und Leipzig; in den zahlreichen Residenzstädten des fürstenreichen Deutschlands ging es kaum weniger liederlich her als an den Fürstenhöfen selbst. Sie waren nur da, um der fürstlichen Allmacht einen prunkenden Hintergrund zu geben; jeder kommunalen Selbständigkeit entkleidet, wurden sie von kriechenden Höflingen, servilen Beamten, brutalen Soldaten und ausländischen Abenteurern überschwemmt. Demnach konnte sich keine bürgerliche Bildung urwüchsig entfalten; was davon in Deutschland vorhanden war, kam aus dem Auslande und war von der Gnade der Fürsten abhängig, denen auch die freiesten Köpfe der Zeit, wie Leibniz und Thomasius, in unwürdiger Weise schmeicheln mussten, um überhaupt geduldet zu werden.

Nach der Behauptung der bürgerlichen Geschichtsschreibung soll nun aber doch ein deutscher Staat und ein deutsches Fürstenhaus den rettenden Weg aus dieser nationalen Misere gezeigt haben, nämlich der preußische Staat und das hohenzollernsche Fürstenhaus. Es gibt darüber zwei Legenden, von denen die ältere die nationale, die jüngere die soziale Mission der Hohenzollern in blendendes Licht stellt. Die ältere Legende wurde vor etwa zwei Menschenaltern aufgebracht, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar von der deutschen Bourgeoisie, die danach verlangte, durch preußische Bajonette die nationale Einheit hergestellt zu sehen, deren sie für ihre kapitalistischen Zwecke bedurfte, ohne dass sie selbst Blut und Knochen daransetzen wollte. Nach dieser Legende soll der preußische Staat, im Gegensatze zu den übrigen deutschen Staaten, namentlich dem österreichischen, den nationalen Gedanken immer kräftig vertreten und dadurch den Anspruch auf die Führung Deutschlands erworben haben. Die jüngere Legende aber von dem sozialen Königtum der Hohenzollern, von den „Königen der Bettler", die die Hohenzollern stets gewesen sein sollen, tauchte auf, als die deutsche Arbeiterklasse ihrer Klasseninteressen bewusst zu werden begann, und nach ihr wird – da die ältere Legende inzwischen ihre Dienste getan hatte und also verabschiedet werden konnte – heute auf ausdrückliche Anordnung des preußischen Kultusministers an den preußischen Volksschulen vaterländische Geschichte gelehrt.

Nun ist jede der beiden Legenden gleich hinfällig. Die erste wurde von der deutschen Bourgeoisie für ihren eigenen Profit fabriziert, die zweite aber von den herrschenden Klassen überhaupt zur Nasführung des Proletariats. Die einzige lobenswerte Seite dieser Legenden ist, dass sie sich gegenseitig aufessen. Haben die Hohenzollern seit Jahrhunderten die Kräfte ihres armen Landes aufs äußerste angespannt, um den Anmaßungen des Auslandes mit nationalem Stolz entgegenzutreten, so haben sie unmöglich gleichzeitig ihr Herzblut für die Armen und Elenden vergießen können. Haben sie aber umgekehrt seit Jahrhunderten ihr Herzblut für die Armen und Elenden vergossen, so ist nicht abzusehen, wie sie gegenüber dem Auslande die erhabenen Ritter des nationalen Gedankens haben spielen können.

Tatsächlich ist das eine so erfunden wie das andere. Der preußische Staat ist groß geworden durch permanenten Verrat an Kaiser und Reich, und nicht minder groß ist er geworden durch das Schaben und Schinden seiner arbeitenden Klassen. Es gibt keinen anderen deutschen Staat, der ihm in der einen oder der anderen Beziehung überlegen gewesen wäre. Er hatte von jeher sein Schwergewicht in den ostelbischen Gebieten; die Mark Brandenburg war ursprünglich eine sächsische Kolonie, erobertes Slawenland, wie auch Mecklenburg, Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen. Alle diese Landesteile bildeten einen Schutzwall gegen die slawische Welt, durch deren Druck sie verhindert wurden, in so winzige Trümmer auseinanderzufallen wie das südliche und westliche Deutschland. In seinem Ursprung glich der preußische Staat dem österreichischen, der ursprünglich eine bayerische Kolonie war, sich aber viel mächtiger und schneller als Schutzwehr gegen die Türkengefahr entwickelt hatte. In dem feindlichen Gegensatze zwischen Österreich und anderen europäischen Großmächten, namentlich Frankreich, ist der preußische Staat emporgewachsen, künstlich herangezüchtet als Pfahl im Fleische des Hauses Habsburg, als „Element der nationalen Dekomposition". Schon zur Zeit der Reformation war der brandenburgische Kurfürst Joachim I. ein Pensionär des französischen Königs; ebenso war es der Kurfürst Friedrich Wilhelm nach dem Westfälischen Frieden; einzig und allein mit französischer Hilfe hat dann der König Friedrich von Preußen Schlesien geraubt, die wertvollste Provinz des österreichischen Staates. In diesem „großen" preußischen Könige sah die französische Politik nur einen Filigrankönig, einen Puppenkönig, der unweigerlich nach der französischen Pfeife tanzen müsse. Als er sich dessen einmal weigerte und dem französischen Könige nicht die von diesem geforderte Waffenhilfe gegen England leisten wollte, verband sich Frankreich mit Österreich und Russland, um den übermütig gewordenen Vasallen zu züchtigen. So entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts der Siebenjährige Krieg (1756-1763), der Deutschland wieder aufs gräulichste verwüstete, nachdem es sich eben von den Leiden des Dreißigjährigen Krieges zu erholen begonnen hatte. Dieser Krieg hätte dem preußischen Staat den Garaus gemacht, wenn sich König Friedrich nicht in die russische Vasallenschaft begeben hätte, die noch schmählicher war als die französische.

So erfunden wie die angeblich nationale, ist die angeblich soziale Mission der Hohenzollern. Als sie ins Land kamen, befanden sich die märkischen Bauern allerdings in verhältnismäßig behäbiger Lage; um die den Slawen entrissenen Gebiete zu besiedeln, hatte man friesische, sächsische, rheinfränkische Bauern unter günstigen Bedingungen anlocken müssen. Aber gerade unter den Hohenzollern wurde die Lage dieser Bauern von Jahrhundert zu Jahrhundert schlechter, bis nach dem Dreißigjährigen Kriege der Kurfürst Friedrich Wilhelm die Bauern gänzlich den Junkern auslieferte, gegen die Erlaubnis, die ihm diese gewährten, ein stehendes Heer einzurichten und ständige Steuern zu erheben, eine Erlaubnis, die die Junker auch noch dahin einschränkten, dass sie selbst von allen Steuern befreit blieben, aber dafür alle Offiziersstellen des neu zu errichtenden Heeres ihnen vorbehalten wurden.

