Franz Mehring 18990411 Der Maiaufstand in Dresden

Franz Mehring: Der Maiaufstand in Dresden

11. April 1899

[Der wahre Jacob, Nr. 332, 11. April 1899. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 120-127]

Als der preußische König am 3. April 1849 die papierene Krone der Frankfurter Paulskirche zerriss, zerschellte die geträumte Souveränität der deutschen Nationalversammlung an der wirklichen Souveränität der deutschen Dynastien. Aber die Souveränität der Nationalversammlung floss aus der Souveränität der Nation, die sich nach dem kläglichen Untergange ihrer Vertretung vor die Frage gestellt sah, ob sie sich wieder, wie vor den Märztagen, als willenlose Schafherde in den Willen der Fürsten fügen wolle.

Soviel stand von vornherein fest, dass ein revolutionärer Aufschwung, wie ein Jahr vorher, nicht mehr möglich war. Die ökonomische Krisis, der wirksamste Hebel der Märzrevolution, begann dem industriellen Aufschwünge zu weichen; die Klassenkämpfe der Revolution selbst hatten die oppositionellen Klassen untereinander tief verfeindet; endlich saß in Österreich und in Preußen die Gegenrevolution viel zu fest im Sattel, als dass sie in einem raschen Anlauf auf die platte Erde gesetzt werden konnte. Unbedingt wurde die Souveränität der Nation nur noch verfochten von dem klassenbewussten Teile des Proletariats, von den klarsten und tapfersten Elementen des Kleinbürgertums und von einzelnen Ideologen der Bourgeoisie, alles in allem einer verschwindenden Minderheit des Volkes, die obendrein fast überall, wo sie verhältnismäßig noch ein starkes Gewicht in die Waagschale werfen konnte, an Händen und Füßen geknebelt war. Die Gegenrevolution hatte sich eben gut vorgesehen; weder am Rheine noch in Schlesien fehlte es an revolutionären Zuckungen, doch wurden sie durch eine erdrückende Militärmacht sofort im Keime erstickt.

Nur in zwei kleineren Staaten rief das Ringen um die Reichsverfassung revolutionäre Kämpfe von größerem Umfange hervor: in Sachsen, dem großindustriellen, und in Baden, dem kleinbürgerlichen Typus der deutschen Mittelstaaten. Die Reichsverfassung selbst war dabei nicht sowohl das Ziel als das Banner des Kampfes: Die badische Regierung hatte sie anerkannt, während in der sächsischen Kammer gerade die Vertreter der Bewegungspartei1 gegen sie protestiert hatten. Das preußische Kaisertum war den Streitern der Reichsverfassungskampagne2 nicht einen Schuss Pulver, geschweige denn einen Tropfen Blut wert: Sie kämpften für die Souveränität der Nation, deren bloßes Symbol die Reichsverfassung war. Hätten sie gesiegt, so wären sie über dies Symbol hinweg geschritten um der Sache willen, die sich einstweilen in ihm verkörperte. „… denjenigen, denen es ernst war mit der Bewegung, war es nicht ernst mit der Reichsverfassung …"3, sagte Engels einfach und treffend. Freilich hatte diese Medaille auch die gleichfalls von Engels aufgezeigte Kehrseite: „die, denen es ernst war mit der Reichsverfassung, war es nicht ernst mit der Bewegung."4 Darin lag ein Widerspruch, woran die Reichsverfassungskampagne scheitern musste, selbst wenn sie sich sonst unter den günstigsten Bedingungen hätte entwickeln können; im denkbar erfolgreichsten Falle wäre sie nicht ein Abschluss alter, sondern ein Anfang neuer Kämpfe geworden. Was ihr dennoch ein rühmliches Andenken in der Geschichte sichert, war ihr Charakter als letzter tapferer Kampf der deutschen Revolution. Sie begann mit dem Maiaufstande in Dresden.

