Franz Mehring 19020400 Die polnische Frage

Franz Mehring: Die polnische Frage

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. Herausgegeben von Franz Mehring, Dritter Band, Stuttgart 1920, S. 18-44. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 35-61]

Das Echo, das der Pariser Junikampf in den Spalten der „Neuen Rheinischen Zeitung" fand, ist uns so verständlich, wie es den Zeitgenossen noch nicht verständlich war. Dagegen sind heute ausführlichere Auseinandersetzungen nötig, um die Stellung der Zeitung zur polnischen Frage richtig zu würdigen.

Die polnische Revolution fand im Jahre 1848 ihren eigentlichen Schauplatz in der preußischen Provinz Posen. Russisch-Polen lag seit 1831 unter den eisernen Griffen des Zarismus, und Österreichisch-Polen hatte sich noch nicht von dem Aufstande des Jahres 1846 erholt. Die für dieses Jahr auch in Preußisch-Polen geplante Erhebung war im Keime erstickt worden und hatte nur zu dem großen Polenprozesse geführt, der vom 2. August bis zum 17. November 1847 in Berlin verhandelt wurde und damit endete, dass 134 Angeklagte freigesprochen, 117 aber wegen schweren Landesverrats verurteilt wurden, darunter 8 zum Tode. Man hoffte am Hofe, dass namentlich Mieroslawski, das Haupt der prozessierten Polen, um Gnade bitten würde, doch erfüllte sich diese Hoffnung nicht. Gelassen erwartete Mieroslawski seine Hinrichtung; „lässt man uns frei, so fangen wir wieder an, ich wenigstens ganz gewiss". Er hatte im Moabiter Zellengefängnis seine Schrift: Debat entre la revolution et la contrerevolution en Pologne geschrieben, worin er die agrarisch-demokratische Revolution in Polen befürwortete und Polen als die Schutzwehr der westeuropäischen Zivilisation gegen die asiatische Despotie verherrlichte; in gleichem Sinne hatte er vor den gerichtlichen Schranken erklärt, Deutschlands Zukunft sei untrennbar von der Wiederherstellung der polnischen Macht, die allein das drohende Ungeheuer des Panslawismus niederwerfen könne.

Es gehörte nun zu den ersten Akten der Berliner Märzrevolution, dem Könige die Begnadigung der verurteilten Polen zu entreißen. Sie wurden am 20. März von der begeisterten Menge in Moabit abgeholt und in einem großen Triumphzuge unter dem Wehen deutscher und polnischer Fahnen bis vor das Schloss geleitet. Im ersten und frischen Sturm der revolutionären Leidenschaft herrschte durchaus die richtige Empfindung vor, dass Polens Sieg Deutschlands Sieg, Polens Fall auch Deutschlands Fall sei; selbst das Frankfurter Vorparlament erklärte bei allem sonstigen Mangel an politischer Einsicht, dass die Wiederherstellung Polens eine heilige Pflicht der deutschen Nation sei. Die Wiederherstellung Polens war im Wesen der Dinge aber nichts anderes als ein Kampf mit Russland auf Leben und Tod, und so konfus Friedrich Wilhelm IV. sonst sein mochte, so stellte er die Frage doch in aller Klarheit und Schärfe, als ihn am 24. März eine Deputation aus der Provinz Posen mit dem Erzbischofe Przyluski an der Spitze aufsuchte.

Die Deputation erklärte, dass mit der Wiedergeburt Deutschlands auch das Signal für die Wiedergeburt Polens gegeben sei. Sie verlangte eine nationale Reorganisation der Provinz Posen, die sich schnell, aber ruhig und gesetzlich unter dem Schirme der preußischen Krone vollziehen solle. Die Aufgabe dieser Reorganisation sollte von einer provisorischen Kommission im Vereine mit einem königlichen Kommissar gelöst werden, und zwar erstens durch die Umgestaltung der militärischen Besatzung in ein einheimisches Truppenkorps und zweitens durch die Besetzung aller Ämter mit Eingeborenen. Der König empfand ganz richtig, dass die Spitze dieser Kundgebung sich nicht gegen Deutschland, sondern gegen Russland richtete, und erklärte sofort, dass russische Heersäulen in der Provinz Posen erscheinen würden, wenn sie „mit oder ohne seinen Willen" eine freie nationale Entwicklung erhielte, die auf das russische Polen von Einfluss sein und die russische Herrschaft beunruhigen könnte. Schon ständen bedeutende Truppenmassen an der russischen Grenze, jedoch für einen Krieg mit Russland sei er, der König, nicht zu haben. „Ich würde es gegen meine Pflicht und mein Gewissen halten, diesen Krieg zu führen, und mit meiner Ehre ist er nun vollends unverträglich." Der König warnte die polnischen Deputierten dann noch vor „eitlen Hirngespinsten"; sie möchten zusehen, dass sie statt eines Schwertes nicht ein Schilfrohr in die Hand nähmen, wobei er sehr deutlich auf die Dankbarkeit der „bäuerlichen Einsassen" gegen die Regierung anspielte. Nur die preußischen Beamten seien es gewesen, die im Jahre 1846 die polnischen Grundherren vor ähnlichen Ausbrüchen des Landvolks geschützt hätten, wie sie in Galizien vorgekommen seien. Die polnischen Deputierten behaupteten dagegen, die ruthenischen Bauern in Galizien seien durch den Machiavellismus der österreichischen Regierung gegen die polnischen Edelleute aufgereizt worden. Man kam darüber in ein ziemlich hitziges Geplänkel, bis einige Höflichkeitsphrasen, die zwischen dem König und dem Erzbischof gewechselt wurden, die Audienz schlossen.

Bei alledem hatte man in Berlin noch lange nicht den Mut, die polnische Deputation mit einem ungnädigen Bescheide zu entlassen. Am 26. März bewilligte der König die Niedersetzung einer Kommission aus beiden Nationalitäten, die gemeinsam mit dem Oberpräsidenten die nationale Reorganisation des Großherzogtums Posen beraten sollte. Mieroslawski, der sich der Deputation angeschlossen und ihrer Audienz bei dem Könige sowie ihren Konferenzen mit den Ministern beigewohnt hatte, glaubte die Stimmung in Berlin so auffassen zu dürfen, dass die Regierung das Bemühen der Polen, eine unabhängige Macht gegen Russland zu schaffen, nicht offen unterstützen wollte, aber dass ihr nichts lieber sein würde, als diese Macht von selbst entstehen zu sehen und sie als vollendete Tatsache hinzunehmen. Es ist wahrscheinlich genug, dass diese Auffassung Mieroslawskis zu optimistisch war; sosehr die von ihm vorausgesetzte Politik im deutschen Interesse gelegen hätte, sosehr ist ebendeshalb daran zu zweifeln, dass Friedrich Wilhelm IV. und sein damaliges Ministerium Arnim sie gebilligt haben könnten. Jedenfalls aber handelten die heimkehrenden Polen in diesem Sinne; sie brachten ihren Landsleuten die Botschaft von den Sympathien der deutschen Nation und begannen mit der nationalen Reorganisation, indem sie bewaffnete Lager als eine Schutzwehr gegen Russland errichteten.

Nunmehr aber machte die preußische Militär- und Zivilbürokratie der Provinz Posen, die durch deren nationale Reorganisation in ihren Stellen bedroht war, gegen die polnische Bewegung mobil, indem sie die deutsche und die jüdische Bevölkerung aufhetzte. Sie nahm dabei einzelne Ausschreitungen zum Vorwande, die gleich im Anfange der Bewegung, vor der Einsetzung der in Berlin bewilligten Kommission, vorgekommen waren, die Absetzung dieses oder jenes verhassten Landrates, die Demolierung dieses oder jenes preußischen Wappenschildes und ähnliche Dinge mehr, die durch einzelne Exzesse von Deutschen gegen Polen mindestens ausgeglichen worden waren. Zudem erklärte sich die neu eingesetzte Kommission, die überwiegend aus Polen bestand, zu jeder Genugtuung und jedem Schadenersatze bereit; selbst wenn die Polen die Bösewichte gewesen wären, die sie nach den anmutigen Schilderungen der borussischen Bürokratie sein sollten, so waren sie doch die Narren nicht, eine Deutschenhetze zu inszenieren in einem Augenblicke, wo alle ihre nationalen Hoffnungen auf dem guten Einvernehmen mit Deutschland beruhten. Allein die deutsche und die jüdische Bevölkerung der Provinz, die im allgemeinen keineswegs aus einer geistigen Elite bestand und auch nicht immer das reinste Gewissen gegenüber der polnischen Bevölkerung hatte, glaubte an die ihr vorgespiegelten Wahngebilde und stimmte bereitwillig das bekannte reaktionäre Gebrüll „nach Ruhe um jeden Preis" an.

Dieser Spektakel blieb in Berlin nicht ohne Eindruck und kam selbst heimlichen Wünschen entgegen, die dort gehegt wurden. Sobald Camphausen ans Ruder der Regierung gelangt war, wurde der General Willisen als königlicher Kommissar nach Posen gesandt mit dem Auftrage, das polnische Nationalkomitee, nämlich die in Berlin gebilligte und hauptsächlich aus Polen bestehende Kommission, im Wege gütlicher Verhandlung zu einem Verfahren zu bestimmen, das dazu geeignet sei, die preußische Oberhoheit, unbeschadet der nationalen Reorganisation, in dem Großherzogtum aufrechtzuerhalten. Willisen gehörte zu den sehr spärlich gesäten Borussen, die in der Germanisierung mit dem Gendarmensäbel eine brutale Albernheit sahen; er hatte neun Jahre als Generalstabschef des fünften Armeekorps in Posen gelebt, kannte die Verhältnisse der Provinz genau und genoss das Vertrauen der polnischen Bevölkerung. Insofern mochte seine Mission noch einen friedlichen und versöhnlichen Charakter haben. Aber gerade weil er wusste, woran er war, verlangte er die Verfügung über die militärischen Kräfte der Provinz, die er „pazifizieren" und „reorganisieren" sollte. Allein das neue bürgerliche Ministerium erklärte es für unmöglich, „der militärischen Hierarchie eine solche Gewalt anzutun", und Willisen begnügte sich mit der Anweisung an alle Behörden der Provinz, ihm als dem Kommissar des Königs in jeder Weise behilflich zu sein.