Wenn es ein dreister Humbug ist, von einer bauernfreundlichen Politik der Hohenzollern zu sprechen, so lässt sich ihre bauernfeindliche Politik zwar nicht rechtfertigen, aber insoweit entschuldigen, als es gar nicht in ihrer Macht lag, die Bauern gegen die Junker zu schützen. Diese schwachen und meist ganz unfähigen Fürsten sind niemals die Herren der Junker, sondern die Junker sind immer ihre Herren gewesen; hatte doch gleich der zweite Kurfürst aus dem hohenzollernschen Hause in selbstmörderischer Verblendung den Junkern geholfen, die märkischen Städte, die ohnehin weder mächtig noch zahlreich waren, zu unterdrücken und auszuplündern. So sorgten denn die Junker auch dafür, dass die Erlaubnis, die sie – um den Staat nicht zur leichten Beute der Nachbarn werden zu lassen – dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm zur Errichtung eines stehenden Heeres und zur Erhebung ständiger Steuern geben mussten, nicht zu ihrem Nachteil ausfiel. Vielmehr wucherten sie durch die berüchtigte Kompaniewirtschaft das Heer selbst in der schamlosesten Weise aus, während sie es durch die scheußlichen Mittel einer barbarischen Disziplin zu ihrem willenlosen Werkzeug machten.

Selbst unter dem König Friedrich, dessen ebenso allmächtiger wie aufgeklärter Despotismus von den preußischen Geschichtsschreibern überschwänglich gefeiert wird, war der preußische Staat keine wirkliche Monarchie, kein moderner Klassenstaat, sondern ein mittelalterlicher Ständestaat, eingeschachtelt in die drei Geburtsstände des allmächtigen Adels, der unmündigen Städte und der unfreien Bauern, eine feudale Ruine, die in all ihrer feudalen Verrottung zu erhalten niemand eifriger und sorgfältiger bedacht gewesen ist als eben König Friedrich.

Diesem Staat fehlte jede Möglichkeit, sich selbst zu reformieren, geschweige denn, dass er fähig gewesen wäre, eine nationale Reform in Deutschland anzubahnen. Er musste erst in tausend Trümmer zerschlagen werden, ehe die deutsche Nation aufatmen konnte, wie von einem gespenstischen Alp erlöst.

3. Die Anfänge bürgerlicher Bildung

Nun aber soll gar noch der preußische Staat den Anstoß zur Entstehung der klassischen Literatur und Philosophie in Deutschland gegeben haben. So behaupten die bürgerlichen Historiker und stützen sich dabei auf eine Äußerung des alten Goethe, wonach der erste, wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt durch den preußischen König Friedrich und die Taten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Nation gekommen sei. Freilich verhehlte sich Goethe nicht, dass dieser König selbst die deutsche Literatur mit der größten Verachtung behandelt und noch in seinem Alter, im Jahre 1781, eine schnöde Schmähschrift gegen sie gerichtet, namentlich auch Goethes Jugendwerke in ebenso hämischer wie unwahrer Weise heruntergerissen hatte. Aber Goethe meinte, gerade weil Friedrich nichts von ihnen habe wissen wollen, so hätten die deutschen Schriftsteller das möglichste getan, um als Etwas vor ihm zu erscheinen.

Jedoch kann die beiläufig hingeworfene, an sich schon recht kuriose Äußerung Goethes gegenüber den historischen Tatsachen keine Bedeutung beanspruchen. Die preußischen Fürsten hatten für alles geistige Schaffen nur den Spott von Barbaren, wie der König Friedrich Wilhelm L, der die spärlichen Einkünfte der Berliner Akademie der Wissenschaften eskamotierte, um damit seine Hofnarren zu besolden, und die Professoren der Universität Frankfurt a. d. O. unter Androhung von Stockprügeln dazu zwang, possenhafte Redekämpfe vor ihm auszuführen, ganz zu geschweigen der brutalen Vertreibung des Professors Wolff aus Halle, der bei Strafe des Stranges gezwungen wurde, binnen 24 Stunden den preußischen Staat zu verlassen, weil eine philosophische Ansicht Wolffs dem König in böswilliger Verdrehung denunziert worden war. Ganz so roh war sein Sohn Friedrich nicht, aber er war völlig in französischer Bildung ertrunken, und zwar nur in ihren höfischen Zweigen; die französischen Schöngeister, die er an seine Tafel lud, wurden von ihm als Spaßmacher betrachtet, und mit Voltaire, der nicht nur ein höfischer Dichter, sondern auch ein großer bürgerlicher Schriftsteller war, kam er in bitterster Feindschaft auseinander.

Entscheidend ist, dass unsere bürgerlichen Klassiker selbst den preußischen Staat stets als Hort der Barbarei verflucht haben. Wenn Lessing, der ein geborener Sachse war, den preußischen Staat das sklavischste Land in Europa nannte1, so haben die geborenen Preußen Klopstock, Herder und Winckelmann sich noch weit härter über den preußischen Despotismus und den Schinder der Völker ausgelassen. Klopstock floh nach Dänemark und Herder nach Russland, um der preußischen Militärfuchtel zu entgehen; Winckelmann aber rettete sich nach Sachsen und von da nach Rom; er trat sogar zum Katholizismus über, um unter dem Schutze des Papstes die Gaben zu entfalten, die er unter dem Schutze des Königs von Preußen niemals hätte entfalten können.

Eher noch als der preußische, kann der sächsische Staat den Ruhm beanspruchen, die Geburtsstätte unserer klassischen Literatur gewesen zu sein. Er war schon in den Tagen der Reformation das ökonomisch und deshalb auch geistig entwickeltste Land in Deutschland und ist selbst unter der Fürstenherrschaft nie so völlig verkommen wie andere deutsche Staaten. Auch seine Fürsten waren sittenlos und verschwenderisch, aber sie konnten sich den Kulturaufgaben nicht so völlig entziehen wie die preußischen Fürsten. Namentlich das sächsische Schulwesen blieb auf einer gewissen Höhe. Wenn es auch an seinem Teil unter dem orthodoxen Luthertum verkam, so blieb es doch noch fähig, die Reflexe der bürgerlichen Bildung aufzufangen, die aus dem Auslande in das verwüstete Deutschland strahlten. Die weitaus meisten Träger der deutschen Geistesgeschichte vom Ende des 17. bis tief ins 18. Jahrhundert hinein waren geborene Sachsen oder doch aus den sächsischen Schulen hervorgegangen.