Das Königreich Sachsen bot in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts das Bild eines Staates, der seinem Inhalt nach wesentlich industriell, seiner Form nach wesentlich feudal war. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Gründe davon zu entwickeln; genug, die sozialen Reformen, die das in seinem Kerne feudale Königreich Preußen schon zur napoleonischen Zeit durchgeführt hatte, wurden in Sachsen erst durch die Bewegung von 1830 nachgeholt, nunmehr freilich viel gründlicher, als sie bis dahin in dem größeren Nachbarstaat verwirklicht worden waren. Von 1830 bis 1843 herrschte in Sachsen eine Art von patriarchalischem Absolutismus, der den materiellen Wohlstand des Landes zu fördern und dadurch das politische Selbstbewusstsein der Bevölkerung einzuschläfern wusste; als dann dies Selbstbewusstsein dennoch in den vierziger Jahren wie überall in Deutschland erwachte, kehrte auch die sächsische Dynastie, wie alle deutschen Dynastien, die raue Seite heraus.

Hauptherde der politischen Bewegung waren das Vogtland und das mittlere Erzgebirge mit ihrer starken Fabrikbevölkerung, daneben das sogenannte Schönburgische, ein unter der besonderen Hoheit der Fürsten und Grafen von Schönburg stehender Landesteil, dessen Bewohner unter doppelten Lasten seufzten. Der obere und der untere Teil des Erzgebirges, die hauptsächlich auf den Bergbau angewiesen waren, verhielten sich noch sehr ruhig; Freiberg ist erst durch das Jahr 1848 um den Ruf einer gut königlich und ministeriell gesinnten Stadt gekommen. Auch das fruchtbare Flachland des Leipziger und des Dresdener Kreises hielt sich im Ganzen zurück; direkt reaktionär war großenteils die Lausitz, die ihre besonderen Einrichtungen und Überlieferungen besaß. Unter den Städten des Landes hatte Leipzig den weit überwiegenden Einfluss, der sich bis zu einem gewissen Grade sogar über ganz Deutschland erstreckte. Es gab hier eine liberale und eine radikale Richtung, die oft ineinander flossen, wie denn in vormärzlicher Zeit ja überhaupt noch keine scharfen Parteiunterschiede bestanden. Anscheinend überwog die radikale Richtung, aber tatsächlich war sie die schwächere. Neben einer ziemlich wohlhabenden Handwerkerklasse stützte sie sich in erster Reihe auf das Heer von Literaten, die sich, zum Teil aus ihren Heimatländern vertrieben und in unsicherer Lebensstellung, in der Metropole des deutschen Buchhandels zusammengefunden hatten und von hier aus die Presse in ganz Deutschland beeinflussten. Sehr viel stiller, aber sehr viel mächtiger war die intelligente Kaufmannsklasse der reichen Handelsstadt, die nicht über einen „besonnenen und zeitgemäßen" Fortschritt, nicht über die Forderungen eines gemäßigten Liberalismus hinausgehen wollte. Aber selbst dahinter blieb Dresden in vormärzlicher Zeit noch sehr zurück; die weitreichenden Einflüsse des Hofes und einer zahlreichen Beamtenklasse, denen nur ein mäßig gebildetes und wenig wohlhabendes Bürgertum gegenüberstand, ließen hier nicht einmal einen schwachen Liberalismus aufkommen. In der jüngeren Generation der sächsischen Hauptstadt begann sich allerdings eine radikalere Strömung geltend zu machen, doch hatte sie einstweilen keinen besonderen Einfluss.