Sein Erscheinen in der Provinz beseitigte sofort jeden Zweifel daran, dass die Deutschen und nicht die Polen den Bürgerkrieg anzettelten. Der kommandierende General v. Colomb und nicht minder die anderen militärischen Befehlshaber, die Generale v. Steinäcker, v. Hirschfeld, v. Wedell und wie sie sonst hießen, empfingen ihn in der feindseligsten Weise; eben im Begriff, über die bewaffneten Lager der Polen herzufallen, ließen sie sich von Willisen nur mit Mühe zu einem Aufschub von wenigen Tagen bewegen. Um so bereitwilliger kamen die Polen allen Wünschen des Kommissars entgegen; in der Konvention von Jaroslawiec, die sie am 11. April mit ihm abschlossen, verstanden sie sich selbst zur Auflösung der bewaffneten Lager unter bestimmten Modalitäten und gegen das Versprechen, dass dann sofort mit der nationalen Reorganisation begonnen werden würde. Dafür empfing den General, als er am 12. April in die Stadt Posen kam, ein Straßenauflauf des deutschen Mobs, und die höchsten Militärbehörden, sonst stets bereit, den beiläufigsten Krawall mit hauendem Säbel und schießender Flinte zu ersticken, rieten dem Vertrauensmanne des Königs zu dreien Malen mit hochgezogenen Brauen, nach Berlin zurückzukehren, ja sie sperrten ihm wirklich die Tore, als er in der Nacht zum 20. April vor der Stadt eintraf, so dass Willisen nunmehr allerdings die Rückkehr nach Berlin antrat. Er verzichtete auf eine Mission, die zur Posse zu werden drohte dank der hartnäckigen Böswilligkeit der preußischen Behörden, der Zivilbehörden übrigens nicht minder als der Militärbehörden.

Ein Ausfluss dieser Böswilligkeit war es auch, dass der General v. Colomb an demselben 11. April, wo Willisen die Konvention von Jaroslawiec abschloss, eine Proklamation mit der Erklärung veröffentlichte, dass er „von jetzt ab" vollen Gebrauch von der Gewalt machen werde, die ihm anvertraut sei. Er ließ mobile Kolonnen durchs Land streifen und namentlich die nach der Auflösung der bewaffneten Lager heimkehrenden polnischen Wehrleute überfallen unter gänzlicher Missachtung der bei Jaroslawiec getroffenen Übereinkunft. Durch diesen Verrat wütend gemacht, begingen nun auch polnische Haufen einzelne Ausschreitungen, so namentlich am 15. April gegen die Juden in Wreschen, übrigens auch hier unter heftigstem Widerstande der polnischen Führer. Im Allgemeinen aber waren die „Gräuel" dieses „Bürgerkriegs" durchaus auf Seiten der preußischen Truppen, die in vandalischer Weise misshandelten und mordeten, plünderten und raubten und dabei selbst nicht einmal die kümmerlichsten Lorbeeren zu erringen wussten. Denn als sich die überfallenen Polen wieder sammelten und zu energischer Notwehr rüsteten, besiegten sie mehr als einmal die an Waffen und Zahl ungleich stärkeren Gegner; so warf namentlich Mieroslawski am 30. April bei Miloslaw einen preußischen Heerhaufen von 6000 bis 7000 Mann in schmähliche Flucht. Auf die Dauer freilich mussten die Sensen den Schrapnells unterliegen; mit Granatkartätschen bewies das Borussentum am letzten Ende die Überlegenheit seiner Zivilisation.

Immerhin musste man aus Berlin einen neuen „Pazifikator" senden in Gestalt des Generals Pfuel, der mehr Hirn besaß als die Colomb und Steinäcker, in seiner Art sogar ein liberaler Mann war, übrigens aber entweder nicht die Macht oder nicht den Willen besaß, die vandalische Kriegführung dieser Helden zu beseitigen. Die Methode, gefangene oder auch nur willkürlich verhaftete Polen mit Höllenstein an Händen und Ohren zu marken, erregte sogar – vor der Öffentlichkeit wenigstens

Wie sehr sich sonst das Ministerium Camphausen mit den in der Provinz Posen hausenden Barbaren als ein Herz und eine Seele fühlte, zeigten seine eigenen Maßnahmen in der polnischen Sache. Die preußischen Provinzen Ost- und Westpreußen sowie Posen hatten bis zum Jahre 1848 dem Deutschen Bunde nicht angehört, wohl aber hatte Friedrich Wilhelm IV. in einem seiner Patente vom 17. März erklärt, er werde mit Freuden den Deutschen Bund durch Einverleibung der nicht zum Bunde gehörigen preußischen Provinzen stärken, „wenn deren berufene Vertreter diesen Wunsch teilen" sollten. Jedoch die „berufenen Vertreter" der Provinz Posen teilten diesen Wunsch keineswegs; vielmehr lehnte der Posener Provinziallandtag am 6. April den Antrag, die Provinz in den Deutschen Bund aufzunehmen, mit 26 gegen 17 Stimmen ab. Mit borussischer Logik behauptete nun zwar die Minderheit, eigentlich sei der Antrag angenommen worden, da die Beschlüsse der Provinziallandtage zu ihrer Rechtsgültigkeit einer Zweidrittelmehrheit bedurften, allein es lag auf der Hand, dass dann nicht 17, sondern 29 Stimmen für die Genehmigung des Antrags erforderlich gewesen wären, und so mochte sich das Ministerium Camphausen doch nicht mit diesem halsbrechenden Attentat auf das Einmaleins befassen, zumal da es sich sonst zu helfen wusste.

Am 14. April erschien eine königliche Kabinettsorder, die einen Teil der Provinz Posen, als vorwiegend von Deutschen bewohnt, von der „nationalen Reorganisation" ausschloss; diesen Teil, der ein paar Tage darauf noch durch einige Distrikte vermehrt wurde, nahm der Bundestag dann schon am 22. April auf Antrag der preußischen Regierung in den Deutschen Bund auf. Das polnische Nationalkomitee in Posen antwortete auf den Gewaltstreich wieder ganz vernünftig und versöhnlich; in den zweifelhaften Grenzdistrikten müsse der Bevölkerung gewiss überlassen bleiben, welcher der beiden Nationalitäten sie sich anschließen wolle, aber diese freie Wahl sei erst nach der Wiederherstellung Polens möglich, und bis dahin sei jede willkürliche Abtrennung einzelner Distrikte, ohne Befragung der Bewohner, rein nach bürokratischer Willkür, nur eine neue Teilung des Landes. Dessen ungeachtet riss Camphausen am 26. April ein weiteres Stück, namentlich die Stadt und die Festung Posen, von der Provinz ab und ließ es am 2. Mai in den Deutschen Bund aufnehmen. Dann zog Pfuel die „Demarkationslinie" immer weiter, bis er am 4. Juni die „siebente Teilung" Polens fertigbrachte, die den zu „organisierenden" Teil auf weniger als ein Drittel der ganzen Provinz, auf einen schmalen Streifen längs der russischen Grenze, beschränkte.

So weit hatte sich die polnische Frage entwickelt, als die „Neue Rheinische Zeitung" zu erscheinen begann. Es gereicht ihr zur dauernden Ehre, dass sie in der entschlossensten Weise für die gemisshandelten Polen eintrat, dass sie nicht müde wurde, nachzuweisen, wie das bürgerliche Ministerium Camphausen, seines bürgerlichen Ursprungs vergessen, in der Provinz Posen dem Zarismus so selbstmörderische wie verächtliche Henkersdienste geleistet hatte. Eine letzte Gelegenheit, das Versäumte einzuholen, bot sich der deutschen Nationalversammlung, als die Frage an sie herantrat, ob sie die Mandate der Abgeordneten anerkennen wolle, die in den zum Deutschen Bund geschlagenen Teilen der Provinz Posen gewählt worden waren. Der völkerrechtliche Ausschuss der Versammlung, in dessen Namen der preußische Historiker Stenzel berichtete, beantragte, die Beschlüsse des Bundestages vom 22. April und 2. Mai endgültig, die vom General Pfuel gezogene Demarkationslinie aber vorläufig bis auf weiteren Bericht der preußischen Regierung anzuerkennen. Dagegen wollte die Linke den Tatbestand erst durch die Zentralgewalt untersucht haben, ein ziemlich wohlfeiler Ausweg, da die Zentralgewalt, der Reichsverweser Johann mit seinem imaginären Ministerium, von Anfang an ein Schattenspiel an der Wand darstellte. Doch wurde sogar dieser schwächliche Antrag am 26. Juli mit großer Mehrheit abgelehnt und der Antrag des völkerrechtlichen Ausschusses genehmigt, so dass die Nationalversammlung 800.000 bis 900.000 Bewohner der Provinz Posen endgültig und noch ein paar Hunderttausend dazu vorläufig in das neue Deutschland aufnahm. Indem sie das letzte Siegel auf den preußischen Verrat an der polnischen Revolution drückte, benahm sie sich in dieser Sache so erbärmlich wie in jeder anderen.

Wie sehr dagegen der „Neuen Rheinischen Zeitung" die polnische Sache am Herzen lag, zeigte sie durch die ausführliche Analyse, die sie der dreitägigen Polendebatte der Nationalversammlung widmete1; eine gleich eingehende Erörterung hat sie keiner anderen parlamentarischen Diskussion gespendet. Der erbarmungslose Spott, womit sie die „Netzbrüder" abfertigte, war vollkommen am Platze, und ebenso berechtigt war ihr vernichtendes Urteil über die borussische Germanisierungspolitik in der Provinz Posen.

Es gibt viele hässliche Blätter in der preußischen Geschichte, aber wenig hässlichere, als da Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1796 nach der dritten Teilung Polens in den ihm zugefallenen Landesteilen die kirchlichen und starosteilichen Güter, ein Domänenareal von fast 1500 Geviertmeilen, raubte und wie ihm dann ein beträchtlicher Teil dieses Raubes von den Junkern abgegaunert wurde. Zu diesem Zwecke bildete sich damals ein Gründerkonsortium, dessen Taten selbst die hohenzollernschen Geschichtsfälscher nur mit gesträubten Haaren zu berichten wissen; es bestand aus dem Minister Hoym, der die polnischen Landesteile verwalten sollte, dem General Bischoffwerder, dem berüchtigten Günstling des Königs, einem gewissen Triebenfeld, der als Lakai im Dienste polnischer Großen gestanden hatte, aber wegen wiederholter Diebereien verjagt worden war, und endlich dem königlichen Kammerdiener Ritz, dem ehelichen Schanddeckel der königlichen Hauptmätresse. Dies Konsortium hat in einer erschlichenen Kabinettsorder zuerst den schöpferischen Gedanken proklamiert, der seitdem die Berliner Polenpolitik bis auf den heutigen Tag beseelt hat, den Gedanken nämlich, in den „neuen Acquisitions2 auf gute deutsche Landwirte zu halten sowie erbliche und auf adelige Rechte konferierte Güter nicht wieder in die Hände der vormaligen Polen kommen" zu lassen. Es ist auch wahrscheinlich genug, dass die Sicherung des alten Raubes ein Hauptgrund für die neuen Teilungen des preußischen Polens im April 1848 gewesen ist, obschon schwerlich der einzige Grund. Den Krieg mit Russland wollten König und Junker ebenso entschieden unter keinen Umständen, wie ihn die „Neue Rheinische Zeitung" unter allen Umständen wollte; man wusste drüben so gut wie hüben, dass dieser Krieg der endgültige Sieg der europäischen und in erster Reihe der deutschen Revolution gewesen wäre. Die eigentliche Schmach dieses Verrats an Polen fällt auf das Ministerium Camphausen, das seine Mutter, die bürgerliche Revolution, freiwillig preisgab für den Genuss, die Fußtritte der Gegenrevolution einzuheimsen.