Geborene Sachsen waren der Philosoph Leibniz (1646-1716) sowie die Rechtsgelehrten Pufendorf (1632-1694) und Thomasius (1655-1728). Sie standen bereits auf bürgerlichem Boden. Im Interesse der bürgerlichen Klassen suchten sie die weltliche Wissenschaft aus den Fesseln der Theologie zu lösen, lehrten sie das Recht des einzelnen zum Widerstand gegen offenbares Unrecht, leugneten sie den göttlichen Ursprung der Fürstengewalt, führten sie die deutsche Sprache in die Hörsäle der Universitäten ein und bekämpften die ruchlosen Hexenprozesse. Aber die Bestrebungen dieser Männer fanden in den bürgerlichen Klassen weder eine Stütze noch einen Widerhall. Leibniz war gerade in seinen bleibenden Leistungen mehr ein europäischer als ein deutscher Gelehrter; Pufendorf und Thomasius aber bekannten selbst, ihre Ideen aus dem Holländer Hugo Grotius und dem Engländer Hobbes geschöpft zu haben. Sie alle waren noch auf die fürstlichen Höfe angewiesen, denen sie die verwerflichsten Zugeständnisse gemacht haben.

In die Reihe dieser Männer gehört auch Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der etwa in den Jahren 1730-1750 als Leipziger Professor der Papst der deutschen Literatur war, aber noch vor seinem Tode in die tiefste Verachtung gestürzt wurde. Seitdem ist sein Name fast sprichwörtlich geworden für einen pedantischen Dummkopf, und die bürgerlichen Historiker behandeln ihn als Sündenbock der alten Zeit, während er tatsächlich der Vorläufer einer neuen Zeit war. Er stammte aus Königsberg, hatte aber auch vor der preußischen Militärfuchtel nach Sachsen flüchten müssen. Er war sicherlich kein Dichter, sondern ein Schulmeister, allein gerade als solcher hat er wohltätig gewirkt. Es war weniger seine Schuld als die Schuld seiner Zeit, wenn er seine literarischen Reformen, von denen er sagte, dass sie auf die gemeinsame Ehre von ganz Deutschland abzielen sollten, bei der unsagbaren Verkommenheit der deutschen Literatur gewissermaßen mit dem Abc, mit Reinigung der in Grund und Boden verdorbenen Sprache, mit dürren Regeln, mit fremdländischen Mustern beginnen musste.

Gottsched geriet bald in einen heftigen Kampf mit den Züricher Professoren Bodmer (1698-1783) und Breitinger (1701-1776), die anfangs seine Bestrebungen geteilt hatten, aber dann von ihm abfielen. Sie waren im Grunde ebensolche Pedanten wie Gottsched, die nach seinem Vorbild eine „Kritische Dichtkunst" herausgaben, worin sie lehrten, wie jedermann nach bestimmten Regeln untadelhafte Gedichte verfertigen könne. Der eigentliche Zankapfel dieses Streits zwischen Leipzig und Zürich war die Frage, nach welchen ausländischen Mustern gedichtet werden solle. Gottsched empfahl die französischen Dichter Corneille und Racine, die Dramatiker des französischen Absolutismus in seiner Glanzzeit. In höfischem Servilismus blieb der Leipziger Literaturpapst allerdings versunken, wie vor ihm Leibniz, Thomasius und Pufendorf. Aber die Berührung mit der französischen Literatur brachte ihn auch in Berührung mit der französischen Aufklärung. Zudem erhielt sein Interesse für das Theater ein fortschrittliches Element, insofern als das Theater für das orthodoxe Luthertum des Teufels Kanzel war und Gottsched nicht für die Hofbühnen arbeitete, sondern verrufene Proletarier, wandernde Truppen von Schauspielern, die damals im ärgsten Verrufe standen, zu Sendboten seiner dramaturgischen Bestrebungen machte. Das war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für eine akademische Perücke ein ganz achtungswertes Stück gesellschaftlicher Reform.

Dagegen wollten Bodmer und Breitinger den englischen Dichter Milton nachgeahmt wissen, den Dichter der englischen Revolution, die sich noch in religiösen Formen vollzogen hatte und von Milton in einem religiösen Epos, „Das verlorene Paradies", verherrlicht worden war. Allein da Bodmer und Breitinger nur von dem religiösen, aber nicht von dem revolutionären englischen Dichter angezogen wurden, so verfielen sie einer beschränkten und engherzigen Gottseligkeit, womit ebenso wenig vorwärtszukommen war wie mit Gottscheds Fürstenfürchtigkeit. Jedenfalls, da beiden streitenden Teilen jede schöpferische Kraft fehlte, so konnte dieser Streit von Pedanten mit Pedanten zu nichts führen und musste schließlich im Sande verlaufen, als er dadurch seine Lösung fand, dass im Jahre 1748 eine große dichterische Kraft mit den ersten Gesängen eines religiösen Epos auftrat.

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) war in der preußischen Stadt Quedlinburg geboren, hatte seine Ausbildung aber auf sächsischen Schulen erhalten, erst in Schulpforta, dann in Leipzig. Schon in Schulpforta fasste er den Plan zu seinem religiösen Epos, dem „Messias". Er folgte damit dem Rate der Züricher Kunstrichter, die ihn auch sofort, als die ersten Gesänge des „Messias" erschienen, zu sich einluden, aber sich alsbald heftig mit ihm überwarfen, als sie in ihm keinen vermuckerten Kopfhänger, sondern einen frischen, kräftigen und revolutionär gestimmten Jüngling fanden. Eben aber, was sie an Klopstock entsetzte, ist das, was uns heute an ihn fesselt. Klopstocks großes Epos, das mehr als 20.000 Verse umfasst, ist heute längst vergessen; Klopstock hat es schwer genug büßen müssen, dass er dem Rat der Bodmer und Breitinger gefolgt war und sein Leben an eine Schulaufgabe, an ein religiöses Epos gesetzt hatte, das in Deutschland, wo die Religion seit zwei Jahrhunderten die ideologische Begleiterscheinung der fürstlichen Winkeltyrannei gewesen war, kein Morgenlied des modernen Bürgertums werden konnte. Wenn die ersten Gesänge des „Messias" wie ein Blitz einschlugen, so war es, weil sich in ihnen eine Dichterkraft offenbarte, wie sie seit Jahrhunderten in Deutschland nicht mehr erschienen war; das Gedicht selbst musste den Zeitgenossen bald langweilig werden und ist heute gänzlich in den Grabgewölben der Literaturgeschichte verschollen.