Es war denn auch nicht Dresden, sondern Leipzig, das durch gemeinsames Vorgehen seiner liberalen und radikalen Elemente nach Ausbruch der Pariser Februarrevolution beim Könige die Ernennung liberaler Märzminister durchsetzte. Diese Minister waren, wie alle ihresgleichen, nicht Fisch und nicht Fleisch, ängstlich nach oben, misstrauisch nach unten schielend; sie blieben in ohnmächtigen Anläufen stecken und waren nach Jahresfrist abgetan. Darüber hatte die radikale Bewegung im Lande sehr an Kraft gewonnen; sie wuchs sogar ihrem alten Führer Blum über den Kopf, der bei aller Ehrlichkeit und Energie doch ganz und gar in bürgerlichen Anschauungen lebte. Im sächsischen Landtage bildete sich eine sozialdemokratische Fraktion, sozialdemokratisch freilich noch nicht im heutigen proletarisch-revolutionären, sondern im damaligen kleinbürgerlich-proletarischen Sinne des Wortes; neben den bürgerlich-radikalen, das ganze Land umspannenden Vaterlandsvereinen tat sich ein Demokratischer Volksverein auf, der von sozialistischen Literaten geleitet wurde, auch er allerdings nur mit dem Programm: soziale Reformen, aber kein Kommunismus! Viel wichtiger war, dass der Berliner Arbeiterkongress vom August 1848 die Zentralleitung der Arbeiterbewegung im östlichen Deutschland nach Leipzig verlegt hatte, von wo namentlich Stephan Born in Schrift und Wort eine rührige Propaganda betrieb, die wenigstens in der Hauptsache vom Geiste des Kommunistischen Manifestes beseelt wurde.

So waren die kleinbürgerlichen und proletarischen Klassen des Königreichs Sachsen verhältnismäßig gut organisiert und noch durch keine Niederlage geschwächt, als die Katastrophe über die Frankfurter Nationalversammlung hereinbrach. In der Forderung, die Reichsverfassung anzuerkennen, waren die sächsischen Liberalen und Radikalen einig, aber keineswegs in den Gründen dieser Forderung. Die Liberalen wollten damit „die Revolution schließen", obendrein unter der Voraussetzung, dass es sie weder Gut noch Blut koste, die Radikalen aber wollten die Souveränität des Volkes schützen, nicht wegen, sondern trotz der Reichsverfassung. Born sprach es offen aus: „Solange es sich nur um die Reichsverfassung handelte, erwarteten wir vom Volke keine Erhebung, denn es gibt nichts Widersinnigeres, als durch eine Revolution einen König zwingen zu wollen, dass er eine Krone annehme. Jetzt ist die Frage eine andere: Steht es den Fürsten zu, mit den Vertretern des Volkes zu spielen und sie auseinanderzujagen, wenn es ihnen so beliebt? Das Volk hat das Recht, seinen Abgeordneten in Frankfurt die entschiedene Missbilligung ihres bisherigen Verhaltens kundzugeben; wir, die Wähler, haben das Recht, sie zurückzuberufen oder sie auseinanderzujagen, wenn sie nicht gehen wollen, aber den Fürsten steht dieses Recht nicht zu. Indem wir die Frankfurter Versammlung unterstützen, unterstützen wir die Volkssouveränität und nichts anderes." In diesem Geiste haben sich die sächsischen Arbeiter an dem Dresdener Maiaufstande beteiligt.

Die lärmenden Kundgebungen der sächsischen Bourgeoisie für die Reichsverfassung hatten wenigstens das eine Gute, die Aufregung über den boshaften und hartnäckigen Widerstand der Regierung, an deren Spitze nach der Abwirtschaftung der Märzminister der Diplomat von Beust stand, bis in die weitesten Kreise der Bevölkerung zu tragen. Deputationen und Petitionen aus allen Teilen des Landes bestürmten den König, der nach anfänglichem Schwanken dabei beharrte, die Reichsverfassung nicht anzuerkennen. Er wurde darin von Berlin aus gesteift, wo die Gegenrevolution nunmehr entschlossen war, die revolutionäre Bewegung in den Mittel- und Kleinstaaten mit überwältigender Macht niederzuschlagen, in der trügerischen Hoffnung, darnach von den dankbaren Fürsten die preußische Hegemonie über Deutschland anerkannt zu sehen.