Nach einer anderen Richtung hin freilich sind die Polenaufsätze der „Neuen Rheinischen Zeitung" nicht nur heut überholt, sondern sie waren auch schon zur Zeit ihres Erscheinens sehr anfechtbar. Gleich im Anfang des ersten Artikels fällt ein historischer Schnitzer auf, wie er sich bei Marx oder Engels sonst sehr selten findet; wenn es auch im allgemeinen richtig ist, dass die von Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1815 der Provinz Posen gemachten Verheißungen sowenig erfüllt wurden wie das berühmte Verfassungsversprechen dieses biedern Landesvaters, so ist doch im besonderen der Satz falsch: „Die Verkehrsfreiheit zwischen den drei Bruchstücken Polens, die der Wiener Kongress3 um so ruhiger beschließen konnte, je unausführbarer sie war, trat natürlich nie ins Leben."4 Tatsächlich hat sie bis zum polnischen Aufstande von 1830 bestanden; sie ist bedeutsam gewesen für die Entwicklung der Manufaktur und namentlich der Textilindustrie in Russisch-Polen. Gleich darauf heißt es, die Slawen seien ein vorwiegend ackerbautreibendes Volk, wenig geschickt zum Betriebe städtischer Gewerbe5, ein Satz, der aus der Feder von Marx oder Engels wieder seltsam genug klingt. Haben sie doch gerade durch den historischen Materialismus am gründlichsten die landläufigen Phrasen zerstört, wonach diesem Volke diese Fähigkeit angeboren oder jenem Volke jene Fähigkeit versagt sei. In der Sache selbst hat inzwischen die industrielle Entwicklung in Böhmen, in Polen, in Russland zur Genüge gezeigt, dass die Slawen im Betriebe städtischer Gewerbe so geschickt sind wie die Germanen oder Romanen, wenn nur anders die historischen Vorbedingungen des städtischen Gewerbebetriebes vorhanden sind.

Mit diesen Vorbedingungen nur hat es in der polnischen Geschichte gehapert. Solange es einen polnischen Staat gab, haben ihm polnische Städte gefehlt und damit die Zentralisation, das gewaltigste politische Mittel zur raschen Entwicklung eines Landes. Soweit ist die „Neue Rheinische Zeitung" auf der richtigen Spur, aber sie irrt, wenn sie die Schuld daran der deutschen Einwanderung in Polen zuschreibt.

Tatsächlich wurde die städtische Entwicklung zur Zeit, wo sie sonst in Europa eintrat, in Polen durch Umstände verhindert, die sich mehr oder weniger auf die Ungunst seiner geographischen Lage zurückführen lassen. Es seien hier nur zwei angedeutet. Die eigentliche Triebkraft der städtischen Entwicklung bildete im 10., 11. und 12. Jahrhundert der Handel, dem die Verbindungen Deutschlands mit Italien, die Kreuzzüge und der Verkehr mit dem Morgenlande die kräftigsten Anstöße gaben. Die Metropole des damaligen Welthandels war Konstantinopel, aber die Hauptwege zu ihr, die von Norden nach Süden über Kiew und von Westen nach Osten durch Ungarn führten, umschlossen Polen wie in der Gabel und berührten es wenig. Ihm blieb nur ein bescheidener Binnenhandel. Als sich dann im 13. Jahrhundert der große westöstliche Handelsweg nach Norden zum baltischen Meere verschob, fielen die Früchte der Hansa zu, da Polen keine baltischen Uferstreifen besaß. Erst im 15. Jahrhundert konnte es seine Grenzen bis zur Ostsee vorrücken, aber nun war es zu spät, da der Welthandel neue Wege einschlug.

Dazu kam aber noch ein anderes. Wo das städtische Leben in Polen selbständig aufkeimte, fuhren die verheerenden Kriegsstürme darüber hin, von denen die ersten Jahrhunderte der polnischen Staatsgeschichte erfüllt sind. Gerade zu dieser Zeit vollzog sich die politische Konstituierung des nordöstlichen Europas auf neuer Basis und in einer Form, die an das 4., 5. und 6. Jahrhundert im Römischen Reich erinnerte. Ein Zusammenstoß zahlreicher kleiner Völkerschaften, eine beständige örtliche Verschiebung, ein beständiger Wechsel der Herrschaft und ein beständiger allgemeiner Krieg – so sah es in dem europäischen Gebiet aus, dessen Mitte gerade Polen einnahm. Es musste dabei unaufhörlich nach allen Seiten schlagen: gegen Deutsche, Schlesier und Böhmen, gegen Russen, Litauer und Preußen. Diese unaufhörlichen Kriege beanspruchten das ganze soziale Leben des Volkes, namentlich bei der damaligen militärischen Organisation; die aufkommenden Städte wurden geplündert und verbrannt, selbst der damalige primitive Ackerbau konnte nicht ungestört betrieben werden. Zudem wurden die meisten dieser Kriege mit den östlich wohnenden Völkerschaften geführt, die auf einer noch niedrigeren Kulturstufe standen als Polen selbst, was dann noch besonders verrohend auf die polnische Kriegführung und damit auf die polnische Entwicklung überhaupt zurückwirkte.

Unter solchen Umständen kam es zur deutschen Einwanderung im 12. und 13. Jahrhundert. Sie trat nicht der Entwicklung der polnischen Städte hindernd in den Weg, sondern wurde von den polnischen Fürsten, Klöstern, Bischöfen und Adligen veranlasst und gefördert, um das verwüstete Land, das keine eigenen Städte besaß, städtisch zu kolonisieren. Schon vor 1244 wurden Krakau und Sendomir deutschen Einwanderern übergeben unter Gewährung des Magdeburgischen Rechtes6. 1252 wurde die Stadt Neumark mit deutschem Recht von den Zisterziensern erbaut, 1279 die Stadt Mstaw von den Augustinern, 1298 Sieradz von den Benediktinern. Auch die Bischöfe und einzelne Adlige erwarben Privilegien zur Gründung deutscher Städte, 1290 wurde die Stadt Slupca von dem Bischof von Posen mit deutschem Recht beliehen, 1278 die Stadt Gostyn von dem Hofrichter Nikolaus. „Solchergestalt erhielten alle größeren und wahrscheinlich auch viele kleinere Städte des Landes im Verlaufe des 13. Jahrhunderts eine deutsche Bevölkerung und deutsches Recht", wie Roepell in seiner Geschichte Polens sagt.

Nun besaßen diese Städte allerdings, wie die „Neue Rheinische Zeitung" sagt, ihre „tausendfach verschiedenen Privilegien und städtischen Rechtsverfassungen"7, aber das war weder ihr besonderes Kennzeichen noch an und für sich ein Hindernis der historischen Entwicklung. Ganz das gleiche galt damals von den deutschen, französischen, italienischen und überhaupt europäischen Städten. Was die Stellung der deutschen Städte in Polen kennzeichnete war etwas anderes. Ihnen fehlten die historischen Wurzeln der jahrhundertelangen Entwicklung, in der die Städte aus den mittelalterlichen Fronhöfen über das aristokratisch-patrizische Regiment zur demokratischen Gemeinde des zünftigen Handwerks gelangt waren in einer Reihe von Revolutionen, die auf den ganzen Organismus der feudalen Gesellschaft umwälzend gewirkt hatten. Die deutschen Städte in Polen wurden unvermittelt mit ihrem entwickelten Gemeinderecht, ihrer Schöffenjustiz, ihrer demokratischen Gesetzgebung in ein Land verpflanzt, wo sonst noch feudales Hofrecht herrschte; befreit von der fürstlichen Gerichtsbarkeit einschließlich des Blutbannes, von den meisten Abgaben und Leistungen und speziell auch von Kriegsdiensten, entbehrten sie all der sozialen Zusammenhänge, durch die eben jetzt die europäischen Städte mächtig in die politischen Kämpfe der Zeit einzugreifen begannen. Sie konnten weder eine Stütze der Monarchie werden noch der unfreien Bevölkerung des platten Landes eine schützende Freistatt bieten, noch auch hatten sie mit ihrem Zunftregiment irgendeine Anziehungskraft für den noch so armen Adligen. Gerade dieser Mangel eines Abflusskanals, wie ihn sonst die Städte in Europa boten, verursachte die ungeheure Zunahme des adligen Proletariats, die für Polen so verhängnisvoll geworden ist.

Mit einem Worte: Die deutschen Städte in Polen hatten für keine Klasse der polnischen Gesellschaft irgendwelche politische Bedeutung, weder als Bundesgenossen noch als Feinde, da sie als Beliehene, als Reifgeborene kein Interesse und keine Macht besaßen, um irgendwem helfen oder schaden zu können. Sie machten im vollsten Maße die Erfahrung, dass „verliehene Rechte und Freiheiten wertlos sind", was ihnen im Jahre 1605 ein adliger Schriftsteller spöttisch vorhielt in dem derben Vergleich mit einem Esel, der sich die Zähne schärfte, weil er zu einer Hochzeitstafel geladen zu sein glaubte, aber als er zur Hochzeit kam, in die Küche geschickt wurde, um Holz und Wasser zu schleppen.

Was Polen noch an Handel besaß, ging dann verloren, als in der Mitte des 15. Jahrhunderts Konstantinopel von den Türken erobert wurde. Durch die Verschiebung des Welthandels an die Ufer des Atlantischen Ozeans wurde Polen schwerer als Deutschland und Italien, und zwar in dem Maße schwerer betroffen, worin es ökonomisch rückständiger als diese Länder war. Jedoch die ökonomischen Umwälzungen des Reformationszeitalters schuf es auch einen neuen Handel für Polen; je mehr sich die westeuropäische Geldwirtschaft entwickelte, um so mehr wurde Polen der „europäische Speicher", die Kornkammer für Spanien, Frankreich, Flandern, England, zur selben Zeit, wo sich aus gleichen Ursachen in dem benachbarten Ostelbien der ritterliche Grundherr in den warenproduzierenden Gutsbesitzer verwandelte. Die furchtbaren Folgen, die sich daraus für die bäuerliche Bevölkerung entwickelten, sind aus der deutschen Geschichte zu bekannt, als dass sie hier ausführlich geschildert zu werden brauchten; es mag an der Bemerkung genügen, dass alle Praktiken des Bauernlegens und Bauernschindern in Polen noch scheußlichere Formen annahmen als selbst in Ostelbien.

