Franz Mehring 19020400 Deutschland und Europa

Franz Mehring: Deutschland und Europa

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. Herausgegeben von Franz Mehring, Dritter Band, Stuttgart 1920, S. 13-16. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 29-34]

Wie die preußische Revolution im Mittelpunkte der deutschen, so stand die deutsche im Mittelpunkte der europäischen Revolution. Es hing von ihrer Entwicklung ab, ob die Revolution in Italien, in Ungarn, in Polen siegte, ob die in Russland verkörperte Gegenrevolution lahmgelegt wurde, ob das westeuropäische Proletariat, das in London am 10. April mit der großen Chartistendeputation1 gescheitert war und in Paris vor einer furchtbaren Niederlage stand, eine freie Bahn der Entwicklung gewann.

Die „Neue Rheinische Zeitung" verlor diese europäischen Zusammenhänge nie aus den Augen. Engels hat später von dem Blatte gesagt, seine auswärtige Politik sei einfach gewesen. „Eintreten für jedes revolutionäre Volk, Aufruf zum allgemeinen Krieg des revolutionären Europas gegen den großen Rückhalt der europäischen Reaktion – Russland. Vom 24. Februar an war es uns klar, dass die Revolution nur einen wirklich furchtbaren Feind habe, Russland, und dass dieser Feind um so mehr gezwungen sei, in den Kampf einzutreten, je mehr die Bewegung europäische Dimensionen annahm … Gelang es aber, Deutschland zum Krieg gegen Russland zu bringen, so war es aus mit Habsburg und Hohenzollern, und die Revolution siegte auf der ganzen Linie."2 So einfach war diese Politik nun aber doch nicht; gleich die erste Volkserhebung, die sie zu registrieren hatte, stellte der „Neuen Rheinischen Zeitung" ein verzwicktes Problem: der Prager Aufstand nämlich, der am 12. Juni ausbrach und von dem Fürsten Windischgrätz niedergeschlagen wurde.

Der Slawenkongress, der damals in Prag tagte, war seinen Tendenzen und seinem Ursprung nach keineswegs eine revolutionäre Versammlung. Man konnte ihn viel eher reaktionär nennen, insofern als er seine Spitze gegen die revolutionären Elemente des österreichischen Völkerchaos richtete, gegen die Deutschen und die Ungarn, als er seinem Wesen nach panslawistisch war. Viele seiner Teilnehmer hatten sehr reaktionäre Neigungen; sie waren zur Unterstützung der Dynastie gegen die deutschen und ungarischen Rebellen bereit und rechneten ihrerseits auf die Unterstützung der Gegenrevolution, selbst auf „den Vetter, der den großen Brummbass spielt", wie der damals gefeiertste tschechische Publizist den Zarismus taufte. Freilich gab es auch eine demokratische Spielart des Panslawismus, die auf dem Prager Slawenkongress durch Bakunin, den einzigen Russen, der daran teilnahm, und einige Polen vertreten wurde; ihnen gelang es, dem Manifeste, das der Kongress an die europäischen Nationen richtete, einen demokratisch-revolutionären Schleier überzuwerfen, ohne jedoch damit den panslawistischen Pferdefuß ganz zu verhüllen.

Unklar wie dies Manifest war auch der Prager Straßenkampf, der den Verhandlungen des Slawenkongresses ein vorzeitiges Ziel setzte. Die allgemeine Erregung in der von nationalen Gegensätzen zerrissenen Stadt, der Rückschlag der Wiener Bewegung, die eben den Kaiser zur Flucht nach Innsbruck veranlasst hatte, auf die demokratische Fraktion der tschechischen Partei, militärische Herausforderungen des brutalen Tölpels Windischgrätz, nicht zuletzt eine schwere Krisis der böhmischen Textilindustrie wirkten dabei zusammen. Der Kampf war keineswegs so erbittert und hartnäckig, wie es nach den ersten Nachrichten schien, doch war der Sieg des Militärs für die Gegenrevolution so wertvoll, wie er verhältnismäßig leicht war; hatten die Truppen einer Regierung doch zum ersten Male seit dem März einen Volksaufstand in offenem Kampfe besiegt.