Zudem war Klopstock ausschließlich Lyriker; jede Spur dramatischer oder selbst epischer Begabung war ihm versagt. Es sind denn auch nur einige seiner Oden, die sich erhalten haben. In ihnen tritt die religiöse Auffassung, so sehr sie noch mitspielt, hinter die nationale, der Hohepriester hinter den Rebellen zurück. Klopstocks bürgerliches Klassenbewusstsein war so stark, wie es unter unseren Klassikern sonst nur noch Lessing und Schiller besessen haben; er brandmarkte die servilen Fürstensänger seiner Zeit, und er durfte von sich rühmen, dass sein Geist, seitdem er gereift sei, nie durch höfisches Lob die heilige Dichtkunst entweiht habe. In dieser aufrechten Gesinnung hat Klopstock noch als Greis von 65 Jahren die Französische Revolution begrüßt; er forderte die Deutschen auf, es ihren französischen Brüdern gleichzutun, und seine nationale Gesinnung trat nie schöner hervor als in der Klage, dass nicht die Deutschen zuerst die Fahne der Freiheit aufgepflanzt hatten. Die Französische Republik ernannte ihn zu ihrem Ehrenbürger, und der Ruhm eines bürgerlichen Vorkämpfers wird ihm bleiben, auch wenn sein Dichterruhm verblasst ist.

Unter Klopstocks Sternen stand der Göttinger Hainbund: Ludwig Hölty, ein vielversprechender Poet, der schon vor dem dreißigsten Lebensjahre an der Schwindsucht starb, die Grafen Stolberg, die mit wilden Gesängen gegen die Tyrannen begannen, aber danach umfielen, Johann Heinrich Voß, der Enkel eines mecklenburgischen Leibeigenen, der immer ein fester Aufklärer blieb und sich durch die klassische Verdeutschung der homerischen Gedichte einen bleibenden Namen gesichert hat. In loseren Beziehungen zum Göttinger Hainbund stand der begabte Liedersänger Matthias Claudius und namentlich Gottfried August Bürger (1747-1794), der ihnen allen überlegen war, der unvergleichliche Meister der Ballade, die er vom Bänkelsängerliede zu künstlerischer Form erhob und dabei ein knorriger, trotziger Mann, der sein eigenes Wort wahr machte und sich lieber aus der Welt hungerte, als dass er um Fürstenbrot lungerte.

4. Lessing

Näher als Klopstock steht der Gegenwart Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), derjenige unserer Klassiker, dessen Lebenskampf und Lebenslauf am deutlichsten zeigt, dass sich mit der klassischen Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts die soziale Emanzipation des Bürgertums zu vollziehen begann, während gerade sein Name am häufigsten missbraucht worden ist, um den preußischen Staat als den eigentlichen Vater jener Literatur und Philosophie zu feiern.

Lessing war als der Sohn eines Geistlichen in dem Lausitzer Städtchen Kamenz geboren. Wie Klopstock erhielt er seine Erziehung auf sächsischen Schulen, auf der Fürstenschule in Meißen und dann auf der Universität Leipzig. Zum Studium der Theologie bestimmt, wandte er sich bald von der trockenen Stubengelehrsamkeit ab, ein heiteres Weltkind, das vor allem danach trachtete, leben zu lernen, wozu ihm in der damaligen Stadt Leipzig mit ihrer alten Universität und ihrem regen Handelsverkehr bessere Gelegenheit gegeben war, als er sie irgendwo sonst in Deutschland finden konnte.

Obgleich ihn seine natürlichen Anlagen mehr zum Gelehrten als zum Dichter befähigten, drängte es ihn von seinen jungen Tagen an doch zum Theater, auf dem sich die bürgerliche Welt mit dem Schein des Lebens entfalten konnte, zu dem einzigen Schauplatze, wo sie vor allem Volke die Fragen erörtern konnte, die ihr Innerstes bewegten. Das Theater war unter den damaligen Verhältnissen Katheder und Kanzel zugleich für das Bürgertum; aber wenig entwickelt, wie diese Klasse damals noch war, so war auch das Brettergerüst ihrer Szene schwach gezimmert. Die Leipziger Bühne, in deren Bannkreise der junge Student Lessing lebte und webte, brach plötzlich zusammen und begrub ihn unter ihren Trümmern. Noch nicht zwanzig Jahre alt, musste Lessing vor seinen Gläubigern aus Leipzig fliehen, und danach hat er mehr als zwanzig Jahre lang ein ruheloses Wanderleben geführt, der erste Schriftsteller Deutschlands, der in eigenen Schuhen stehen wollte, aber sich trotz seiner glänzenden Leistungen keinen festen Boden unter den Füßen zu schaffen vermochte. Er wurde endlich gezwungen, sich in den Dienst eines deutschen Despoten zu begeben, des Herzogs von Braunschweig, als dessen Bibliothekar in Wolfenbüttel, wo Lessing das letzte Jahrzehnt seines Lebens die tückischen Launen dieses Winkeltyrannen bis auf die Hefe auszukosten gehabt hat.

Lessing hat sich schriftstellerisch auf den verschiedensten Gebieten betätigt; immer aber war der entscheidende Antrieb seines geistigen Schaffens, bewusst oder unbewusst, das bürgerliche Klassenbewusstsein. Schon früh erhob er sich über den unfruchtbaren Streit der Leipziger und Züricher Kunstrichter, worin Klopstock noch befangen geblieben war. Lessing hatte nichts gemein weder mit der verknöcherten Orthodoxie der Bodmer und Breitinger noch mit dem höfischen Servilismus Gottscheds. Er ist gegen Gottsched grausamer gewesen als gegen die Schweizer, aber nicht weil er ihm ferner, sondern weil er ihm näher stand, weil er die Annäherung Gottscheds an die französische Literatur der bürgerlichen Aufklärung teilte, aber um so eifriger darauf bedacht war, das höfische und knechtische Element in Gottscheds Taten und Theorien auszurotten.

Ebenso erhob sich Lessing über den Streit zwischen den preußischen und den sächsischen Patrioten in den Tagen des Siebenjährigen Krieges. Man hat ihm die nationale Gesinnung absprechen wollen, weil er, angewidert durch diese kläglichen Zänkereien, einst sagte, er geize nicht nach dem Ruhm eines Patrioten, der ihn vergessen lasse, dass er ein Weltbürger sein solle. Aber eben dadurch vertrat Lessing den nationalen, den deutschen Standpunkt, dass er weder ein preußischer noch ein sächsischer Patriot sein wollte. Ebenso einseitig ist es denn freilich zu sagen, als deutscher Patriot habe Lessing, namentlich in der „Hamburgischen Dramaturgie", die Vorherrschaft der französischen Literatur in Deutschland bekämpft. Bekämpft hat Lessing vielmehr nur die höfische Dramatik der französischen Literatur, die für das deutsche Bürgertum kein anspornendes Vorbild sein konnte. Der bürgerlichen Emanzipationsliteratur der Franzosen ist er stets freundlich gesinnt gewesen und hat gern bekannt, dass er von keinem mehr gelernt habe als von Diderot, einem ihrer Hauptträger.