In ursächlichem Zusammenhange damit steht die für das Schicksal des polnischen Staats entscheidende Tatsache, dass der polnische Adel nicht nur die Getreideproduktion, sondern auch den Getreidehandel für sich zu monopolisieren verstand. Jeder grundbesitzende Edelmann wurde zugleich ein Kaufmann, der sein Getreide selbst aus- und für den baren Erlös fremde Waren einführte. In dem Junker erstand dem städtischen Kaufmann ein Konkurrent, der um so gefährlicher war, als er die Klinke der Gesetzgebung in der Hand hatte. Während der städtische Kaufmann auf Schritt und Tritt von dem Adel auf jedem Gut mit allerlei Privatzöllen, an der Grenze mit königlichen Aus- und Einfuhrzöllen, in den Städten und Häfen mit Stapelrecht und städtischen Abgaben geplagt wurde, war der adlige Schacher völlig frei. Privatzölle existierten für ihn natürlich nicht. Von den Ausfuhrzöllen befreite er sich durch Gesetze von 1496, 1511, 1581, 1598, von den Einfuhrzöllen durch ein Gesetz von 1504. Freilich sollten diese Gesetze nur für ausgeführte Erzeugnisse eigener Güter und eingeführte Waren zum eigenen Bedarf gelten, aber natürlich hinderte die Kleinigkeit eines falschen Eides keinen Junker, zollfrei aus- und einzuführen, was er wollte.

Auch vom Stapelrecht der Städte ließ sich der Adel 1565 gesetzlich eximieren. Das half ihm nun freilich nicht in fremden Städten, wo sein edles Blut nicht als legitimer Grund der Befreiung von Abgaben und Zöllen galt, und auch sonst hatte die Verfrachtung seiner Produkte ins Ausland ihre Unbequemlichkeiten. So wurde gesetzlich verordnet, dass fremde Kaufleute immer frei nach Polen kommen und in bestimmten Niederlagsstädten ihre Waren verkaufen und dafür polnische Waren kaufen durften. Kaufleute aller Nationen überschwemmten das Land, deutsche, italienische, schottische, armenische, russische und namentlich auch jüdische, als willige Handlanger des Adels bei der Monopolisierung des polnischen Handels in adligen Händen.

Jedoch ließ sich der Adel an dieser mittelbaren Abwürgung der Städte nicht genügen, sondern rückte ihnen auch unmittelbar auf den Leib. 1520, 1524,1527,1538,1543 ergingen einzelne Verbote, eingeschärft selbst durch die Todesstrafe, an die polnischen Kaufleute, Waren zu exportieren; 1565 wurde ein allgemeines Gesetz erlassen, wonach die polnischen Kaufleute weder große noch kleine Waren ins Ausland führen durften, selbst nicht mit königlicher Bewilligung. Mit dem Warenhandel erlosch natürlich auch das Geldgeschäft für die städtischen Kaufleute. Dann „legte" der Adel für seinen Getreidebau die städtischen Äcker mit derselben Raubgier wie die bäuerlichen Hufen. Endlich zerstörte er das städtische Handwerk, wiederum nicht bloß mittelbar durch die ruinierende Konkurrenz der fremden Kaufleute, mit deren englischen, flandrischen, italienischen Waren die polnischen Handwerksprodukte sich nicht messen konnten, sondern auch unmittelbar durch Auflösung der Zünfte, deren hauptsächliche Funktion der Schutz der städtischen Produktion vor auswärtiger Konkurrenz war. In einem der gegen die Zünfte gerichteten Gesetz findet sich die ausdrückliche Begründung, „damit diese Zünfte und Bruderschaften nicht in detrimentum libertatis terrestris8 seien". Andere Gesetze verordneten, dass königliche Beamte die Preise der Handwerksprodukte bestimmen sollten, bis der Adel im Jahre 1623 damit Deputierte der Senats- und Landbotenkammer, das heißt sich selbst betraute.

Die nächste Wirkung dieser Verfolgungen war, dass die deutschen Handwerksburschen in hellen Haufen in ihre Heimat zurückkehrten und dass in deutschen Städten verboten wurde, nach Polen auszuwandern. Die Entvölkerung der Städte hatte allerdings für den Adel ihre unangenehme Seite, und so ergingen zwischenein auch gesetzliche Bestätigungen der Zunftorganisation und des Zunftzwanges, doch waren die verbietenden Gesetze auf die Dauer zahlreicher und in jedem Falle wirksamer als die schützenden. Das letzte tat dann die Auslieferung der Städte an die Starosten, die eigentlich nur die militärische Verteidigung leiten sollten, aber sich bald der Kriminaljustiz, der Polizeigewalt und überhaupt der ganzen städtischen Verwaltung bemächtigten, um den Städten Blut und Mark auszupumpen und sie in den Zustand herabzudrücken, den der Primas bei Eröffnung des Reichstags im Jahre 1764 mit den Worten schilderte: „Die Zierde des Königreichs, Städte ohne Bürger, und die, welche da sind, ohne Handel, Handel ohne Nutzen, weil in jüdischen Händen, mit einem Worte, in den Städten muss man die Städte suchen: die Straßen sind nichts als Felder und die Marktplätze nichts als Wüsteneien."

Es war das Verhängnis Polens, nicht einmal zu der „Kleinbürgerei der mittelalterlichen Reichsstädte" zu gelangen, von der die „Neue Rheinische Zeitung" als der „höchsten Blüte"9 Deutschlands spricht. Aber die Einwanderung der deutschen Kleinbürgerei in Polen hat das Verhängnis Polens nicht verschuldet. Sie ist auch keineswegs „fast ununterbrochen" vor sich gegangen, sondern nur vom 12. bis ins 15. Jahrhundert; dann ist sie einer durchaus rückläufigen Bewegung gewichen, eben weil die deutsche Kleinbürgerei für den polnischen Adel noch eine viel zu hohe Kulturstufe war. Beiläufig muss man auch sehr einschränken und selbst umkehren, was die „Neue Rheinische Zeitung" von der großen Masse Deutscher sagt, die, durch Sektenverfolgungen vertrieben, von den Polen mit offenen Armen aufgenommen worden seien; zur Vertreibung der deutschen Handwerker aus Polen, die meist Protestanten waren, trug nicht zum wenigsten das Gesetz bei, das Nichtkatholiken die Zugehörigkeit zu den Zünften verbot. Überhaupt wuchs der religiöse Fanatismus des polnischen Adels in gleichem Schritt mit seiner moralischen Verlumptheit, wie unter anderem das Thorner Blutbad noch im Jahre 172410 zeigte, und es war in der Tat nur Kannegießerei in erhabener Arbeit, wenn Robert Blum in der Frankfurter Polendebatte den polnischen Schlachtschitzen als einen modernen Nathan den Weisen feierte, weil er die in aller Welt verfolgten Juden geduldet habe.

Sieht man davon ab, dass die deutschen Einwanderer selbst ohne historische Schuld daran sind, dass sie weder große Kapitalien gesammelt noch sich die große Industrie anzueignen gewusst, noch sich ausgedehnter Handelsverbindungen bemächtigt haben, so rührt die „Neue Rheinische Zeitung" mit diesen Sätzen allerdings an die Wunde, an der Polen verblutet ist. Was die Historiker als Ursachen für den Untergang des polnischen Staates angeben, die Schwäche der monarchischen Gewalt, das geile Überwuchern des Junkertums, den Verfall der Städte, die entsetzliche geistige und körperliche Verkommenheit des ländlichen Proletariats, das neun Zehntel der gesamten Bevölkerung umfasste, ergab sich durchweg aus der Tatsache, dass dem Adel die Monopolisierung des nationalen Handels in seinen Händen gelungen war. Polens Schicksal ist ein klassisches Beispiel dafür, wie eine bestimmte Austauschweise die gesamten Geschicke eines großen Staates bestimmen kann. Auf den ersten Schein handelt es sich nur um einen Personenwechsel, aber wie viel mehr dabei auf dem Spiele stand, zeigt ein Blick auf die historische Rolle des mittelalterlichen Handels, der durch Ansammlung des Kaufmanns- und Wucherkapitals die Manufaktur schuf, den Ausgangspunkt der modernen industriellen Entwicklung, zu der das zünftige Handwerk aus sich selbst heraus nicht zu gelangen vermag.

Diese Entwicklung der nationalen Produktion, die unumgängliche Vorbedingung der historischen Fortschritte im westlichen Europa, wurde in Polen dadurch abgeschnitten, dass der Adel den ganzen Handel an sich raffte und die Handelskapitalien in einem luxuriösen Leben verzehrte, statt sie in gewerblicher Produktion anzulegen. Die Verödung der polnischen Städte beseitigte vollständig den Haupthebel der gewaltigen politischen und sozialen Umwälzungen, durch die sich im westlichen Europa der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vollzog, den Klassenkampf des dritten Standes mit dem Feudaladel. Erst aus diesem Kampf entwickelte sich die moderne Monarchie und der moderne Staat, die Zentralisation der Verwaltung, das stehende Heer, ein ergiebiges Finanzsystem. All das besaß Polen nicht, weil es keinen dritten Stand besaß. Der vorwärtstreibende Klassenkampf fehlte, weil der Adel die wichtigsten städtischen Funktionen mit dem feudalen Grundbesitz vereinigt hatte, aber der verfaulende und zersetzende Klassengegensatz blieb, der Gegensatz zwischen dem ausbeutenden Adel und der ausgebeuteten Volksmasse, die, in den Städten ihrer historischen Führer beraubt, unaufgeklärt und unorganisiert, höchstens einmal in zwecklosen Revolten explodierte, aber jedes politischen und sozialen Bewusstseins entbehrte. Was es an scheinbarem Klassenkampf in Polen gab, war allein ein Cliquenkrakeel zwischen dem großen und dem kleinen Adel. In ihm stießen nicht zwei verschiedene Produktionsweisen aufeinander, sondern bloße Konkurrenzreibereien um die Früchte desselben Ausbeutungsgeschäfts. Deshalb sind die politischen Kämpfe, deren Tummelplatz Polen im 17. und 18. Jahrhundert war, so gänzlich unfruchtbar; ohne Klassenkampf gab es keine historische Entwicklung, und der Krakeel zwischen dem großen und dem kleinen Adel führte nur den Untergang herbei, da ihm die historische Möglichkeit fehlte, zum wirklichen Klassenkampf zu werden.