Die sächsischen Kammern waren am 30. April geschlossen worden, nachdem sie sich für die Reichsverfassung erklärt hatten; am 3. Mai wurde eine Parade der Dresdener Bürgerwehr verboten, weil dabei ein feierliches Hoch auf die Reichsverfassung ausgebracht werden sollte. An demselben Tage kam es am Zeughause zum ersten blutigen Zusammenstoß. Ein hölzernes Gittertor wurde von den andrängenden Massen eingestoßen, worauf die Besatzung sofort eine Salve abgab und vier Menschen tötete. Nunmehr versuchte die Menge das Zeughaus zu stürmen und stieß eben ein zweites Tor auf, als ein Kartätschenschuss heraus krachte, mitten in ein Bataillon Bürgerwehr hinein, das zur Zerstreuung des Volks heranrückte. Zwanzig Menschen stürzten, darunter vierzehn Tote. Die Wirkung war ähnlich wie bei den zwei Schüssen, die am 18. März auf dem Berliner Schlosshofe fielen: Im Nu war der offene Kampf entbrannt. Die Regierung, die in Dresden selbst nur etwa über 2000 Mann Truppen verfügte und diese Zahl durch Zuzüge aus Chemnitz und Leipzig nicht viel mehr als verdoppeln konnte, rief sofort durch Eilboten die preußische Hilfe an, während der Aufstand die ganze Altstadt mit mehr als hundert Barrikaden bedeckte, die zum Teil äußerst kunstreich erbaut waren. Eine hatte der berühmte Baumeister Gottfried Semper errichtet, der ebenso wie die Kapellmeister August Rockel und Richard Wagner leidenschaftlichen Anteil an dieser Volkserhebung nahm.

In der Frühe des 4. Mai floh der König auf den Königstein. Die Neustadt hielt die Regierung noch besetzt, aber von der Altstadt befanden sich nur das Schloss und das Zeughaus in der Gewalt der teilweise unsicheren Truppen. Es ist den Aufständischen als schwerer Fehler angerechnet worden, dass sie sich am 4. Mai auf einen Waffenstillstand bis zum nächsten Tage einließen, und tatsächlich hat auch die Regierung den größeren Vorteil daraus gezogen, indem sie die erschütterte Disziplin befestigte und frische Truppen heranzog. Doch darf nicht übersehen werden, dass auch der Aufstand, wenn er sich mit einiger Aussicht auf Erfolg halten wollte, des Massenzuzugs aus dem Lande bedurfte, dass er Munition und Waffen heranschaffen musste: Die Bürgerwehr hatte sich, sobald erst einmal Blut geflossen war, vorsichtig zurückgezogen, und auf den Barrikaden standen weit überwiegend Arbeiter mit ihren muskulösen, aber nackten Armen. Was eine Stadt, wie das damalige Dresden, an Rekruten lieferte, war schnell erschöpft, und zunächst rettete den Aufstand wirklich der Zuzug industrieller und ländlicher Arbeiter aus der Umgegend: Dann kam manche Hilfe aus weiterer Ferne, Maschinenbauarbeiter aus Chemnitz und mehrere hundert Bergleute aus den Kohlendistrikten von Burgk, die einige Böller mitbrachten, die einzige und ziemlich wirkungslose Artillerie des Aufstands. Aber eine durchgreifende Hilfe des Landes blieb aus; die Leipziger Bürgerwehr versagte wie die Dresdener; trotz heftiger Anstrengungen, die Ruge und andere Literaten machten, zeigte sich jetzt, dass in einer großen Handelsstadt das Kaufmannskapital das entscheidende Wort hat, und dies Kapital lässt sich auf so aussichtslose und waghalsige Sachen nicht ein, wie der Dresdener Maiaufstand war.

Nach den zuverlässigsten Berichten ist die Zahl der Aufständischen nie über 3000 Kämpfer gestiegen. Sie waren teilweise ganz ungenügend und durchweg schlechter bewaffnet als ihre Gegner, die durch den preußischen Zuzug schließlich zu einer fünffachen Übermacht heranwuchsen. Damit erledigt sich auch der andere Vorwurf, der besonders von militärischer Seite den Aufständischen gemacht worden ist, dass sie nämlich keine Angriffe gegen die Neustadt unternommen, sondern sich auf die Verteidigung der Altstadt beschränkt haben, wobei sie auf die Dauer erdrückt werden mussten; sie haben niemals über so viele Streitkräfte verfügt, als zur Ausführung aller der militärischen Maßregeln nötig gewesen wären, die ihnen zugemutet worden sind.