Nicht minder unbefangen stand Lessing der englischen Literatur gegenüber. Im Anschluss an englische Muster schrieb er das bürgerliche Trauerspiel „Miss Sara Sampson", das, soviel sich ästhetisch dagegen sagen lässt, doch als soziale Tat von den Zeitgenossen empfunden wurde. Als dramatische Meisterwerke leben noch heute sein Lustspiel „Minna von Barnhelm" und sein Trauerspiel „Emilia Galotti": jenes ein Soldatenstück, aber dennoch ganz erfüllt von bürgerlichem Geiste, der gerade dem preußischen Despotismus tapfer die Zähne weist, dieses eine grausam treffende Widerspiegelung der deutschen Winkeltyrannei, wenngleich Lessing den Schauplatz der Tragödie nach Italien verlegen musste, um sie auf die deutsche Bühne zu bringen.

Auch die theologischen Kämpfe, die Lessings letzte Lebensjahre erfüllten, sind allein richtig zu verstehen, wenn man sie vom sozialen Standpunkt erfasst. Als bürgerlicher Vorkämpfer erhob sich Lessing gegen die falschen und halben, die faulen und feigen Aufklärer, die, statt reinlich zwischen Philosophie und Theologie zu scheiden, die wirkliche Befreiung der Geister hinderten, indem sie Philosophie und Theologie durcheinanderwarfen und statt des alten orthodoxen Luthertums ein vernünftiges Christentum predigten, von dem Lessing mit Recht sagte, man wisse weder, wo ihm das Christentum noch wo ihm die Vernunft säße.

Nicht gegen den orthodoxen Hauptpastor Goeze in Hamburg richtete Lessing in erster Reihe seine Angriffe, wie von den heutigen Nachfahren der halben und falschen Aufklärer behauptet wird, sondern der Kampf, den Lessing in einer Reihe glänzender Flugschriften gegen Goeze führte, entsprang daraus, dass Lessing von Goeze in heftigster Weise befehdet wurde, weil der Hamburger Hauptpastor gescheit genug war, um zu erkennen, dass der wahre Aufklärer Lessing für das orthodoxe Luthertum weit gefährlicher war als die halben Aufklärer. Lessing ging von der ganz richtigen Ansicht aus, dass die Orthodoxie verloren sei, wenn sich die bürgerliche Aufklärung klar und konsequent entwickele, aber dass eine geflissentliche Verkrüppelung dieser Aufklärung den bürgerlichen Aufschwung hemmen müsse.

Das Schauspiel „Nathan der Weise" war der weihevolle Akkord, worin Lessings theologische Kämpfe ausklangen. Er schrieb es, als der Herzog von Braunschweig durch gewaltsame Maßnahmen in den Kampf eingriff. Lessing wollte nun versuchen, ob man ihn auf seiner alten Kanzel, dem Theater, wenigstens noch ungestört wolle predigen lassen. Das Schauspiel ist weder eine Verherrlichung des Juden- noch eine Verunglimpfung des Christentums. Lessing bekämpfte nur die Unduldsamkeit, die das Erbteil jeder geoffenbarten, jeder Religion ist, die sich auf eine angebliche Offenbarung aus einer überirdischen Welt gründet. Der religiöse Glaube ist nach Lessing die private Sache jedes einzelnen Menschen, in die ihm niemand dreinzureden hat, um derentwillen er von niemand behelligt werden darf. Aber ebendeshalb darf auch kein Mensch mit seinem religiösen Glauben andere Menschen behelligen. Der Satz, dass Religion Privatsache sei, schließt den Satz ein, dass jede Religion, sei sie nun, welche sie wolle, rücksichtslos bekämpft werden müsse, sobald sie ein Kappzaum der wissenschaftlichen Forschung, eine Waffe der sozialen Unterdrückung sein will.

5. Herder. Die Jugend Goethes und Schillers

In näherem Zusammenhange mit Lessing, und doch in eigentümlichem Gegensatze zu ihm, steht Johann Gottfried Herder (1744-1803). Er war in dem kleinen ostpreußischen Städtchen Mohrungen geboren, als der Sohn eines blutarmen Küsters. Seine Jugend wurde ihm durch einen prügelnden Schulmeister, einen orthodoxen Geistlichen, der unter der Maske eines Wohltäters die Arbeitskraft des Knaben ausbeutete, und nicht zuletzt durch den quälenden Druck der „roten Halsbinde" verdorben, durch die der preußische Militärdespotismus seine Opfer schon von Kindesbeinen an zeichnete.

Diesem Elend entrann Herder, indem ihn ein Wundarzt der russischen Truppen, die im Siebenjährigen Kriege Mohrungen besetzt hatten, mit nach Königsberg nahm. Hier entschloss sich Herder zum Studium der Theologie, nicht aus äußeren Beweggründen, sondern aus innerem Herzensdrange. Wie Lessing eine durch und durch weltliche, so war Herder eine durch und durch religiöse Natur; war ihm doch die Bibel in einsamen und verdüsterten Kindheitstagen der einzige Quell geistiger Erfrischung gewesen. Im Alter von zwanzig Jahren wurde Herder als Lehrer an der Domschule in Riga angestellt, in den russischen Ostseeprovinzen, die damals noch eine gewisse Unabhängigkeit von dem russischen Despotismus behaupteten. Ehe Herder abreiste, musste er schwören, nach Preußen zurückzukehren, sobald er als Rekrut einberufen werden würde, doch hat er sich an diesen Zwangseid nicht gebunden erachtet und ist niemals in seine gastliche Heimat zurückgekehrt.

Von Riga aus trat Herder zuerst als Schriftsteller auf, zunächst in den kritischen Spuren Lessings. Aber bald zeigte sich, was er vor Lessing voraus hatte, nämlich historisches Genie. War für Lessing die ästhetische Kritik wesentlich nur Mittel zum Zweck gewesen, räumte er auf literarischem Gebiete nur auf, um das bürgerliche Bewusstsein, das sich auf diesem Gebiete allein erst betätigen konnte, zu stärken und voranzutreiben, so erblickte Herder seine Aufgabe darin, alle Literatur aus dem Geiste ihrer Zeit heraus zu betrachten. In der Poesie sah er nicht das Besitztum einzelner bevorzugter Geister, sondern eine gemeinsame Gabe aller Völker und Zeiten, nur dass sie in jedem Volke und jeder Zeit ihre eigentümliche Entwicklung habe. Damit kam er aufs Volkslied als den ursprünglichen Quell aller Dichtung, für den Lessing nur gelegentlich einen flüchtigen Blick gehabt hatte.

