Franz Mehring 19020400 Die Septemberkrisen

Franz Mehring: Die Septemberkrisen

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. Herausgegeben von Franz Mehring, Dritter Band, Stuttgart 1920, S. 44-54. Nach Gesammelte Schriften, Band 7, S. 62-72]

Zur Zeit, wo sich in Paris das furchtbare Drama der Junischlacht vorbereitete und abspielte, war in Berlin das Ministerium Hansemann ans Ruder gekommen und von der Frankfurter Versammlung die provisorische Zentralgewalt des Erzherzogs Johann von Österreich als Reichsverweser eingesetzt worden. Ein paar Monate genügten hier wie dort für die gänzliche Abwirtschaftung dieser tragikomischen Revolutionsgewalten; beide mussten im Monat September ihren politischen Konkurs anmelden.

Der Erzherzog Johann bildete ein „Reichsministerium", das reichlich ausstaffiert war nicht nur mit Ministern, sondern auch mit Unterstaatssekretären und sonstiger bürokratischer Staffage. Präsident war ein Fürst Leiningen, den seine Verwandtschaft mit der Königin von England für diesen Posten empfahl, die „Seele" des Ministeriums aber, soweit sie eine hatte, der Österreicher Schmerling, der bisherige Präsident des Bundestages, jener schmachbeladenen Körperschaft, die nach Proklamierung des Reichsverwesers einstweilen schlafen gegangen war in der berechtigten Hoffnung eines baldigen und gesunden Wiedererwachens und in dem tröstlichen Bewusstsein, dass die Wirtschaft des Reichsverwesers sogar auf ihre drei Jahrzehnte lang vom deutschen Volk verfluchte Wirtschaft noch ein milderndes Licht werfen würde.

In holdem Einverständnis mit dem biedern Habsburger Johann machte Schmerling das „Reichsministerium" gleichermaßen zum Spott für das Aus- wie für das Inland. Die auswärtigen Angelegenheiten erhielt der Hamburger Advokat Heckscher, dessen einzige Befähigung für diplomatische Geschäfte in dem wohlerworbenen Ruf ungewöhnlicher Grobheit bestand; ebenso sinnig waren die Gesandten bei den auswärtigen Mächten ausgesucht, namentlich der Historiker Raumer, der in Paris akkreditiert wurde, erregte dort die ungestümste Heiterkeit. Das Kriegsministerium aber wurde dem preußischen General v. Peucker übertragen, einem unfähigen Gamaschenknopf, von dem Bismarck in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, dass er wegen seiner unersättlichen Ordenssucht sprichwörtlich berufen gewesen sei. Diesen Strohkopf stiftete Schmerling an, den „Landeskriegsministerien" anzubefehlen, dass alle deutschen Truppen am 6. August dem Reichsverweser als dem obersten Befehlshaber der deutschen Kriegsmacht zu huldigen hätten. Natürlich lachten Österreich und Preußen diesen Befehl aus, und selbst Bayern genügte ihm nur in einer höhnisch verletzenden Form. Auf einen derben Rüffel, den Peucker aus Berlin erhielt, entschuldigte er sich de- und wehmütig, der Befehl sei ja ganz harmlos gewesen; er habe dem „Reichsministerium" nur die Möglichkeit sichern wollen, demokratische Aufstände durch augenblickliche Requisition der Truppen niederzuschlagen ohne den gefährlichen Aufschub, den eine vorherige Anfrage bei den einzelnen Regierungen verursachen müsse.

An dies kuriose Institut von provisorischer Zentralgewalt trat nun eine Sache von europäischer Wichtigkeit heran, nämlich die schleswig-holsteinische Frage.

Holstein war ein deutsches Land und gehörte zum Deutschen Bunde; Schleswig stand außerhalb dieses Bundes und war wenigstens in seinen nördlichen Bezirken überwiegend dänisch. Beide Herzogtümer verband seit manchem Jahrhundert die Gemeinsamkeit des Herrscherhauses mit dem nur um weniges größeren und volkreicheren Königreiche Dänemark, so jedoch, dass in Dänemark auch der Weiber-, in Schleswig-Holstein nur der Mannesstamm erben durfte. Unter sich waren die beiden Herzogtümer durch eine strenge Realunion verknüpft, die in dem ewich tosamende ungedeck1 ihren klassischen Ausdruck fand. In dieser Untrennbarkeit, in der staatlichen Selbständigkeit und in dem Rechte der männlichen Erbfolge gipfelte das schleswig-holsteinische Staatsrecht.