Jedoch soll keineswegs bestritten werden, dass die Leitung des Aufstandes manches zu wünschen übrig ließ. Nach der Flucht des Königs hatte sich auf dem Rathause eine provisorische Regierung eingerichtet, deren drei Mitglieder den drei oppositionellen Fraktionen des Landtags entnommen waren; in so drängenden Umständen hat es aber keinen Sinn, die Regeln der parlamentarischen Etikette zu beobachten, und weder der liberalisierende Bürokrat Todt noch der wohlwollende Parlamentler Heubner waren die rechten Männer am rechten Platze. Einzig der radikale Advokat Tzschirner bewies revolutionäre Energie, aber auch er beging den verhängnisvollen Fehler, den militärischen Oberbefehl dem ehemals griechischen Oberstleutnant Heinze zu übertragen, einem Feigling und Prahler, wenn nicht gar Verräter. Heinze fiel am 7. Mai in die Hände der Truppen, vermutlich freiwillig, und sein Nachfolger wurde Born, der bis dahin die Barrikade in der Schlossstraße, dem Dardanellenpasse zwischen Schloss und Rathaus, den feindlichen Hauptquartieren, mit einem Geschicke verteidigt hatte, das er nun auch in seiner neuen Stellung durchaus bewährte. Als die eigentlich treibende Kraft in der Leitung des Aufstandes hat von jeher Michail Bakunin gegolten, doch bestreitet ihm Born in seinen Denkwürdigkeiten diesen Anspruch; mit welchem Rechte, muss hier dahingestellt bleiben.

In jedem Falle war die ehrenvollste Seite dieses Aufstandes die ungemein tapfere und zähe Verteidigung der Barrikaden, und diesen Ruhm teilt jeder der namenlosen Kämpfer mit dem erprobtesten Führer. Vier Tage, vom Morgen des 5. bis zum Morgen des 9. Mai, haben sich diese ungeübten und schlecht bewaffneten Soldaten der Revolution gegen einen Feind gehalten, von dem sich schwer sagen lässt, ob er ihnen an Waffen oder an Zahl oder an militärischer Ausbildung überlegener war. Dabei befleckt kein Diebstahl und keine Plünderung, keine Misshandlung und kein Mord den reinen Schild ihrer Ehre, während die Schwerter, die für Thron und Altar und alle sonstigen heiligen Güter gegen sie gezogen wurden, mit diesen und anderen Gräueln über und über besudelt worden sind. Die Retter der Gesellschaft mordeten, was ihnen vor die Klinge kam, stießen wehrlose Gefangene in die Elbe, massakrierten selbst einen österreichischen Offizier, den sie im Krankenbette eines Hotels fanden, und plünderten unbarmherzig die feigen Philister, die ihnen während des Kampfes Speis und Trank zugetragen hatten.

Am Morgen des 9. Mai, als die Stadt fast ganz eingeschlossen, nur noch eine Straße frei und jede Hoffnung auf Entsatz durch das Land geschwunden war, gab Born den Befehl zum Rückzüge. Gegen 2000 bewaffnete Kämpfer zogen auf der Straße nach Freiberg ab. Andere lagen noch in allen Räumen des Rathauses zerstreut in schwerem Schlafe, todmüde nach mehrtägigem ununterbrochenem Dienst, der bei mangelhafter Ernährung getan worden war. „Ich ließ", so erzählt Born selbst, „in dem geschlossenen Raum die Trommel schlagen; sie tönte, als gälte es, Tote aus dem Grabe zu erwecken – umsonst! Einige Rathausbeamte halfen mit, den einen und anderen emporzuzerren. Wir schüttelten sie, ich schrie ihnen ins Ohr, sie dürften jetzt nicht schlafen, sie müssten zum Aufbruche bereit sein. Sobald ich sie losließ, fielen sie wie die Klötze wieder um und schliefen weiter. Sie waren nicht mehr zu retten, sie gerieten fast alle in Gefangenschaft." Und als sich die Masse der Dresdener Maikämpfer in Freiberg zerstreut hatte, um sich in kleinen Trupps vor den Verfolgern zu retten, wurden noch manche andere gefangen, so Bakunin, Heubner, Rockel, während Born mit Mühe und Not den sächsischen Gardereitern entkam.