Den Verfall des polnischen Staates in all seinen grauenhaften Einzelheiten zu schildern ist hier nicht möglich und auch nicht nötig. Genug, wenn das gänzliche Fehlen eines dritten Standes verschuldete, dass keine moderne Monarchie, kein modernes Heer, keine modernen Finanzen entstanden, so war es nach den Begriffen der damaligen Staatsräson, die sich übrigens auch aus der damaligen ökonomischen Struktur der europäischen Gesellschaft erklärte, ganz selbstverständlich, dass ein Land ohne Regierung, ohne Geld und ohne Truppen von den mächtigen Nachbarstaaten verschlungen wurde. Ehe es im Jahre 1772 zur ersten Teilung Polens kam, die den Teilungsmächten Russland, Österreich und Preußen nicht einmal einen Tropfen Blut kostete, waren mindestens schon sechs Teilungsprojekte auf dem Tapet gewesen, bei deren zweien sich die polnischen Könige selbst im Komplott befanden.

Hier ist nur noch ein Wort notwendig über die sogenannte „Periode der Reformen", die nach der ersten Teilung eintrat und nach Ansicht der polnischen Historiker den Staat gerettet haben würde, wenn die Teilungsmächte seine Wiederherstellung auf zeitgemäßer Grundlage nicht mit Gewalt und List verhindert hätten. Diese Auffassung wird von der „Neuen Rheinischen Zeitung" im wesentlichen geteilt; sie datiert von der ersten Teilung an ein Bündnis zwischen dem Adel, der städtischen Bürgerschaft und teilweise auch den Bauern; sie sagt, dass sich dieses Bündnis ebenso gegen die große Aristokratie des Landes selbst, wie gegen die fremden Unterdrücker gerichtet habe; die Polen hätten begriffen, dass ihre Unabhängigkeit nach außen unzertrennlich gewesen sei von dem Sturze der großen Aristokratie und von der agrarischen Reform im Innern, wie schon die Konstitution von 179111 beweise; es sei das Verdienst der Polen, unter all ihren ackerbautreibenden Nachbarvölkern zuerst die Notwendigkeit der agrarischen Revolution erkannt zu haben. Diese Sätze enthalten die schlimmsten der historischen Irrtümer, die sich in den Polenartikeln der „Neuen Rheinischen Zeitung" finden.

Nichts kann gewisser sein, als dass die Teilungsmächte jede Reform des polnischen Staates zu verhindern gesucht haben, wobei sich die Berliner Politik durch ganz besondere Perfidie auszeichnete. Aber nichts kann auch hinfälliger sein, als anzunehmen, dass die polnische „Periode der Reformen" gerade hieran gescheitert sei. Sie scheiterte vielmehr an ihrem eigenen Widerspruch, an der Unmöglichkeit der Aufgabe, dass der Adel gleichsam in seinem Innern selbst den Klassenkampf des dritten Standes gegen den Feudalismus durchkämpfen, dass er gegen sich selbst das vollbringen sollte, was in den westeuropäischen Ländern der dritte Stand im Kampfe gegen ihn vollbracht hatte. Er sollte Manufakturen und Handelskompanien gründen, die Städte wieder beleben, die königliche Gewalt stärken und zentralisieren, das Heer reorganisieren, er sollte sich selbst besteuern, um blühende Finanzen zu schaffen.

Das alles sollte der Adel tun, und er allein. Die „Allianz", die gemäß der „Neuen Rheinischen Zeitung" zwischen ihm und der städtischen Bürgerschaft nach der ersten Teilung geschlossen worden ist, hat nie bestanden, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil es eine städtische Bürgerschaft im historischen Sinne des Worts gar nicht gab; die Bewohnerschaft der Städte bestand aus adligen Klienten oder Juden oder ausländischen Kaufleuten. Ebenso wenig bestand ein Bündnis zwischen dem Adel und einem Teile der Bauern, die allesamt gänzlich abgestumpft waren für ein Vaterland, das ihnen, um nur eins unter unzähligem zu erwähnen, durch die adligen Vögte bei Todesstrafe verbot, aus dem Dorfbrunnen zu trinken, nur damit der Junker als Schnapsproduzent und Schnapshändler zu seinem gehörigen Profit käme. Wenn also der Adel allein „reformieren" konnte, so wollte er es allerdings auch. Die erste Teilung, die so spielend leicht vor sich gegangen war, hatte namentlich dem kleinen Adel einen gehörigen Schreck in die Glieder gejagt; das Schicksal seiner Klassengenossen in den geraubten Landesteilen zeigte ihm, dass die Erhaltung seiner Herrschaft schon einige Opfer lohne.

Indessen gerade die ernsteren Anläufe dieser Art gestalteten sich zu einem historischen Fastnachtsspiel. Sie zeigten in höchst charakteristischer Weise die Vorzüge der „friedlichen Reform", die den Staat von Grund aus zu reformieren und namentlich die arbeitenden Klassen zu erlösen wusste, ohne dass ein Tropfen Blut floss, vor der „gewaltsamen Revolution" in Frankreich, ein Unterschied, der damals schon von den Sykophanten der herrschenden Klassen im tiefsten Brusttone sittlicher Überzeugung gepriesen wurde. Der Adel gründete einige Luxusfabriken, um eine Manufaktur zu schaffen. Er half den Städten empor, indem er die Zünfte wiederherstellte, begüterten Bürgern die Erhebung in den Adelstand erleichterte und gerade 22 Vertreter der Städte in den Reichstag zuließ, wo sie jedoch nur mitzustimmen hatten, wenn Interessen der Städte berührt wurden. Er wollte ein Heer von hunderttausend Mann schaffen und bewilligte für diesen Zweck das „Opfer des zehnten Groschens", eine direkte Einkommensteuer, die den Reinertrag der Adelsgüter mit zehn Prozent treffen und vierzig Millionen Gulden einbringen sollte, tatsächlich aber nur sechs Millionen einbrachte. Er wollte das Königtum stärken und schaffte die Wahlmonarchie ab, indem er im Auslande nach einem Potentätlein oder Prinzlein suchte, das die polnische Krone anzunehmen und im Mannesstamme zu vererben bereit sei. Er wollte die adlige Anarchie beseitigen und kassierte das Liberum veto des Adels sowie sein Recht zu Konföderationen, den bewaffneten Aufständen, die dem Adel gegen jede ihm missliebige Einrichtung erlaubt waren, aber er rührte nicht an die Wurzel der adligen Anarchie, an die Leibeigenschaft.

Eine leichte Besserung der Fronverfassung suchte Andreas Zamoyski im Jahre 1778, also sechs Jahre nach der ersten Teilung, in einem reformierenden Gesetzbuche durchzusetzen, mit dessen Abfassung er ausdrücklich vom Reichstage beauftragt worden war. Er schlug vor, erstens, dass zwar zwei Söhne eines Leibeigenen unter allen Umständen an die Scholle gebunden bleiben sollten, aber dass seine übrigen Söhne frei abziehen könnten, und zweitens, dass ein Leibeigener gerichtliche Klage gegen seinen Herrn erheben dürfe, wenn er von diesem grausam misshandelt werde oder wenn der Herr einen mit dem Leibeigenen geschlossenen Vertrag nicht halte. Über diese bescheidenen Anläufe zu einer „agrarischen Reform im Innern" geriet der Reichstag in einen Zustand völliger Raserei. Er zerriss das Gesetzbuch Zamoyskis und brandmarkte es als einen „des Scheiterhaufens würdigen Verrat"; dann beschloss er, dass der Reichstag in aller Ewigkeit nicht wieder mit solchen Vorschlägen belästigt werden dürfe.

In der Tat enthielt denn auch die berühmte Verfassung vom 3. Mai 1791 gar nichts über eine Aufhebung der Leibeigenschaft. Zugunsten der Bauern bestimmte sie nur, dass ein Vertrag, den der Gutsherr mit seinem Bauern schließe, vor Gericht gültig und dass jeder Mensch, der in die Länder der Republik komme oder zurückkehre, frei sein solle, sobald er polnischen Boden betrete. Schloss der Gutsherr mit dem Bauern keinen Vertrag, so blieb alles beim alten, und eine Aussicht auf persönliche Freiheit winkte dem Bauern nur, wenn er wieder auf polnischen Boden trat, nachdem er erst der Scylla der polnischen und dann der Charybdis der russischen oder österreichischen oder preußischen Junkerpeitsche entronnen war. Übrigens wurde diese glorreiche Konstitution auch nur durch eine Überrumpelung des Reichstags ins Leben gerufen, dessen Bänke gerade wegen der Osterfeiertage spärlich besetzt waren. Die Masse der Junker war durchaus nicht von ihr erbaut, und als die von Russland erkauften großen Magnaten die gegen sie gerichtete Konföderation von Targowice12 anzettelten, fiel sie wie ein Kartenhaus um, und ihre tatsächliche Wirkung war nur die zweite Teilung Polens. Selbst als der letzte Verzweiflungskampf, der Aufstand Kosciuszkos im Jahre 1794, ausbrach, entfachte die „revolutionäre" Regierung den Volkskrieg nicht, indem sie die Leibeigenschaft aufhob. Sie beschränkte sich, den Bauern und seine Familie vom Frondienst zu befreien, solange er für die Herrschaft des Adels unter den Waffen stände; nach dem Siege sollte er wieder unter das Joch der Leibeigenschaft zurückkehren. Es ist begreiflich, dass dieser Siegespreis nicht anfeuernd auf die Massen wirkte.

Der klägliche Verlauf, den die „Periode der Reformen" zwischen der ersten Teilung Polens und seinem endgültigen Untergange nahm, darf keineswegs der adligen Reformpartei aufs persönliche Schuldkonto geschrieben werden. Sie war rührig genug, dabei vortrefflich organisiert und untadelhaft in ihrer Begeisterung für die bürgerliche Aufklärung, wovon heute noch eine reiche Literatur zeugt. Sie scheiterte allein an der hausbackenen Tatsache, dass, wie kein Mensch, so auch keine Klasse über ihren Schatten springen kann. Sie bewies mit den schlagendsten Gründen, dass die Leibeigenschaft der Urquell alles Übels sei, dass sie den ökonomischen Verfall des Landes um so unaufhaltsamer herbeiführe, je schärfer die Konkurrenz auf dem Weltmarkte werde und je notwendiger daher eine intensive Wirtschaft sei, die nun einmal mit Leibeigenen nicht geführt werden könne. Sie predigte auch keineswegs nur tauben Ohren; die großen Magnaten, die mit dem Auslande unter einer Decke spielten, begannen intensiver zu wirtschaften, da sie die Mittel dazu hatten; sie gaben ihre Bauern insofern frei, als sie ihnen größere Landparzellen zur Nutzung gegen bestimmte Zinszahlungen abtraten und sonst auf ihren Gütern mit den reservierten Arbeitskräften eine rationellere Bewirtschaftung begannen. Jedoch für den kleinen Adel, den rücksichtslosen Ausbeuter einiger weniger Bauern, war diese Reform unmöglich, eine Milderung der Leibeigenschaft war sein Ruin. Nun ging die Reformpartei gerade aus dem kleinen Adel hervor, und so zeigte sich logischerweise in der wichtigsten Reformfrage auch am schlagendsten, dass die ganze „Periode der Reformen" eine auf den Kopf gestellte Welt war.