Die „Neue Rheinische Zeitung" trat nun unbedingt für den Prager Aufstand ein; sie verlangte Böhmen für die Tschechen, wie Polen für die Polen, Ungarn für die Ungarn, Italien für die Italiener. Sie sagte richtig voraus, dass die Niederlage der Tschechen sie den Russen in die Arme treiben werde, und sie warf die Schuld dafür auf die Deutschen, die auch nach ihrer Revolution die Politik der Völkerunterdrückung fortsetzten, wie sie Metternich getrieben hatte. Diese Auffassung hatte ihren guten Sinn zur Zeit, wo deutsche Volksversammlungen in Böhmen und Sachsen den Fürsten Windischgrätz als den Sachwalter der deutschen Interessen begrüßten und der demokratische Historiker Wuttke, Robert Blums rechte Hand in Leipzig, mit säbelrasselnden Phrasen vor „unzeitiger Humanität" in der Ausbeutung des von Windischgrätz erfochtenen Sieges warnte. Es war schlechthin notwendig, den Deutschen diese altererbte und deshalb um so schmählichere Manie des Völkerschindens auszutreiben, wie es die „Neue Rheinische Zeitung" mit flammenden Worten tat, schlechthin notwendig gerade im Interesse der deutschen Revolution selbst; wie bald hat der Fürst Windischgrätz den Abscheu vor „unzeitiger Humanität", den ihm Blums rechte Hand einzuflößen suchte, an Blum selbst betätigt!

Gewiss hatte die Medaille eine Kehrseite. Die tschechische, wie die slawische Bewegung überhaupt – mit Ausnahme der polnischen Erhebung war in ihrem Kerne reaktionär; es hieß so ziemlich die Dinge auf den Kopf stellen, wenn die „Neue Rheinische Zeitung" den heftigen Widerwillen der Tschechen gegen das deutsche Parlament auf die Mattherzigkeit und Trübseligkeit der Frankfurter Versammlung schob.3 Den Tschechen war diese Versammlung nicht zu reaktionär, sondern zu revolutionär, insoweit wenigstens, als sie deutsch war; ihre hartnäckige Weigerung, sich an den Wahlen für Frankfurt zu beteiligen, ging begreiflicherweise jeder Probe von Mattherzigkeit und Trübseligkeit voraus, die in Frankfurt geliefert wurde. Die revolutionäre Leidenschaft der „Neuen Rheinischen Zeitung" war so unbändig, dass sie bereit war, jedem revolutionären Anlauf eines Volkes mit vollen Händen zu spenden; das hat ihr denn manches Mal, wie sich noch in ihren Urteilen auch über die polnische und die ungarische Revolution zeigen wird, die historischen Gesichtspunkte verschoben. Dies zu bestreiten würde so verkehrt sein, wie es verkehrt ist, der „Neuen Rheinischen Zeitung" deshalb blanquistische Revolutionsspielerei oder die Neigung unterzuschieben, fremde Völker auf Kosten des eigenen Vaterlandes zu verherrlichen. Die deutsche Revolution war verloren, wenn sie sich dazu hergab, die böhmische, die polnische, die ungarische Revolution zu ersticken, die Unterdrückungspolitik des vormärzlichen Despotismus, die sie im Innern abschütteln wollte, nach außen fortzusetzen. Trotz allen nationalen Haders mussten die Deutschen dem Prager Straßenkampfe den Sieg wünschen, schon weil dadurch die demokratische Fraktion der tschechischen Bewegung gestärkt worden wäre; mit dem Siege des Militärs wurde gerade die reaktionäre Tendenz des Panslawismus ausgelöst, mit ihrem unversöhnlichen Deutschenhasse und ihrer fanatischen Anbetung der russischen Knute. Als die österreichischen Slawen, und die Tschechen voran, sich tatsächlich in den Dienst der Gegenrevolution stellten, hat die „Neue Rheinische Zeitung" in ihren Urteilen darüber drastisch genug gezeigt, wie vollkommen frei sie von aller fremdbrüderlichen Begeisterung ins Blaue hinein war.

