Franz Mehring 19020400 Die deutsche Revolution

Franz Mehring: Die deutsche Revolution

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. Herausgegeben von Franz Mehring, Dritter Band, Stuttgart 1920, S. 6-10. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 7-11]

Es war das Verhängnis der deutschen Revolution, dass sie durch die Niederlage des französischen Bürgerkönigtums1 überstürzt wurde. Sie gewann dadurch eine scheinbar sehr glatte Bahn, allein der schnellere Sturz des vormärzlichen Absolutismus und Feudalismus wurde aus einem Fortschritt ein Rückschritt, indem die plötzlich ans Ruder geworfene Bourgeoisie vor Angst und Konfusion nicht aus noch ein wusste.

Auf die erste Kunde der Februarrevolution krachte es gewaltig in allen deutschen Mittel- und Kleinstaaten, und der elende Bundestag strich sofort die Segel. Am 5. März berief eine Anzahl süddeutscher Liberaler von Heidelberg aus eine Notabelnversammlung nach Frankfurt a. M., um über die Einberufung eines deutschen Parlaments zu beschließen. Als diese Versammlung, das sogenannte Vorparlament, am 30. März in Frankfurt zusammentrat, war am 13. März der alte Sünder Metternich aus Wien vertrieben und namentlich am 18. März die preußische Garde in einem hartnäckigen Straßenkampfe vom Berliner Proletariat aufs Haupt geschlagen worden. Damit hatte die deutsche Revolution festen Boden unter die Füße bekommen, worauf das Vorparlament sicher auftreten konnte. Aber es erschrak vor seiner eigenen Kraft, verzichtete darauf, sich für permanent zu erklären oder eine bewaffnete Macht zu seinem Schutze zu bilden, einigte sich vielmehr mit dem ebenso verächtlichen wie verachteten Bundestage, den die Regierungen durch die Berufung von siebzehn Vertrauensmännern vergebens aufzupolieren suchten, über die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung, der alles überlassen blieb, auch die Entscheidung der Frage, ob sie sich für souverän erklären wolle oder nicht. Ein Fünfzigerausschuss, den das Vorparlament niedersetzte, nachdem es vier Tage lang sehr verworrene Debatten geführt und sehr schlaffe Beschlüsse gefasst hatte, vertrödelte dann an seinem Teile die kostbare Zeit in geschwätzigen Proklamationen oder lächerlichen Kompetenzstreitigkeiten mit dem Bundestage.

Immerhin war die revolutionäre Lage noch vollkommen zu retten, als die deutsche Nationalversammlung am 18. Mai in Frankfurt zusammentrat. Aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen, besaß sie eine unbestrittene Macht; das revolutionäre Feuer brannte in Deutschland noch hell genug, um darin das Eisen ihrer Souveränität zu schmieden. Allein sie begann, womit das Vorparlament geendet hatte, mit leerem Geschwätz, worin auch nicht ein Quäntchen wirklicher Tatkraft zu entdecken war, obgleich sich ihr sofort mehr als eine Handhabe bot, um ihre Souveränität praktisch geltend zu machen.

So hatte die preußische Regierung für den 22. Mai auch nach Berlin eine Versammlung, zur „Vereinbarung" einer Verfassung mit der Krone2, einberufen trotz des Protestes, den der Fünfzigerausschuss dagegen erhoben hatte. Sie forderte nun die für beide Versammlungen gewählten Abgeordneten auf, sich für eins der Mandate zu entscheiden, während Raveaux aus Köln in der Frankfurter Versammlung beantragte, es solle den doppelt Gewählten freistehen, beide Mandate anzunehmen. Seiner Form nach von verhältnismäßig geringer Bedeutung, rührte der Antrag jedoch an die Möglichkeit der Kollision zwischen den beiden Parlamenten und entfesselte eine Redeflut, in der eine Unzahl von Amendements bekundete, wie unklar sich die Versammlung über die Befugnisse war, die sie besaß oder beanspruchen wollte. Auch eine zur Beratung des Antrags niedergesetzte Kommission vermochte keinen Beschluss vor das Haus zu bringen, bis die Verwirrung sich in einen Antrag Werners aus Koblenz verlief, aus dem man die Souveränität der Versammlung bei einigem guten Willen herauslesen konnte, aber bei einigem bösen Willen nicht herauszulesen brauchte, einen Antrag, der seines verwaschenen Charakters wegen zunächst fast gar nicht beachtet worden war, aber aus dem gleichen Grunde zuletzt fast einstimmig unter großem Jubel angenommen wurde.