An den Gefangenen nahm die sächsische Regierung eine teuflische Rache. Verurteilt durch eine ehrlose Justiz, wurden sie ins Zuchthaus von Waldheim gesperrt, vermutlich die scheußlichste aller scheußlichen Folterkammern, worin Freiheitskämpfer dieses Jahrhunderts gequält worden sind. Es gab dort ein Dutzend Disziplinarstrafen, die der Direktor Heink, ein feiger und grausamer Wicht, ganz nach seinem Ermessen für die unbedeutendsten Verstöße gegen die Hausordnung oder rein aus Laune über die politischen Gefangenen verhing: Kostentziehung; einfachen Arrest; Dunkelarrest; hartes Lager; Krankenkost dritter Klasse; Springer; Krummschließen; Klotztragen; Lattenarrest; Rutenstreiche; Stockschläge; Kantschuhiebe. Drei Kantschuhiebe durfte jeder Aufseher nach eigener Willkür austeilen. Der Springer bestand aus zwei schweren, mit Ketten verbundenen Fußringen von Eisen, die so lange getragen werden mussten, bis die Eisen die Haut abgeschunden und eine bis auf die Knochen reichende Eiterung erzeugt hatten. Die Krankenkost dritter Klasse beschränkte sich auf eine Tagesration von sechs Lot Semmel. Der polnische Major Badiczki erhielt einmal sechzig Stockschläge in einem Zuge, weil er in der Wollschlägerei das bestimmte Pensum nicht abgeliefert hatte; nach den Stockprügeln bekam er noch hartes Lager und Krankenkost dritter Klasse auf vier Wochen zudiktiert. Rockel, der ein ergreifendes Buch über diese Hölle auf Erden veröffentlicht hat, wurde einmal vier Wochen lang zwölf Stunden täglich in einen eisernen Käfig gesperrt, v/o er weder liegen noch sitzen, sondern nur stehen konnte. „Keinen Strahl des Lichts ließ die geschlossene Fensterlade in diesen Käfig, und meine Speise bestand aus einem Pfund Brot täglich." Viele der Unglücklichen erlagen den unmenschlichen Misshandlungen, andere haben sie überstanden, Heubner zehn, Rockel sogar elf Jahre.

In erster Reihe verantwortlich für diese Taten, die den Namen der Menschheit schänden, war der Minister v. Beust. Er wusste alles, aber er schützte sein Werkzeug Heink vor jeder Anfechtung. Und so schnell vergisst der deutsche Philister, dass schon im Jahre 1864 demselben Beust für seine heuchlerische und zweideutige Rolle in der schleswig-holsteinischen Krisis ein Nationalgeschenk gespendet werden sollte. Da veröffentlichte die Wochenschrift des Nationalvereins einen Artikel: 22.000 Prügel und das Nationalgeschenk für Beust, worin die Geheimnisse des Zuchthauses in Waldheim enthüllt wurden. Mit dem Nationalgeschenk war es vorbei, aber zu den höchsten Würden der europäischen Diplomatie hat es Beust dennoch gebracht. Nur in der wahrhaftigen Geschichtschreibung trägt sein Name ein Brandmal für immer.

1 Gemeint sind die Vertreter der kleinbürgerlichen Linken, der sogenannten demokratischen Bewegung, im Gegensatz zu den Vertretern der liberalen Bourgeoisie.

2 Die Regierungen fast aller deutschen Staaten weigerten sich, die am 28. März 1849 von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Reichsverfassung anzuerkennen. Zu ihrer Verteidigung erhoben sich die Volksmassen von Mai bis Juli 1849 zum bewaffneten Kampf in der Rheinprovinz, in Dresden, Baden und der Pfalz unter kleinbürgerlich-demokratischer Führung. Der badisch-pfälzische Aufstand, bei dem zum ersten Mal in größerem Umfang eine revolutionäre Volksarmee organisiert wurde, bildete den Höhepunkt der Revolution. Die Aufstände wurden mit Hilfe preußischer Truppen blutig niedergeschlagen. Damit endete die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49.

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