Nach vierjährigem Aufenthalte in Riga begab sich Herder auf eine europäische Reise, zunächst nach Paris und dann nach Straßburg. Hier lernte er den damals noch unbekannten Goethe kennen und eröffnete dem werdenden Dichter eine neue Welt, eben durch seine historische Einsicht in das Wesen der Poesie, die ihn überall ihre echtesten Quellen aufspüren hieß. Seine Reisepläne fanden dann ihr Ende dadurch, dass Herder als Oberpfarrer in Bückeburg angestellt wurde, wo er jedoch nur einige Jahre unter dem quälenden Druck eines wunderlichen Winkeltyrannen aushielt. Im Jahre 1776 ging Herder als Generalsuperintendent nach Weimar; Goethe, der ein Jahr vorher dorthin als Günstling des Herzogs übergesiedelt war, hatte ihm diese Berufung verschafft. In Weimar hat Herder noch nahe an dreißig Jahre gelebt und die beiden Werke herausgegeben, die als die Höhepunkte seiner Lebensarbeit gelten dürfen: die „Stimmen der Völker in Liedern" und die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". In jenen sammelte Herder aus allen möglichen, und nicht nur europäischen, Dialekten und Sprachen die Volkslieder und übertrug sie mit tiefem Verständnis ins Deutsche; in diesen unternahm er den ersten Versuch, eine universelle Kulturgeschichte höchsten Stils zu schreiben. Wenn ihm die wissenschaftlichen Hilfsmittel, über die er zu seiner Zeit erst verfügen konnte, noch nicht gestatteten, dies Ziel zu erreichen, so hat er doch in allgemeinen Zügen den Weg gewiesen, von dem jeder große Fortschritt der historischen Forschung bestätigen sollte, dass die Menschheit ihn wirklich gegangen ist und geht.

Einen maßgebenden Einfluss hat Herder auf Goethe (1749-1832) gehabt, den reifsten Dichter und Künstler unserer klassischen Literatur. Im Unterschiede von ihren anderen Bahnbrechern gehörte Goethe durch seine Geburt den herrschenden Klassen an. Sein Vater war ein wohlhabender Mann, der sich den Titel eines Kaiserlichen Rates erworben hatte und in beschaulicher Muße seinen gelehrten Liebhabereien lebte, sein Großvater von mütterlicher Seite der oberste Beamte der kleinen städtischen Republik Frankfurt a. M., wo Goethe geboren wurde. Eine glückliche Kindheit führte ihn auf ebener Bahn vorwärts, woran die überströmende Liebe seiner jungen Mutter, einer kerngesunden, prächtigen Frau, noch größeren Anteil hatte als die sorgfältige, obschon etwas pedantische Erziehung des älteren Vaters.

Wie Klopstock und Lessing studierte Goethe in Leipzig, wo ihm eine junge Liebe die ersten Laute jener unvergleichlichen Lyrik entlockte, die ihn durch sein ganzes Leben begleitete. Noch aber blieb er in den Banden des französischen Geschmacks befangen; erst als er in Straßburg seine Studien fortsetzte, die Bekanntschaft Herders machte und in jene geistige Strömung geriet, die in der deutschen Literaturgeschichte als die Zeit des Sturmes und Dranges fortlebt, begann sich sein eigentümliches Genie zu entfalten. Dieser Sturm und Drang, so genannt nach dem Titel eines Dramas, das Goethes Jugendfreund Klinger verfasst hatte, war eine Art geistiger Revolution, deren Träger freilich – bis auf Goethe und ihren späten Nachzügler Schiller – alle verschollen sind, ein Brausen und Gären der Gemüter, aber doch nur ein ferner Widerschein der Sonne, die im Westen aufzugehen begann, eine Bewegung, kräftig zugleich und sentimental, aber nicht bodenständig und deshalb zu schnellem Absterben verurteilt.

Ihrer Kraft wie ihrer Sentimentalität hat Goethe seinen Zoll entrichtet: in dem Drama „Götz von Berlichingen" und in dem Roman von den „Leiden des jungen Werther". In der Gestalt des spitzbübischen Ritters, der im Bauernkriege die aufständischen Bauern verraten hatte, sah Goethe den sittlichen Revolutionär, der mit eiserner Faust sich selbst half, wo die erstarrten Satzungen des geschriebenen Verstands versagten. Es war ein schlagender Beweis dafür, wie sehr den Deutschen die Überlieferungen ihrer Geschichte abgerissen waren, aber es war auch ein bewundernswertes Zeugnis für die geniale Kraft des Dichters, der aus den wallenden Nebeln ein künstlerisches Bild zu gestalten wusste, das von einer Fülle atmender Gestalten belebt war.

In den „Leiden des jungen Werther" aber befreite sich Goethe von dem ungesunden Überschwange der Empfindungen, der die Zeit des Sturmes und Dranges kennzeichnete. Auf den Helden des Romans lud er ab, was ihn selbst peinigte, was an der Bewegung der Zeit krank und ungesund war. An den Busen der Natur riss der Dichter ein verbildetes Geschlecht; in keinem Kulturdichter hat die Natur je so unmittelbar gelebt wie in Goethe; er schildert nicht ihre Erscheinungen, sondern in seinen Dichtungen dampft die Erde, leuchtet die Sonne, funkeln die Sterne, rauscht das Meer. Die „Leiden des jungen Werther" hatten einen ungeheuren Erfolg; ein Produkt der zeitgenössischen Sentimentalität, wurden sie zugleich ihr Heilmittel.

Dennoch aber drohte dies unvergleichliche Genie ein Opfer der deutschen Misere zu werden. Lessings kräftigen Abscheu vor dem höfischen Leben hat Goethe nie gekannt; er folgte im Jahre 1775 gern dem Rufe des jungen Herzogs Karl August von Weimar, der ihn in seinen Dienst und an seinen Hof zog. Karl August mochte an geistiger und leiblicher Kraft allen anderen deutschen Zwergdespoten überlegen sein, war deshalb aber noch lange nicht der hochgesinnte Beschützer unserer klassischen Literatur, den liebedienerische Historiker aus ihm gemacht haben. In den ersten zehn Jahren, die Goethe am Hofe in Weimar verlebte, hat er schwer genug unter allem Hässlichen und Widrigen solcher Zwergresidenzen gelitten; alle seine großen Entwürfe blieben liegen, und der Dichter, der mit Götz und Werther so glorreich begonnen hatte, schien der Nation für immer entschwunden zu sein. Da rettete sich Goethe im Jahre 1786 durch einen schnellen Entschluss und ging auf zwei Jahre nach Italien.