Eine andere Handhabe zu praktisch revolutionärer Tätigkeit bot sich der Nationalversammlung in einem blutigen Konflikt, der sich dicht vor ihren Toren abgespielt hatte, zwischen der Bürgerwehr und der preußischen Garnison der Bundesfestung Mainz. Der preußische Vizegouverneur, General Hüser, hatte die Entwaffnung der Mainzer Bürgerwehr erzwungen mit der Drohung, die Stadt sonst mit glühenden Bomben zu beschießen. Es war System in der Sache. „Das Projekt des Herrn Hüser", schrieb die „Neue Rheinische Zeitung", „ist nur ein Teil des großen Plans der Berliner Reaktion, die danach strebt, so rasch wie möglich alle Bürgergarden, namentlich am Rhein, zu entwaffnen, allmählich die ganze, erst im Entstehen begriffene Volksbewaffnung zu vernichten und uns wehrlos der meist aus Fremden bestehenden und gegen uns leicht aufzubringenden oder schon aufgebrachten Armee in die Hände zu liefern.

Das ist geschehen in Aachen, in Trier, in Mannheim, in Mainz, und das kann auch anderswo kommen."3 Indessen nach einigem Hin und Her ging die brave Versammlung über diese brennende Angelegenheit zur Tagesordnung und überließ den Regierungen zu tun, was deren Amt sei.

Ein dritter Reaktionsstreich, der die neuen Volksvertreter in Frankfurt selbst begrüßte, die Ausweisung einiger deutscher Staatsbürger, die durch Reden vor den Frankfurter Arbeitern die heilige Hermandad der „Freien Stadt" gereizt hatten, wurde gar nicht erst der Diskussion für wert erachtet. Ein deutsches Indigenat mit formeller Gesetzeskraft mochte noch nicht bestehen, obgleich es vom Vorparlament verkündet und in einem Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner anerkannt worden war. Aber um so näher lag es einer konstituierenden Versammlung, dies unveräußerliche Recht des modernen Staatsbürgers in einem eklatanten Falle zu konstituieren. Jedoch sie schnitt den Rednern der Linken, die über diesen Fall sprechen wollten, kurzweg das Wort ab, trotz ihrer sonstigen Schwatzseligkeit und zum heilverkündenden Vorzeichen für die deutschen Grundrechte, die sie ausarbeiten wollte und in der Tat auch für den Papierkorb ausgearbeitet hat.

Das erste Wort der „Neuen Rheinischen Zeitung" war die scharfe Geißelung dieses parlamentarischen Kretinismus4 der die deutsche Revolution unrettbar verfahren musste. Ein paar Tage darauf entwickelte sie, an die Manifeste der demokratischen Linken anknüpfend, ihre positive Auffassung der deutschen Dinge.

Die demokratische Linke der Nationalversammlung bestand aus zwei Fraktionen, der eigentlichen Linken unter Robert Blum und der äußersten Linken, der „radikal-demokratischen" Partei, in der neben politischen Wirrköpfen, wie Arnold Ruge, gesinnungstüchtigen Polterern, wie Zitz aus Mainz, und weichen Schönrednern, wie Simon aus Trier, auch einige charaktervolle Persönlichkeiten saßen, so der alte Schlöffel aus Schlesien und der junge Adolf v. Trützschler aus Sachsen, die beide in näherer Verbindung mit der „Neuen Rheinischen Zeitung" standen. In der „unbeholfenen" Form, die das Programm dieser Fraktion hatte, war wohl Ruges oder Simons Hand zu spüren; es verfiel mitunter in den Ton eines nicht einmal geistreichen Leitartikels, so etwa mit seiner Polemik gegen die konstitutionelle Monarchie. Der Konstitutionalismus sei der abgenutzte Absolutismus. „Sollen wir Deutsche nun im Jahre 1848 hier in Frankfurt das Problem lösen, wie man einen abgetragenen Hut macht, ohne ihn vorher abzutragen? Wir hoffen es nicht … Die Weisen sagen dagegen: Das ist zwar richtig, aber unpraktisch, weil das Volk nicht logisch denkt, sondern konfuse Vorstellungen hat. Diese Volksvertreter, die sich schmeicheln, praktisch zu sein, weil sie die Konfusion, nicht die Auflösung der Konfusion vertreten, irren sich; sie sind die Unpraktischen; jeder Mensch ist froh, seine Konfusion loszuwerden. Wenn er sie hat, will er sie nur so lange behalten, als er sie nicht kennt. Also lehrt das Volk nur richtig denken; es wird es euch danken." Dagegen fasste sich das Programm der eigentlichen Linken in einigen kurzen Sätzen zusammen, die freilich in einzelnen Punkten vieldeutiger waren als das weitschweifigere Programm der äußersten Linken.