Am klarsten stellte sich diese Seite der deutschen Revolution in ihren Beziehungen zur italienischen Revolution dar. Hier schüttelte eine Nation, die mindestens auf der gleichen Kulturstufe mit Deutschland stand und mit seinen nationalen Interessen in keinen Konflikt kommen konnte, die Ketten einer unwürdigen Fremdherrschaft ab; hier lag auch nicht der Schatten eines Grundes vor, um die schmählichen Praktiken der Metternich und Konsorten festzuhalten. Gleichwohl fasste die Frankfurter Versammlung den Beschluss, einen italienischen Angriff auf Triest als Kriegsfall zu betrachten. Freilich hatte sie in diesem selbstmörderischen Beginnen einen Genossen an dem ungarischen Reichstage, der sich gleichfalls für die habsburgische Fremdherrschaft in ihrem Kampfe mit der italienischen Nation erklärte. Und doch lagen die Dinge einfach genug. Wie die Verhetzung der Nationalitäten das treibende Prinzip Metternichs gewesen war, so drohte der österreichische Zwangsstaat nach den Märzstürmen in so viele Trümmer zu zerfallen, als er Nationalitäten umfasste. Der Erhaltung des Reichs musste die habsburgische Dynastie alles andere unterordnen, wenn sie am Leben bleiben wollte; brach nur ein Stein heraus, so fiel der ganze Bau zusammen. Die dringendste Gefahr war die Empörung der italienischen Provinzen, und hierher warf die Regierung alle sicheren Truppen, über die sie verfügen konnte. Grillparzers Verse an Radetzky: In Deinem Lager ist Österreich. Wir andern sind einzelne Trümmer, atmeten nicht nur die Feigheit des Philisters und den Servilismus des k. k. Hofrats, sondern auch dichterischen Seherblick. Siegte Radetzky in Italien, dann war für Metternichs Erben die ärgste Not gekehrt. Verbot daher die deutsche Nationalversammlung der italienischen Revolution, die Ausfallstore anzugreifen, aus denen der schwarzgelbe Feldmarschall sie bekämpfte, so war jedes der scharfen Worte, womit die „Neue Rheinische Zeitung" diese Politik geißelte, gerade nur scharf genug.

Heute wissen wir auch, dass ihr Kriegsruf gegen Russland nicht nur den allgemein triftigen Sinn hatte, den sie selbst schon entwickelte und den Engels im Jahre 1884 in ebenso kurzen wie schlagenden Sätzen wiederholt hat.4 Der „Russenschrecken", der im Juni 1848 durch Deutschland ging, war keineswegs so grundlos, wie die reaktionären Geschichtsklitterer glauben machen wollen; das amtliche Memorial ist längst veröffentlicht, worin der Zar Nikolaus sich erbot, mit den russischen Heeren als Reserve zu dienen, wenn der Prinz von Preußen, statt sich zu einer noch so verklausulierten Anerkennung der Revolution und der Berliner Versammlung zu verstehen, sich an die Spitze der Truppen in den östlichen Provinzen setzen und auf Berlin marschieren würde. Es war ganz in der Ordnung, wenn die „Neue Rheinische Zeitung" für diesen Fall erklärte, dass die westlichen Provinzen gemeinsam mit den Franzosen den Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei führen würden, und wenn sie erst in der gewaltsamen Niederwerfung des zarischen Kolosses mit den tönernen Füßen eine sichere Bürgschaft für den dauernden Sieg der Revolution sah.

1 Die Volkscharta (People's Charter) wurde am 8. Mai 1833 als Gesetzentwurf veröffentlicht.

Am 10. April 1848 fand die dritte und letzte Riesendeputation zur Durchsetzung der Volkscharta im Parlament statt. Mit dem Scheitern dieser Aktion zerfiel die Chartistenbewegung.

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