Nach mehr als dreihundertjährigem Bestehen wurde es erschüttert durch die ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, die den nationalen Gegensätzen eine so eigentümliche Schärfe verliehen. Es hatte eine lange Zeit gegeben, wo der deutsche Geist in Kopenhagen überwog, die deutsche Sprache die amtliche Sprache des dänischen Königreichs war, schleswig-holsteinische Edelleute den maßgebenden Einfluss in den dänischen Kanzleien besaßen. Der leise Umschlag der Dinge, der schon mit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts begann, wurde dann auch durch manchen starken Anstoß von außen her gefördert: so durch den Beschluss des Wiener Kongresses, der Norwegen von Dänemark trennte und dem Ringen dieses kleinen Königreichs um seine staatliche Existenz die Richtung auf die Annexion Schleswig-Holsteins gab, ferner durch das allmähliche Erlöschen des Mannesstamms im dänischen Königshause, das den Anheimfall der Herzogtümer an die in diesem Fall erbberechtigten Augustenburger und damit ihre völlige Trennung von Dänemark in absehbare Nähe rückte. In diesen Bestrebungen emanzipierte sich Dänemark nach seinen Kräften vom deutschen Einfluss und kultivierte dafür, da es zur Produktion eines eigenen Nationalgeistes am Ende doch zu klein war, einen künstlichen Skandinavismus, für den es sich mit Norwegen und Schweden zu einer eigenen Kulturwelt zu verbinden suchte.

Das Urteil der „Neuen Rheinischen Zeitung" über diesen Skandinavismus2 klingt in den Tagen der Ibsen und Jonas Lie und so vieler anderer skandinavischer Poeten, denen das deutsche Geistesleben der Gegenwart reiche Anregung verdankt, ungemein hart, war aber für seine Zeit vollkommen berechtigt. Wenn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutsche Dichter, wie Klopstock und Schiller, von dänischen Königen und Edelleuten die Förderung und Unterstützung erhielten, die sie im eigenen Vaterlande nicht fanden, so schloss sich die skandinavische Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr an unsere klassische Literatur, sondern an die deutsche Romantik und selbst nur an deren untergeordnete Größen an. Sie kennzeichnete sich durch die feindselige Abwendung vom Leben der Gegenwart, die Rückkehr zu den Stoffen einer längst entschwundenen Vorzeit, durch die Lust an allegorischer Märchendichtung, durch eine phantastische Überweltlichkeit und theologische Orthodoxie. Die deutsche Philosophie und namentlich die revolutionäre Auflösung des Hegeltums war ganz spurlos an den skandinavischen Völkern vorübergegangen. Dagegen gewann die fanatische Sekte der Grundtvigianer3, die in hochmütiger Überhebung Dänemark als das auserlesene Land Gottes feierte und sich einen eigentümlichen mystisch-religiösen Jargon schuf, immer mächtigeren Einfluss auf die Massen, namentlich auch auf die bäuerliche Bevölkerung; selbst ein Poet, wie Björnstjerne Björnson, hat dieser Sekte angehört und in brünstigem Eifer verlangt, dass die Offiziere vor der Front ihrer Soldaten geistliche Psalmen anstimmen sollten. Wie tief der künstlich herangezüchtete Skandinavismus das geistige Leben Dänemarks verseucht hat, zeigte sich noch um das Jahr 1870, als Georg Brandes in seinen literarischen Vorlesungen an der Kopenhagener Universität die bürgerliche Aufklärung in mehr geistreich spielender als gründlicher und am allerwenigsten grundstürzender Weise predigte und dafür von der ganzen dänischen Presse als ein unerhörter Tempelschänder gelästert wurde.