Wie der polnische Verzweiflungskampf von 179413, so ging auch 1830 der Aufstand in Russisch-Polen daran zugrunde, dass er von einer Agrarrevolution nichts wissen wollte. Die „Neue Rheinische Zeitung" gibt selbst an, dass Lelewel sie zwar als einziges Mittel der Rettung ausgesprochen, aber der Reichstag sie zu spät angenommen habe. Wenn dann die polnischen Bewegungen von 1846 und 1848 sie „offen proklamierten", so waren solche offenen Proklamationen seit mehr als fünfzig Jahren, seit „der Periode der Reformen", herkömmlich, ohne dass deshalb ein Stein von der Stelle gerückt worden wäre. 1848 wurde die polnische Bewegung überhaupt im Keim erstickt, ehe sie sich mit Taten über ihre Stellung zur agrarischen Reform ausreifen konnte, während sie 1846 in Galizien zeigte, welche besondere Bewandtnis es mit der polnischen Bauerndemokratie hatte, in der die „Neue Rheinische Zeitung" das robuste Kind der verkommenen Adelsdemokratie sah.

Wenn irgendwo, so hatte der Adel in Österreich-Polen einige bauernfreundliche Anläufe gebracht. Während er in der preußischen Provinz Posen sich gegen die sehr bescheidene Bauernemanzipation der Stein-Hardenbergischen Gesetzgebung mit einer Adresse an die Krone sträubte, worin er dieser Unterdrückerin seines geliebten Vaterlandes beweglich vorstellte, wie „die Schreckenskunde von dieser Güterkonfiskation in den zügellosen Ausschweifungen des finstern rohen Landvolks die Keime eines praktischen Jakobinismus entwickeln" werde, hatte der polnische Adel auf den galizischen Landtagen wirklich die Aufhebung oder Ablösung bäuerlicher Lasten beantragt. Die Anträge waren von der österreichischen Regierung abgewiesen worden, gemäß der Politik des Systems Metternich, das sich auf der Oberfläche hielt, indem es die einzelnen Nationen, und innerhalb der einzelnen Nationen die einzelnen Klassen, gegeneinander ausspielte. Deshalb ist es aber nicht weniger töricht, auf die Rechnung Metternichs zu setzen, dass, als der polnische Adel im Jahre 1846 seine Hintersassen zum Kampfe für die nationale Unabhängigkeit aufrief, die Bauern sich mit unbezähmbarer Wut auf die Edelleute selbst stürzten, ihre Höfe verbrannten und ihr Blut in Strömen vergossen. Metternich war viel zu sehr Angstseele, um sich vor solchen lodernden Flammenzeichen nicht selbst zu entsetzen. Dieses oder jenes untergeordnete Werkzeug des habsburgischen Despotismus mag mit in das Feuer geblasen haben, aber die Behauptung der polnischen Junker, dass die Bauern nur durch diese Verhetzung gegen sie aufgereizt worden seien, ist von demselben Kaliber wie die Behauptung, dass der Berliner Barrikadenkampf am 18. März durch eine Handvoll Franzosen, Juden und Polen angestiftet oder die deutsche Sozialdemokratie von der preußischen Polizei erfunden worden sei, um den sonst unaufhaltsamen Siegeslauf der Fortschrittspartei zu hemmen.

Die Illusionen der „Neuen Rheinischen Zeitung" über die polnische Geschichte erklären sich zu einem Teil aus ihrer revolutionären Leidenschaft. Sie hatte vollkommen recht, wenn sie meinte, dass eine polnische Revolution, die den zarischen Despotismus lahmgelegt hätte, allein die europäische und namentlich die deutsche Revolution retten konnte, und es lag nicht minder auf der Hand, dass die polnische Revolution, wenn sie siegreich sein sollte, nur eine agrarische Revolution sein konnte, sei es nun mit dem polnischen Adel oder über den polnischen Adel hinweg. Wenn sich nun in der Frankfurter Versammlung die engherzigste Philisterei gegen diese klare Notwendigkeit auflehnte, wenn diese biederen Volksvertreter mit den verlogensten Schlagworten die nationalen Empfindungen gegen Polen aufreizten, so war es natürlich, dass die „Neue Rheinische Zeitung" die Gerte, um sie geradezubiegen, ein wenig nach der entgegengesetzten Seite verbog und die polnische Geschichte in allzu rosigem Lichte sah. Diesen Fehler hat Marx selbst einige Jahre später verbessert, indem er sich in der „New-York Daily Tribüne" namentlich über die deutsche Einwanderung in Posen gerechter ausließ als in der „Neuen Rheinischen Zeitung" und auch hinzufügte, die Frage habe verwickelt genug gelegen, ob ganze, hauptsächlich von Deutschen bewohnte Landstriche und große, ganz deutsche Städte einem Volk hätten ausgeliefert werden sollen, das sich noch nicht fähig gezeigt hatte, über einen auf der Unfreiheit der Landbevölkerung beruhenden Feudalismus hinauszugehen.14

Zum anderen Teil aber ist nicht zu übersehen, dass Marx und Engels zur Zeit der „Neuen Rheinischen Zeitung" die polnische Geschichte aus Autoren kannten, die, wie Lelewel und Mieroslawski, in den Überlieferungen der Reformer von 1791 lebten und in den gleichen Einbildungen befangen waren wie diese. Zudem aber stellte der polnische Adel eine stattliche Schar ehrlicher und tapferer Streiter zu den revolutionären Kämpfen des 19. Jahrhunderts, ähnlich wie einst der niedere Adel Deutschlands in seinem historischen Untergange einen Ulrich Hutten und einen Florian Geyer hervorgebracht hatte. Ein anderer Vergleich aus der deutschen Geschichte liegt zeitlich noch viel näher. Mochte der polnische Adel in dem Kampfe fürs Vaterland auch nur um seine Privilegien kämpfen, so hob der Kampf selbst seine einsichtigsten und mannhaftesten Mitglieder über die Klassenselbstsucht hinaus, so wie der Kampf um das bei Jena verlorene Junkerparadies aus der altfritzischen Armee Männer hervorgehen ließ, wie Gneisenau, Boyen, Grolman, Clausewitz, Männer von genialem Blick und vorurteilsloser Weltanschauung, die, solange der preußische Junkerstaat unter Napoleons eiserner Faust lag, den Unterdrücker bekämpften, wo sie ihn treffen konnten, unter den spanischen Guerillas, wie Grolman, oder, wie Gneisenau, in englischem Dienst oder, wie Boyen und Clausewitz, in einer russischen Fremdenlegion.

Eben an diesen Männern sieht man denn auch gleich die Kehrseite der Medaille. Von ihrer intellektuellen und moralischen Höhe auf die politische Intelligenz und Moral ihrer Klasse zu schließen wäre ein grober Irrtum gewesen. Sie haben die ruchloseste Ausbeutung der von ihnen erfochtenen Siege durch das preußische Junkertum nicht hindern können und sind schließlich selbst in diesem Milieu wieder umgekommen. Resignierten Boyen als Kriegsminister und Grolman als Chef des Generalstabes noch im Jahre 1819, als die junkerliche Reaktion in den Karlsbader Beschlüssen15 den endgültigen Sieg errungen hatte, so hat Grolman später als kommandierender General in Posen gerade den Polen gegenüber eine so reaktionäre Politik betrieben, dass Bismarck sich später für seine sinnlosen Gewaltstreiche auf ihn berufen konnte, und Boyen hat, von Friedrich Wilhelm IV. wiederum ins Kriegsministerium berufen, noch vor dem Vereinigten Landtage die romantische Torheit dieses Königs mit, wie die „Neue Rheinische Zeitung" einmal sagt, „stotterndem Deutsch" verteidigt.

In ganz analoger Weise lässt der polnische Adel, der auf den Barrikaden der westeuropäischen Revolution focht, in der richtigen Erkenntnis, dass nur durch diese Revolution sein Vaterland aus der klammernden Unterdrückung der Ostmächte gerettet werden könne, keinen Schluss zu auf die revolutionäre Kraft und den revolutionären Willen seiner Klasse überhaupt. Mit all seiner Hingebung an die westeuropäische Revolution war nicht entfernt gesagt, dass sein Sieg die agrarische Revolution in Polen bedeutet haben würde. Aber diese polnischen Revolutionäre bildeten ein so glänzendes Gegenstück zu der trivial-widerlichen Alltäglichkeit des deutschen Philistertums, dass es sich leicht erklärt, wenn die „Neue Rheinische Zeitung" unter dem faszinierenden Eindruck ihrer Personen ihre Sache wohlwollender beurteilt hat, als sie tatsächlich verdiente. Marx und Engels sind dabei einem psychologischen Prozess unterlegen, dem später auch Lassalle unterlag, als ihn der revolutionäre Glanz, der Ulrich Huttens Gestalt unverlierbar umfließt, mehr oder weniger blind machte für Huttens reaktionäre Stellung in den Kämpfen des Revolutionszeitalters.

Erörtern die drei ersten Polenartikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" die historisch-prinzipiellen Gesichtspunkte der polnischen Frage, so führen die fünf letzten die Polendebatten der Frankfurter Versammlung selbst vor. Hinter dem Berichterstatter Stenzel, einem echten Typus jenes langweilig-ledernen Professorentums, das den Debatten der Paulskirche die letzte Spur von Energie und Leben aussog, der tobende Chor der „Netzbrüder", mit krämerhafter Pfiffigkeit eine große europäische Frage ausschlachtend, turmhoch aber über sie emporragend der Pole Janiszewski, der mit erschütternder Beredsamkeit die Sache eines geknebelten Volkes führte, und dann in scharf umrissenen Porträts typische Figuren von der Rechten wie von der Linken, Radowitz und Lichnowsky, Robert Blum, Wilhelm Jordan und Arnold Ruge.