Ein entschiedener Vorzug dieses Programms war die Beleuchtung der auswärtigen Politik. „Es ist wahr, in diesem Augenblick stockt die Befreiung der europäischen Menschheit. An der Grenze Russlands steht die Revolution still. Aber daraus folgt nur, dass die slawische Befreiungsfrage die Lebensfrage der Revolution ist. Der Sturz des Despotismus in Polen und Russland sowie bei allen übrigen slawischen Stämmen ist die Vernichtung seiner Zuflucht in Europa, und nur so ist auch die Befreiung Deutschlands zu sichern. Wir würden der Reaktion und der brutalen Gewalt erliegen, wenn die Verschwörung unserer inneren Feinde mit dem russischen Militärdespotismus gelänge. Wir wollen daher die heilige Allianz der Völker. Wir gehen mit den Franzosen, mit den Italienern, mit den demokratischen Slawen; wir wollen gleichzeitig mit der Wiedergeburt Deutschlands die Wiedergeburt Polens und Italiens, die Französische Republik bietet uns die Hand, wir nehmen sie mit Freuden an." Von alledem enthielt das Programm der eigentlichen Linken nichts; es beschränkte sich auf die deutschen Zustände.

In der vergleichenden Kritik der beiden Programme hebt die „Neue Rheinische Zeitung" ihren föderativen Charakter, die Forderung, aus Deutschland einen Föderativstaat zu machen, als ihren gemeinsamen Hauptmangel hervor. Sie verlangt nicht die sofortige Erklärung Deutschlands zu einer einigen und unteilbaren Republik, aber sie hält an diesem Endziel der gesamten revolutionären Bewegung fest. „Die deutsche Einheit, wie die deutsche Verfassung können nur als Resultat aus einer Bewegung hervorgehen, worin ebenso sehr die inneren Konflikte als der Krieg mit dem Osten zur Entscheidung treiben werden. Die definitive Konstituierung kann nicht dekretiert werden; sie fällt zusammen mit der Bewegung, die wir zu durchlaufen haben. Es handelt sich daher auch nicht um die Verwirklichung dieser oder jener Meinung, dieser oder jener politischen Idee; es handelt sich um die Einsicht in den Gang der Entwicklung. Die Nationalversammlung hat nur die zunächst praktisch möglichen Schritte zu tun."5 Mit derselben historischen Auffassung, womit sich Marx und Engels in der Welt der sozialistischen Systeme orientiert hatten, orientierten sie sich nunmehr in der Welt der praktischen Politik; aus dem Lehrbuche der Geschichte, das sie mit offenen Augen zu lesen verstanden, widerlegten sie den ideologischen Spuk eines föderalistischen Deutschlands, das an den Vereinigten Staaten der Neuen Welt sein Muster zu nehmen habe.

Die Frage aber, ob die inneren Konflikte und der Krieg mit dem Osten zur Entscheidung treiben würden, wurde durch die haltlose Schwäche der deutschen Nationalversammlung mehr und mehr von Frankfurt nach Berlin verschoben.

1 Bezeichnung für die Regierung Frankreichs unter Louis-Philippe, Herzog von Orleans (1773-1850), der als sogenannter Bürgerkönig von 1830-1840 im Auftrage und im Interesse der französischen Finanzbourgeoisie herrschte.

2 Marx und Engels nannten die Preußische Nationalversammlung, die im Mai 1848 in Berlin zur Ausarbeitung einer Verfassung „durch Vereinbarung mit der Krone" einberufen wurde, „Vereinbarerversammlung" und ihre Abgeordneten „Vereinbarer"; denn mit Annahme dieser Formulierung verzichtete die Preußische Nationalversammlung auf das Prinzip der Volkssouveränität.

4 Zuerst findet sich der Ausdruck bei Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: Ebenda, Bd. 8, S. 87. Engels weist aber darauf hin, dass der Ausdruck von Marx stammt (siehe Marx und die ,Neue Rheinische Zeitung' 1848-1849". In: Ebenda, Bd. 21, S. 21). Bei Marx 1879 parlamentarischer Idiotismus". In: Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 392.

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