Die Versuche der dänischen Regierung, sich der Elbherzogtümer völlig zu bemächtigen, fanden in ihnen selbst einen zähen Widerstand, der bald zur deutschen Nationalsache wurde. Das ökonomisch aufblühende Deutschland erkannte, besonders nach der Gründung des Zollvereins4, welche Bedeutung die schleswig-holsteinische, zwischen zwei Meeren hingestreckte Halbinsel für seinen Handels- und Seeverkehr hatte, und begrüßte mit immer wachsendem Beifall die Opposition der Herzogtümer gegen die dänische Propaganda. Seit dem Jahre 1844 wurde das Lied von Chemnitz: „Schleswig-Holstein, meerumschlungen, Deutscher Sitte hohe Wacht", eine Art deutscher Nationalhymne. Aus dem langweiligen und schläfrigen Tempo einer vormärzlichen Agitation kam diese Bewegung freilich nicht heraus, aber sie hatte nicht nur das Recht der Verträge, sondern auch das Recht der höheren Kultur auf ihrer Seite, und ganz vermochte sich selbst die Reaktion ihrem Einflüsse nicht zu entziehen. Als der dänische König Christian VIII. 1846 einen entscheidenden Gewaltschritt vorbereitete durch den „Offenen Brief", worin er das Herzogtum Schleswig und selbst einen Teil des Herzogtums Holstein als integrierende Teile des dänischen Gesamtstaates ansprach, ermannte sich sogar der Bundesrat zu einer Art von Tat; statt sich unzuständig zu erklären, wie es sonst seine Gewohnheit war, wenn es den Schutz deutscher Volksstämme vor fürstlichen Gewalttaten galt, sprach er die „vertrauensvolle Erwartung" aus, dass der dänische König die Rechte des Bundes, der Agnaten und der holsteinischen Landstände achten werde.

Immerhin war die „Neue Rheinische Zeitung" auch darin auf dem richtigen Wege, dass sie sich zu dem meerumschlungenen Schoppenenthusiasmus sehr kühl stellte und ihn selbst nur als Gegenstück zum Skandinavismus behandelte. Der ganze Streit verschob sich in der eigentümlichen Weise, dass unter dem reaktionären Banner des Skandinavismus gerade die bürgerliche Opposition in Dänemark focht, die nach der Danisierung des Herzogtums Schleswig, nach der Ausdehnung des dänischen Wirtschaftsgebiets lechzte, um den Gesamtstaat dann durch eine moderne Verfassung zu befestigen, während der Kampf der Herzogtümer für ihr altes Recht, der Kampf Deutschlands für das höhere Recht seiner Kultur zum guten Teil ein Kampf für feudale Privilegien und dynastische Schnurrpfeifereien war.

Die mittelalterliche Verfassung der Herzogtümer begünstigte den Adel in der ausschweifendsten Weise; sie schloss ein Drittel des Landes, darunter Städte wie Altona und Glückstadt, von der ständischen Vertretung aus; die vielgerühmte Selbstverwaltung mit ihrem mittelalterlichen Durcheinander von Hardesvögten, Klostervögten, Bauernvögten, von bevorrechteten Städten, Amtsbezirken, klösterlichen Distrikten, adligen Güterdistrikten und oktroyierten Kögen glich weit mehr dem mecklenburgischen als dem englischen Muster. Die herrschende Klasse des Landes war ein Adel, der in wesentlich noch feudalen Vorstellungen lebte und auf die bäuerliche Bevölkerung einen altererbten Einfluss besaß; neben ihm stand ein erst schwach entwickeltes Bürgertum, dessen Fürsprecher nicht selbstbewusste Fabrik- und Handelsmagnaten, sondern Advokaten und besonders die Professoren der Kieler Universität waren; an einer volkstümlich-demokratischen Richtung fehlte es nicht ganz, aber sie war noch sehr schwach. Die Augustenburger hatten geringen Anhang im Lande; der Herzog selbst war ein harter und verhasster Grundherr, sein Bruder, der Prinz von Noer, ein großsprecherischer, aber unfähiger Militär; für sie gab es auf der weiten Welt nur die vorsintflutlichen Schaffelle, worauf ihr legitimes Erbrecht geschrieben stand.