Ungleich schwerer hat die Hand eines ruchlosen Despoten auf dem jungen Schiller (1759-1805) gelastet. Wie der Herzog von Braunschweig, der Lessings Alter verwüstet hat, so gehörte auch der Herzog von Württemberg, der Schillers Jugend verwüstete, zu den infamsten Menschenverkäufern seiner Zeit. Schiller war in dem württembergischen Städtchen Marbach geboren, als der Sohn eines Leutnants, der sich knirschend fügen musste, als der Despot ihm den einzigen Erben raubte, um ihn als Zögling in die Karlsschule zu stecken, eine „Sklavenplantage", in der sich der Herzog sklavische Werkzeuge seiner tyrannischen Launen zu drillen gedachte. Acht köstliche Lebensjahre sind so dem jungen Schiller gestohlen worden; vom zwölften bis zum zwanzigsten Lebensjahre ist er hier dem „alten Herodes" preisgegeben gewesen, wie er später den fürstlichen Quäler seiner Jugend nannte. Aber dann hat sich sein Hang zu tragischer Poesie klammernd emporgerankt an dem Despotismus, der ihm jede harmlose Jugendfreude raubte. Noch auf der Karlsschule schrieb Schiller sein erstes Trauerspiel, „Die Räuber", worin sich ein revolutionärer Geist gegen unwürdige Fesseln aufbäumte. Deshalb von neuem durch den Herzog verfolgt, floh Schiller aus dem schwäbischen Kerker, und auf unsteten Wandertagen dichtete er sein Trauerspiel „Kabale und Liebe", wodurch er das bürgerliche Drama auf eine revolutionäre Höhe erhob, die es in Deutschland vordem nicht und auch nachher nicht wieder erreicht hat.

Nicht auf gleicher Höhe hielt sich sein dramatisches Gedicht „Don Carlos", dessen eigentlicher Held, Marquis Posa, eine seichte Aufklärung predigte, die für Schiller wohl ein Durchgangsstadium, aber nicht ein endgültiges Ergebnis seiner geistigen Entwicklung sein konnte. Ein Jahrzehnt lang und noch länger stürzte er sich in historische und philosophische Studien, ehe er sich wieder der dramatischen Dichtkunst zuwandte.

6. Kant

Etwas später als unsere klassische Literatur begann sich unsere klassische Philosophie zu entwickeln. Ihr erster Vertreter war Immanuel Kant (1724-1804), der als der Sohn eines Sattlers in Königsberg geboren wurde. Von seinem Leben ist wenig zu berichten; es war ein einförmiges und eintöniges Gelehrtendasein, das sich ganz innerhalb des damaligen deutschen Spießbürgertums abspielte; über das Weichbild seiner Vaterstadt ist Kant nie hinausgekommen, bis auf einige Jahre, die er als Hauslehrer auf ostpreußischen Gütern verlebte.

Kant war durchaus eine unsoziale Natur, unsozial in dem Sinne, dass ihm jede Form des Gemeinschaftslebens zuwider war bis auf die Ehe und Familie. Politische und nationale Interessen lagen ihm völlig fern; er huldigte seinem angestammten Könige ebenso untertänig wie der Zarin Elisabeth, nachdem russische Truppen im Siebenjährigen Kriege Königsberg besetzt hatten. Als er am Abend seines Lebens noch von der preußischen Zensur behelligt wurde, focht er diesen Konflikt keineswegs mannhaft aus. Ein Philister durch und durch in seinem persönlichen Leben, war Kant ein bedeutender Gelehrter, der die Geschichte der Wissenschaften namentlich durch drei große Leistungen bereichert hat. So hoffnungslos die Versuche sind, ihn als einen „zeitlosen" Denker hinzustellen, der heute noch nicht überwunden sei und niemals überwunden werden könne, so töricht wäre es, ihm für seine Zeit eine bahnbrechende Bedeutung abzusprechen. Sein erstes unvergessenes Verdienst erwarb er sich durch seine Allgemeine Naturgeschichte, worin er die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes abzuhandeln unternahm. Er wies darin die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse nach und gab damit einen folgenreichen Anstoß.

Diese erste Schrift Kants erschien bereits im Jahre 1755. Ein Vierteljahrhundert später, im Jahre 1781, veröffentlichte er seine „Kritik der reinen Vernunft", durch die er eine befreiende Tat vollbrachte. Er zertrümmerte die dogmatische Philosophie, die an deutschen Universitäten aufgewuchert war, zur Zeit, wo in den westeuropäischen Kulturvölkern mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise die materialistische Weltanschauung neu erwacht war und namentlich in Frankreich glänzende Schlachten gegen den höfischen, feudalen und klerikalen Despotismus schlug. Die dogmatische Philosophie war nichts anderes als eine verkappte Theologie, ja sie war noch gemeingefährlicher als die echte und offene Theologie, die einfach verlangte, dass an Gott und Unsterblichkeit geglaubt werden müsse, ohne Prüfung des Verstandes, während die dogmatische Philosophie durch angeblich vernünftige Gründe beweisen wollte, was außerhalb der menschlichen Erkenntnis liegt. Kant selbst hatte in seinen jungen Jahren dieser Philosophie gehuldigt, aber der englische Skeptizismus, eine Philosophie, die überhaupt an der Erkennbarkeit der Dinge zweifelte, erregte in ihm Bedenken, die ihn dann dazu führten, die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu prüfen.

Der Kern seiner neuen Lehre bestand darin, dass die ganze Erscheinungswelt, wie wir sie mit unseren Sinnen und unserem Verstande auffassen, vollständig durch die Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes bestimmt werde und dass wir daher das wahre Wesen der Dinge (das „Ding an sich") nicht erkennen könnten, dass aber unsere Erkenntnis deshalb doch keineswegs wertlos und zweideutig, sondern vielmehr durch unabänderliche Gesetze geregelt, notwendig und von unserem Wesen unzertrennlich sei. Diese empirische Erkenntnis (Erkenntnis durch Erfahrung) ist die einzige Art, wie wir von den Dingen überhaupt etwas erfahren, wenn sie uns auch die Dinge nicht so zeigt, wie sie sind, sondern wie der Mensch sie vermöge seiner Organisation notwendig sehen muss. Die Philosophie, die diese Schranken übersteigen will, gerät notwendig in Irrtümer, so namentlich, wenn sie beweisen will, dass unseren Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit eine außerhalb liegende Wirklichkeit entspricht.

Die Zertrümmerung der dogmatischen Philosophie, die Kant auf diese Weise vollzog, war ein großer historischer Fortschritt, aber seine Erkenntnistheorie war an sich keineswegs neu. Ihr Grundgedanke, dass wir die Dinge nicht erkennen, wie sie sind, sondern wie sie unseren Sinnen erscheinen, war lange vor Kant von anderen Philosophen, ja schon von den Denkern des griechischen Altertums ausgesprochen worden; eigentümlich war nur die Nutzanwendung, die Kant aus dem Gedanken zog, dass wir die Welt nicht unmittelbar erkennen, sondern nur durch unsere unvollkommenen Sinne. Er vernichtete dadurch den Anspruch der dogmatischen Philosophie, auf vernünftigem Wege das Dasein Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit zu beweisen, aber er tat es aus einem Grunde, den er ganz offen mit den Worten aussprach: Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen. Wenn er in seiner „Kritik der reinen Vernunft" Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zur Vordertür hinaus spedierte, so spedierte er sie in seiner „Kritik der praktischen Vernunft" zur Hintertür wieder hinein. Er sagte nämlich: Wenn wir die „Dinge an sich" auch nicht erkennen können, so müssen wir sie uns denken können, und da bringt die praktische Vernunft, die über der reinen Vernunft steht, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als notwendige Forderungen hervor.