Es war kein Zufall, dass die „Neue Rheinische Zeitung" der Linken den größten und nicht am wenigsten scharfen Teil ihrer Kritik widmete. Von ihren Rednern sprach Robert Blum verhältnismäßig noch am besten, aber wenn man heute seine Rede in den stenographischen Berichten nachliest, so staunt man doch über die wahllose Aneinanderreihung von Phrasen, die nirgends irgendeine ernsthafte Auffassung des polnischen Problems verraten und nur mit biedermännischer Gemütlichkeit den Gedanken variieren: Fehler mögen die Polen wohl haben, aber die haben wir schließlich alle, und die Fehler der Polen sind ihnen überdies durch ihre ungerechte Unterdrückung anerzogen worden. Arnold Ruge versuchte der Polenfrage nun zwar eine hochpolitische Seite abzugewinnen, aber es gelang ihm nur durch den unglaublich unsinnigen Antrag, das Schicksal Polens durch einen von Deutschland, England und Frankreich beschickten Kongress entscheiden zu lassen. Wie Ruge in seinem Wahlprogramm erklärt hatte, dass er in Frankfurt die Vernunft der Ereignisse redigieren werde, so sagte er jetzt, sein Antrag sei das einzig Richtige und Vernünftige; sollte er gleichwohl nicht angenommen werden, so sei das nur möglich, weil den Menschen leider die Möglichkeit gegeben sei, von dem Richtigen abzuweichen. Die Bitterkeit, womit die „Neue Rheinische Zeitung" diese und ähnliche Tiraden Ruges zerfetzte, war berechtigt genug, wenn sie auch nicht ganz frei von dem Nachgeschmack alter Kämpfe war; es hätte immerhin beiläufig Erwähnung verdient, dass Ruge in dieser Rede den Mut hatte, die Siege, die Radetzky eben über die italienische Revolution erfocht, als Siege der Tyrannei, als Siege eines neuen Tilly zu brandmarken unter dem wilden Wutschrei der Mehrheit und einem halben Ordnungsruf des edlen Gagern. Am meisten wurde dann die Linke durch Wilhelm Jordan blamiert, der in offener Schlacht zu den Gegnern überlief und den „Netzbrüdern" sekundierte. Aber die Linke war schon darüber hinaus, solche Felonie übelzunehmen; sie lehnte Blums Antrag auf Ausschließung des Renegaten ab.

Wenn nun aber auch die mancherlei historischen Irrtümer der Polenartikel keineswegs die revolutionäre Bedeutung abschwächen, die sie für ihre Zeit gehabt haben, so ist schließlich noch zu sagen, dass heute die polnische Frage für die moderne Arbeiterklasse nicht die gleiche Bedeutung hat wie im Jahre 1848. Man darf sich darüber nicht täuschen lassen durch die Beobachtung, dass die Berliner Polenpolitik in der Provinz Posen heute noch den unterdrückten Polen die achtungsvolle Sympathie jedes Deutschen sichert, dem sich der Begriff deutscher Zivilisation noch nicht im roten Adlerorden vierter Güte oder im Rang eines Rates fünfter Klasse erschöpft. Es ist eine vollkommen verdiente Strafe dieser Politik, dass sie gleichermaßen mit ihrer Peitsche wie mit ihrem Zuckerbrot die polnische Propaganda fördert; erfunden von dem Konsortium Hoym-Bischoffwerder-Triebenfeld-Ritz, erneuert von dem Säkularmenschen Bismarck und ererbt von dem so überaus genialen Grafen Bülow, ist sie die Fleisch gewordene Beschränktheit preußischer Regierungskunst. Aber wie die „Neue Rheinische Zeitung" schon gesagt hat, die Posener Frage an sich ist ohne jede Möglichkeit der Lösung; nicht in Preußisch-, sondern in Russisch-Polen, dem weitaus größten Stück der polnischen Beute, liegt die Entscheidung, und wie in anderen Fragen, so hat sich der russische Despotismus auch in dieser viel raffinierter erwiesen als der borussische.

In dem Cliquenkrakeel zwischen den großen Magnaten und dem kleinen Adel, der die unmittelbare Ursache zum Untergange Polens war, indem die großen Magnaten das Vaterland an das Ausland verkauften, während der kleine Adel unfähig war, es zu einem modernen Staate zu machen, vertraten die großen Magnaten gleichwohl den historischen Fortschritt. Es sei gestattet, noch einmal an eine Analogie aus der deutschen Geschichte zu erinnern. Der große Adel im Deutschland des 16. Jahrhunderts, in erster Reihe die Hohenzollern Joachim von Brandenburg, Kasimir von Ansbach-Bayreuth und Albrecht von Mainz, war eine Rotte der verruchtesten Menschen, denen gegenüber die Sickingen und Hutten, ganz zu geschweigen die Florian Geyer, als wahre Lichtgestalten erscheinen. Sie haben, um ihre Herrschaft zu begründen, nicht weniger den Landesverrat kultiviert als die großen Magnaten in Polen; man denke nur an den ekelhaften Schacher um die Kaiserkrone im Jahre 1519, wo sich namentlich wieder die Hohenzollern von Brandenburg und Mainz im Auslande wegen ihrer unersättlichen Gier nach Bestechungsgeldern übel berufen machten, oder an die Preisgabe der lothringischen Bistümer Toul, Metz und Verdun, womit sich Moritz von Sachsen von der französischen Krone die Erlaubnis zu seinem Verrat an Kaiser und Reich erkaufte. Diese deutschen Magnaten haben es auch zu mancher „Teilung" Deutschlands gebracht, ja nach dem Dreißigjährigen Kriege stand Deutschland tatsächlich unter fremder Botmäßigkeit. Aber die partikularistische Fürstenherrschaft war wenigstens gesichert, und sie war ein historischer Fortschritt gegen die Adelsdemokratie, die Sickingen und Hutten mit ihren utopischen Reformen erstrebt hatten. Sie mochte ein noch so jammervoller und trauriger Notbehelf für die nationale Monarchie Englands und Frankreichs sein, aber sie sicherte Deutschland vor dem Schicksal Polens, im feudalen Chaos unterzugehen.

Die polnischen Magnaten erstrebten dasselbe, was der große Adel Deutschlands erreicht hatte. Jedoch sie scheiterten daran, dass die ökonomische Struktur Polens nicht einmal gestattete, aus dem feudalen Chaos wenigstens die partikularistische Vielherrschaft zu entwickeln. Der Landesverrat der polnischen Magnaten wurde aus einem Mittel zum Zwecke das wirkliche Ende. Aber von den drei Teilungsmächten verstand keine so geschickt wie Russland, den richtigen Anfang an dies Ende zu knüpfen. Während Preußen nach den Wiener Verträgen den polnischen Magnaten der Provinz Posen nur einen dekorativen Statthalterposten einräumte, der obendrein mit einem den Hohenzollern verschwägerten Fürsten Radziwill besetzt wurde, stellte Russland aus seinem Anteil an der Beute ein Königreich Polen wieder her und gab ihm eine autonome Verfassung, eine ständische Verfassung zwar, aber eine von der alten polnischen Verfassung himmelweit verschiedene, mit ihrem ganzen administrativen, finanziellen, gerichtlichen, militärischen Apparat auf den modernen zentralisierten Staat zugeschnittene, die Herrschaft des Magnatentums sichernde und den kleinen Adel schon durch ihre Kosten ruinierende Verfassung. So wurde, was durch diese Verfassung ermöglicht werden sollte, zugleich auch zur Existenzbedingung des Staats, jener entscheidende historische Fortschritt, den das alte Polen nie hatte machen können, der Übergang zur Manufaktur, zur industriellen Entwicklung.

In vollstem Einverständnis zwischen dem polnischen Magnatentum und dem russischen Zarismus wurden, wie ehedem im 12. Jahrhundert deutsche Handwerker, nun im 19. Jahrhundert Manufakturisten ins Land gelockt, Leute aus aller Herren Länder und nicht zum wenigsten allerdings aus Deutschland: Binnen weniger Jahre wanderten etwa zehntausend deutsche Familien in Russisch-Polen ein. Es war natürlich viel gemischte Gesellschaft in dieser Einwanderung: Abenteurer, Bankrotteure, Spekulanten, Wucherer und jene internationale Mischrasse von Genie und Glücksritter, wie sie die moderne Industrie erzeugt: Cockerill, den die „Neue Rheinische Zeitung" als einen Engländer nennt, war zwar in England geboren, aber in Belgien emporgekommen und wühlte als Maulwurf der industriellen Revolution so ziemlich in allen europäischen Ländern von Spanien bis Polen und Russland. Die russische Regierung wandte zur Förderung der polnischen Industrie dieselben Mittel an wie ehedem die Regierungen der westeuropäischen Länder: Sie baute den Einwanderern Häuser oder gewährte ihnen Bauland und Baumaterial, sie stiftete einen jährlichen Industriefonds von 127.500 Rubel, sie gründete die Polnische Bank nach dem Muster der preußischen Seehandlung und so weiter.

Die industrielle Entwicklung des Königreichs Polen ging nun nicht ohne manche hemmenden Zwischenfälle, im Ganzen aber doch mit der Schnelligkeit des historisch abgekürzten Verfahrens vor sich. Wenn man die polnische Manufakturperiode für die drei Jahrzehnte von 1820 bis 1850 abgrenzen kann, so beanspruchte der Übergang zur Großindustrie die beiden Jahrzehnte von 1850 bis 1870; etwa von diesem Jahre an darf man den Sieg der großen Industrie und ihre treibhausmäßige Entwicklung datieren. Die Stadt Lodz, ein Hauptsitz der polnischen Textilindustrie, hatte im Jahre 1820 nur 800, im Jahre 1850 immerhin erst 15.600, im Jahre 1878 aber schon 100.000 und im Jahre 1895 315.000 Einwohner; ihre Produktion stieg von nicht ganz drei Millionen Rubel im Jahre 1860 auf neunzig Millionen im Jahre 1895. Um noch durch eine andere Ziffernreihe das gewaltige Wachstum der polnischen Industrie zu beleuchten, so stellt sich die Kohlengewinnung des Sosnowizer Bezirks, der noch bis zu den sechziger Jahren meilenweit mit dichtem Tannenwald bedeckt war, in Millionen Pud so dar: 1860 3,6, 1870 13,8, 1880 78,4, 1890 150,8. In den beiden Jahrzehnten von 1870 bis 1890 hat sich die Ausbeute um fast tausend Prozent vergrößert.

In demselben Maße, wie die Industrie zur herrschenden Produktionsform, wurde die Bourgeoisie zur leitenden Klasse in Polen. Anfangs vom Adel als eine ins Land geschneite Bande über die Achsel angesehen, wuchs sie ihm unaufhaltsam über den Kopf. Als der Adel im Jahre 1863 seine versiegende Kraft zu einem letzten Aufstande zusammengerafft hatte und damit gescheitert war, räumten die Bauernreform von 1864, die damit eingeführte Geldwirtschaft und der für die polnischen Erzeugnisse geöffnete Massenabsatz in Russland der Thronbesteigung der Bourgeoisie die letzten Steine aus dem Wege. Noch konnte sie den eingewurzelten Überlieferungen des Volkes gegenüber das Banner der bedingungslosen Russenfreundschaft nicht unverhüllt entfalten, und so gab sie das „Programm der nationalen Arbeit" aus, das scheinbar den nationalen Kampf fortsetzen, aber wirklich die Versöhnung mit Russland anbahnen sollte. Im Gegensatze zu den hoffnungslosen Waffenkämpfen des Adels, die dem schwachen und uneinigen Lande immer tiefere Wunden geschlagen hatten, wurden die Stichworte ausgegeben: friedliche Arbeit auf dem Gebiete der Kultur, Sammlung aller geistigen und materiellen Mittel, innerliche Konsolidierung der Nation, nationaler Reichtum, Aufklärung, Versöhnung aller Klassen, was mit anderen Worten hieß: Verzicht auf jede politische Aktion. Mit diesem Programm übernahm die polnische Bourgeoisie die Führung in der Literatur, in der Presse, in der ganzen Gesellschaft; sie bekehrte auch den Adel, der allen feudalen und nationalen Götzendienst opferte auf dem Altare des Schachers in Schafswolle, Runkelrüben und Schnaps. Er bekannte nun in demütiger Reue, dass die polnische Landwirtschaft keinen mächtigeren, segensreicheren Beschützer habe als die noch vor einem halben Jahrhundert verachtete und als etwas Fremdes und Unheilvolles gehasste Industrie.