So war der Adel als herrschende Klasse fast ganz unbeschränkt; seine Klasseninteressen geboten ihm zwar die Aufrechterhaltung der alten Landesverfassung, aber eben nur weil und soweit sie seinen Klasseninteressen entsprach; die nationale und nun gar die liberale Seite des deutsch-dänischen Streites war ihm fremd. Er gefiel sich vielmehr in der Vorstellung, dass der dänische König von den Eiderdänen, der liberalen und nationalen Partei in Dänemark, die ein Dänemark bis zur Eider verlangte, wider seinen Willen vergewaltigt werde, und nahm zum eigenen Kampfgeschrei die Parole: Für den freien König-Herzog gegen den unfreien König-Herzog! Blieb der König-Herzog aber unfrei, so kam im günstigsten Falle der Augustenburger zur Regierung in Schleswig-Holstein, und der Kampf für das höhere Recht der deutschen Kultur endete mit dem großartigen Ergebnis, dass die Herzogtümer nicht mehr von einem ausländischen Duodez-, sondern von einem inländischen Sedezdespoten regiert wurden.

In dieser Lage der Dinge starb der König Christian VIII. am 20. Januar 1848. Ihm folgte Friedrich VII., der letzte Spross des Mannesstammes. Nach dem Rate seines sterbenden Vaters begann er damit, eine liberale Gesamtstaatsverfassung für Dänemark und die Herzogtümer vorzubereiten, als die Pariser Februarrevolution durch eine stürmische Volksbewegung in Kopenhagen die eiderdänische Partei ans Ruder brachte, die sofort mit rastlosem Ungestüm an die Ausführung ihres Programms ging, an die Einverleibung Schleswigs bis zur Eider. Nun fiel Schleswig-Holstein sofort von Dänemark ab, das 7000 Mann starke Heer voran, und in Kiel konstituierte sich eine provisorische Regierung. Ihre leitenden Köpfe waren der Prinz von Noer und der Graf Reventlow-Preetz; neben ihnen vertrat der Advokat Beseler jenen kümmerlichen Liberalismus, der in der bürgerlichen Revolution nichts Besseres zu tun weiß, als den absolutistisch-feudalen „Rechtsboden" zu „wahren". Die Volksmasse war peinlich überrascht durch die Zusammensetzung der neuen Regierung, und um den allgemeinen Unwillen zu beschwichtigen, wurden noch zwei bürgerliche Mitglieder, ja einige Tage später als sechstes Mitglied noch ein Demokrat hineingewählt, aber inzwischen hatten der Prinz von Noer, Reventlow und Beseler den Kurs schon festgelegt.

Sie erließen am 24. März eine schwachherzige Proklamation, und statt die Kräfte des Landes zu entfesseln, die sich ganz wohl mit der dänischen Macht hätten messen können, wandten sie sich um Hilfe an den Deutschen Bundestag und die preußische Regierung, von denen allerdings keine Gefährdung feudaler Privilegien zu befürchten war.

Beide sagten denn auch ihre Hilfe zu, unter Beschränkung auf die drei Kardinalpunkte des schleswig-holsteinischen Staatsrechts: die Selbständigkeit, die Untrennbarkeit und die agnatische Erbfolge der Herzogtümer. Der preußische König hatte bereits am 24. März in diesem Sinn an den Herzog von Augustenburg geschrieben, „in Wahrung der deutschen Sache", die er eben auf seinem komödiantenhaften Umritt in den Berliner Straßen als seinen Beruf verkündet hatte; sich und sein „herrliches Kriegsheer" auf einem militärischen Spaziergange gegen das schwache Dänemark von der schweren Schlappe des 18. März zu erholen war wohl sein erster Antrieb. Zehn Tage darauf war er freilich schon wieder üppig genug, dem dänischen Kabinett einen andern Grund seines Einschreitens anzugeben. Sein geheimer Abgesandter, der Major von Wildenbruch, erklärte dem dänischen Minister des Auswärtigen, Preußen wünsche vor allen Dingen, die Herzogtümer Schleswig-Holstein ihrem König-Herzog zu erhalten, und sei gleich weit davon entfernt, seinem eigenen Interesse oder dem Ehrgeiz dritter Personen zu dienen. Im Interesse Dänemarks sowie aller Nachbarstaaten läge es aber, dass sich die deutschen Fürsten der Angelegenheit kräftig annähmen, und einzig der Wunsch, die radikalen und republikanischen Elemente an unheilbringender Einmischung zu hindern, bewege Preußen zu den getanen Schritten. So waren die tapferen Freiwilligen, die aus allen Teilen Deutschlands herbeieilten, um den „verlassenen Bruderstamm" von seinen Bedrängern zu retten, von vornherein verraten und verkauft.