Soweit Kant mit seinem „Ding an sich" nur einen Grenzbegriff setzen, soweit er nur sagen wollte: Es gibt eine Grenze der menschlichen Erkenntnis, der menschliche Geist wird niemals alle Geheimnisse der Natur erschließen, mag er noch so riesige Fortschritte in der Erkenntnis der Natur machen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Das haben auch viele andere Leute gesagt, zum Beispiel Goethe. Soweit aber Kant mit seinem „Ding an sich" eine allgemeine Begrenztheit alles menschlichen Wissens behaupten wollte, um dem Glauben größeren Platz zu verschaffen, hat seine Erkenntnistheorie nur historische, aber nichts weniger als allgemeingültige Bedeutung.

Kant schloss an seine Forderung, dass Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, wenn nicht erkannt, so doch gedacht werden könnten, seine Sittenlehre, seine Ethik an. In ihr ist es ihm nach seinem eigenen Worte nicht darum zu tun, Gründe anzugeben von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen solle, ob es gleich niemals geschehe. Diese Gesetze erfindet Kant nun aus freier Faust, wenn auch beeinflusst von der Halbschlächtigkeit der bürgerlichen Aufklärung, wie sie in Deutschland herrschte.

Mit einem Fuße steht Kants Ethik noch auf dem Boden der christlichen Religion: Seine Lehre von dem radikal Bösen der Menschennatur war weiter nichts als das theologische Dogma von der dem Menschen angeborenen Erbsünde, und ebenso war sein kategorischer Imperativ, das heißt die unbedingte Gültigkeit des Sittengesetzes, dessen Befehlen sich niemand entziehen dürfe, den mosaischen Zehn Geboten entlehnt, mit ihrer imperativen, das heißt befehlenden Form: Du sollst. Kant meinte, eine Handlung des Menschen habe erst dann echten moralischen Wert, wenn sie lediglich aus Pflicht und bloß um der Pflicht willen geschehe, ohne irgendeine Neigung zu ihr. Der Wert eines Charakters hebe erst dann an, wenn jemand ohne Sympathie des Herzens, kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer, und nicht eigentlich zum Menschenfreunde geboren, doch bloß der leidigen Pflicht wegen Wohltaten spende. So dass ein Geizhals, der sich einen Pfennig Almosen für einen Bettler abringt, tugendhaft handelt, nicht aber ein Arbeiter, der dem Wohle seiner Klasse in begeisterter Hingebung Gesundheit und Leben opfert. Diese richtige Philisterschrulle ist denn auch selbst von Kants Bewunderern Schiller und Schopenhauer weidlich verspottet worden.

Mit dem anderen Fuße steht Kants Ethik allerdings auf dem Boden der Französischen Revolution, zu der er sich auch noch nach ihrer Schreckenszeit bekannt hat, wenngleich er auch hier nicht von dem Widerspruche frei ist, grundsätzlich das Recht des Widerstandes gegen den Despotismus zu verwerfen. Gerade der Satz, wegen dessen Kant von seinen unbedingten Bewunderern als „der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus" gepriesen wird, gehört durchaus dem Gedankenkreise der Französischen Revolution an. Dieser Satz lautet: Handele so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, nie bloß als Mittel gebrauchst. Für den historischen Blick ergibt sich dieser Satz Kants sofort als der ideologische Ausdruck der ökonomischen Tatsache, dass die Bourgeoisie, um ein für ihre Zwecke taugliches Ausbeutungsobjekt zu erlangen, die Arbeiterklasse nicht bloß als Mittel gebrauchen, sondern auch als Zweck setzen, das heißt sie im Namen der Menschenfreiheit und Menschenwürde von den feudalen Fesseln der Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft befreien musste. Anders hat es Kant auch gar nicht gemeint, denn er forderte volle Freiheit und Selbständigkeit nur für die Staatsbürger, aber nicht für die Staatsgenossen, zu denen er die ganze arbeitende Klasse rechnete, die Gesellen bei einem Handwerker oder einem Kaufmann, die privaten Dienstboten und Tagelöhner, auch alle Frauenzimmer, und nicht zuletzt die Bauern, die doch die bürgerliche Revolution befreien musste und auch befreit hat.

Kants Ethik war schon bei ihrem Erscheinen mehr oder weniger historisch überholt. Für die Gegenwart genügt es zu sagen, dass ihre engen und kleinen Maßstäbe nicht entfernt an die großen sittlichen Forderungen des proletarischen Klassenkampfes heranreichen.

Dagegen hat sich Kant noch ein großes Verdienst erworben durch seine Begründung der modernen Ästhetik. Zwischen die Erscheinungswelt, die den menschlichen Willen den Gesetzen der Natur unterwirft, das Reich dessen, was ist, und die moralische Welt, worin der freie Wille des Menschen herrscht, das Reich dessen, was sein soll, stellte er in seiner Kritik der Urteilskraft als verbindendes Glied das Reich der Kunst.

Hatte die bisherige Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung der Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt oder sie als eine verhüllende Form der Philosophie betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in einem tief durchdachten, ebendeshalb auch künstlich konstruierten, aber an freien und weiten Ausblicken reichen System.

Quellen. Eine historisch-kritische Darstellung des preußischen Despotismus in seinem Zusammenhange mit der klassischen Literatur bei Mehring: Die Lessing-Legende, herausgegeben im Stuttgarter Parteiverlage. Eine Darstellung der klassischen Literatur und Philosophie vom historisch-materialistischen Standpunkte fehlt leider noch. Mehring: Schiller, im Leipziger Parteiverlage. Aus Mangel an eingehenderer Darstellung sei auch hingewiesen auf Mehring: Johann Gottfried Herder, Neue Zeit 22', 321 ff., und „Immanuel Kant", ebenda 221, 553 ff. sowie „Kant und Marx", ebenda 22% 658 ff. (Erinnerungsartikel zu den hundertsten Todestagen Herders und Kants.) Eingehend kritisiert das nationale und das soziale Königtum der Hohenzollern Maurenbrecher: Die Hohenzollern-Legende, im Verlage des Vorwärts. Die beiden Bände enthalten viel Material, namentlich aus den Schriften der Schmollerschen Schule, doch handhabt der Verfasser die historisch-materialistische Methode noch unsicher.

1 In einem Brief an Friedrich Nicolai vom 25. August 1769. Ausführlicher in Franz Mehring: Die Lessing-Legende, Bd. 9 der „Gesammelten Schriften", Dietz Verlag, Berlin 1963, S. 297.

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