Nachdem das „Programm der nationalen Arbeit" so treffliche Dienste geleistet hatte, konnte es gehen. Es half dem polnischen Kapitalismus ein gutes Stück Weges weiter, aber bis zum Ende seines Weges führte es nicht. Je mehr der industrielle Absatz Schritt für Schritt die Runde durch das ganze Reich machte, von Litauen nach Zentralrussland, dem Kaukasus und Wolgadistrikt, nach Sibirien und Mittelasien vordrang, um so mehr wuchs das Interesse der polnischen Industrie daran, auch die russische Verwaltung zu beeinflussen. Der politische Verzicht musste aufgegeben werden, aber nicht um die alten nationalen Überlieferungen wieder aufzunehmen, sondern um den zarischen Despotismus zu beherrschen, indem man sich ihm unterwarf. Allein wenn die Bourgeoisie damit nur die Hand küsste, die sie großgezogen hatte, so trat auch der Adel den Büßergang zu Väterchens Hofe an; ihn verlockten die Fleischtöpfe des russischen Adels, an denen er seinen Anteil haben wollte. Die herrschenden Klassen Russisch-Polens haben freiwillig das Joch der Unterdrückung auf sich genommen; es scheuert nicht einmal mehr ihre Nacken. Als der gegenwärtige Zar, nach seiner Thronbesteigung, zum ersten Mal in Warschau erschien, wurde er mit einem raffinierten Klimbim patriotischen Entzückens empfangen wie vordem kein polnischer König.

In Österreichisch- und Preußisch-Polen ist keine große Industrie entstanden; der Adel ist nach wie vor die herrschende Klasse. Aber auch hier ist ihm der Spiritus ausgegangen und nur das Phlegma geblieben, der Höfling und der Staatspensionär. In Österreich gibt ihm der Zwist zwischen Deutschen und Tschechen eine große Macht über die Staatsmaschine, die er trefflich für sich auszunützen versteht, und wie sich die polnischen Junker der preußischen Provinz Posen in die agrarische Liebesgabenpolitik verliebt haben, wissen wir alle. Sie sind die Extremsten unter den Brotwucherern, und wenn der ostelbische Junker sonst wohl, wenigstens in der Tasche, die Faust über die „grässliche Flotte" zu ballen weiß, so schwelgen die Admiralskis in patriotischer Hingebung an die „Weltpolitik" des preußisch-deutschen Vaterlandes. Ja, die Berliner Polenpolitik hat in dem berufenen Ansiedlungsfonds, der das alte Rezept des Konsortiums Hoym-Bischoffwerder-Triebenfeld-Ritz in genialer Weise erneuert, indem er den polnischen Adel mit dem Gelde der preußischen Steuerzahler auskaufen will und für diesen erhabenen Zweck bald eine halbe Milliarde lose gemacht hat, eine Rettungsbank für verkrachte Junker in der Provinz Posen errichtet, die jedem edlen Schlachtschitzen das Herz höher schlagen lässt, wenn er auch neuestens teilen muss mit dem deutschen Junker, der auf so lockende Bedingungen hin ebenfalls „germanisiert" zu werden verlangt.

So haben sich die herrschenden Klassen des ehemaligen Polens in allen drei Teilungsstaaten mit den herrschenden Klassen dieser Staaten assimiliert. Sie haben die nationale Agitation gänzlich aufgegeben, die nur noch in einem Teile der polnischen Intelligenz und des polnischen Kleinbürgertums ein dürftiges Leben fristet. Damit hat die polnische Frage für das moderne Proletariat ein ganz anderes Gesicht bekommen, als sie im Jahre 1848 hatte. Polen ist längst nicht mehr die einzige Angriffsfläche, die der zarische Despotismus der Revolution bietet; wie die anderen Teilungsmächte hat Russland die Revolution längst im eigenen Leibe. Wollte das polnische Proletariat die Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaats auf seine Fahne schreiben, eines Klassenstaats, von dem die herrschenden Klassen selbst nichts wissen wollen, so würde es ein historisches Fastnachtsspiel aufführen, was wohl besitzenden Klassen passieren mag, wie dem polnischen Adel im Jahre 1791, aber der arbeitenden Klasse nie passieren darf. Taucht diese reaktionäre Utopie nun gar auf, um diejenigen Schichten der Intelligenz und des Kleinbürgertums, in denen die nationale Agitation noch einen gewissen Widerhall findet, der proletarischen Agitation geneigt zu machen, so ist sie doppelt hinfällig, als Ausgeburt jenes verwerflichen Opportunismus, der um nichtiger und wohlfeiler Augenblickserfolge willen die dauernden Interessen der Arbeiterklasse preisgibt.

Diese Interessen gebieten durchaus, dass die polnischen Arbeiter in allen drei Teilungsstaaten mit ihren Klassengenossen ohne jeden Rückhalt Schulter an Schulter kämpfen. Die Zeiten sind vorüber, wo eine bürgerliche Revolution ein freies Polen schaffen konnte; heute ist die Wiedergeburt Polens nur möglich durch die soziale Revolution, in der das moderne Proletariat seine Ketten bricht.

2 Acquisitions (franz.) – Erwerbungen.

3 Wiener Kongress – die Zusammenkunft der am Kriege gegen Napoleon I. Beteiligt gewesenen Herrscher und leitenden Staatsmänner der meisten europäischen Staaten, die vom September 1814 bis Juni 1815 in Wien stattfand. Sie diente der Restaurierung der politischen Verhältnisse Europas. Der Kongress wurde durch die Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 abgeschlossen, die von den fünf Großmächten und Portugal und Schweden unterzeichnet wurde. England, Russland, Österreich und Preußen annektierten zum Teil erhebliche Gebiete. Der Deutsche Bund wurde gegründet.

6 Die im Mittelalter entstandenen Magdeburger Rechtsbücher, ursprünglich eine Mischung von altsächsischem Gewohnheitsrecht und Magdeburger Lokalrechten (zum Beispiel im 14. Jahrhundert Stapelrecht für die Elbschifffahrt), gewannen im Zusammenhang mit der feudalen Ostexpansion eine besonders weite Verbreitung namentlich in den westslawischen Gebieten. Das in den Städten entstehende Stadtrecht oder auch Weichbildrecht, das den sich entwickelnden Ware-Geld-Beziehungen und den Bedürfnissen des Bürgertums entsprach, unterschied die Städte scharf vom feudalen Lande. Ursprünglich mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht, wurde es später als Privileg der Stadtherren oder des Königs verliehen. Seit dem 12. Jahrhundert auch in schriftlich fixierten Satzungen kodifiziert. Neugegründeten Städten wurde oft das Recht einer älteren Stadt verliehen. Das Magdeburger Recht entwickelte sich zum sogenannten systematischen Schöffenrecht.

8 in detrimentum libertatis terrestris (lat.) – den ländlichen Freiheiten (das heißt feudalen Privilegien des Adels) schädlich.

10 1724 kam es bei der Fronleichnamsprozession in Thorn zu Streitigkeiten zwischen den Jesuitenzöglingen und den Schülern des protestantischen Gymnasiums der Stadt. Im Laufe der daraus entstandenen Tumulte wurde das Jesuitenkloster demoliert. Die katholische polnische Regierung nahm diesen Vorfall zum Anlass, um auf Grund eines ungesetzlichen Verfahrens am 7. Dezember den Stadtpräsidenten und neun protestantische Bürger enthaupten zu lassen.

11 Die polnische Konstitution vom 3. Mai 1791 brachte die Bestrebungen des progressivsten Teils des Adels und der städtischen Bourgeoisie zum Ausdruck; sie hob das liberum veto (das Prinzip der Einstimmigkeit in den Beschlüssen des Sejm) und die Wählbarkeit der Könige auf und führte eine dem Sejm verantwortliche Regierung ein. Die Verfassung verkündete die Unabhängigkeit der Städte von der feudalen Bevormundung und die rechtliche Gleichheit der Bauernschaft mit allen anderen Bürgern des polnischen Staates. Wenn sie auch nicht die ökonomische Befreiung der Bauern brachte, so erleichterte sie die Verhältnisse der Leibeigenschaft, indem die Gesetzeskraft der Loskaufverträge zwischen Gutsbesitzern und Bauern
als unbedingt bindend anerkannt wurde und diese Verträge unter die Aufsicht des Staates gestellt wurden. Die Verfassung von 1791 beschränkte weitgehend die Macht der Aristokratie, richtete sich gegen die feudale Anarchie und festigte die Zentralmacht. Sie war nach der Verfassung der Französischen Republik die fortschrittlichste Europas. Bereits 1792/1793 wurde sie durch das Eingreifen Katharinas II. von Russland wieder beseitigt. Dabei leistete ihr Preußen Hilfe, das seinen polnischen Bundesgenossen, mit dem es 1790 einen Vertrag geschlossen hatte, feige verriet.

12 Gemeint ist die von Russland unterstützte, gegen die Konstitution vom 3. Mai 1791 gerichtete Konföderation des polnischen Adels vom 14. Mai 1792. Sie bildete den Anlass zum Einmarsch der russischen Truppen als Auftakt der zweiten Teilung Polens.

13 Am 24. März 1794 begann der Aufstand unter Führung von Tadeusz Kosiuszko gegen die Teilungen Polens. Die Erhebung brach im Oktober zusammen. 1795 erfolgte die dritte Teilung Polens.

14 Siehe Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 8, S. 51. (Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die Artikelserie von Friedrich Engels geschrieben wurde.)

15 Die Ermordung Kotzebues durch den Burschenschafter Sand wurde von Metternich als Anlass benutzt, auf der Ministerkonferenz der deutschen Bundesstaaten im August 1819 die sogenannten Karlsbader Beschlüsse durchzusetzen. Sie bestimmten die strenge Überwachung aller Universitäten, das Verbot von Studentenverbindungen, verschärfte Zensur für Zeitschriften und Bücher und die Einsetzung einer Zentralkommission zur Untersuchung aller „revolutionären Umtriebe".

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