Indessen pflückte der preußische König bei dieser hinterhältigen Politik auch keine Rosen. Die schleswig-holsteinische Erhebung vollzog sich keineswegs in den verhältnismäßig revolutionären Formen, die ihr die „Neue Rheinische Zeitung"5, froh jeder Spur von Tatkraft in einer deutschen Volksbewegung, nachsagen zu sollen glaubte; gleichwohl war sie für Friedrich Wilhelm IV. ein Gräuel, als eine Empörung gegen eine von Gott angestammte Obrigkeit. Seine Generale mussten in Schleswig-Holstein den „Knechtesdienst für die Revolution" ungleich schlapper tun, als sie den Knechtesdienst für den Zaren in der Provinz Posen getan hatten; der Krieg sollte ein dynastischer Kabinettskrieg bleiben.

Aber eben dadurch ging er in blamabelster Weise verloren. Die dänische Regierung ließ sich keinen Augenblick durch die diplomatisch schmeichelnden Redensarten des Majors Wildenbruch betören, wohl aber rief sie die europäischen Mächte, in erster Reihe England und Russland, zu ihrem Schutze auf, und zwar mit einem Erfolge, der dem kleinen Dänemark gestattete, das große Deutschland wie einen Schulbuben zu zausen. Während die dänischen Kriegsschiffe dem deutschen Handel die empfindlichsten Wunden schlugen, wurde das deutsche Bundesheer, das unter dem Befehl des preußischen Generals Wrangel in die Herzogtümer eingerückt war und trotz seiner nichts weniger als energischen Kriegführung die um so viel schwächeren dänischen Truppen bis über die jütische Grenze vor sich hergetrieben hatte, durch die diplomatische Intervention der europäischen Mächte vollständig lahmgelegt. Bereits Ende Mai erhielt Wrangel aus Berlin den Befehl, sich aus Jütland zurückzuziehen; es war der Anfang des Endes, gegen den die Frankfurter Versammlung feierlich am 9. Juni protestierte; sie erklärte, dass die Sache der Herzogtümer als eine Angelegenheit deutscher Nation zu ihrem Wirkungskreise gehöre, dass sie die Ehre und das Interesse Deutschlands wahren werde.

Damit imponierte die Versammlung aber niemandem mehr, selbst nicht einmal dem preußischen Könige, der sich doch noch lange nicht vom Märzschrecken erholt hatte. Unter dem englischen und russischen Druck machenschaftete er weiter mit der dänischen Regierung, zunächst um einen Waffenstillstand von drei Monaten, dessen bereits am 2. Juli fertiger Entwurf überaus günstige Bedingungen für Dänemark enthielt. Das Ministerium Hansemann nahm trotzdem keinen Anstoß daran und wollte den Entwurf ratifizieren, allein Wrangel widersetzte sich unter formeller Berufung darauf, dass er nicht bloß preußischer General, sondern auch deutscher Bundesfeldherr sei. Er war durchaus kein nationaler Held, sondern höchstens ein preußischer Feldwebel; ebendeshalb aber wollte er die vielleicht niemals wiederkehrende Gelegenheit ausnützen und sich ein bisschen wohlfeilen Kriegsruhm erwerben durch die gänzliche Niederschlagung des dänischen Heeres; um den diplomatischen Hintergrund seiner kleinen Kriegsspielerei zu überschauen, war er viel zu beschränkt. So brachte er die „preußische Waffenehre" ins Spiel, und das Ministerium gab ihm nach. Camphausen, der vom Reichsverweser zum Präsidenten des Reichsministeriums ausersehen gewesen war, sich als solider Kaufmann auf diesen höheren Schwindel zwar nicht eingelassen hatte, aber als preußischer Bevollmächtigter bei der provisorischen Zentralgewalt in Frankfurt geblieben war, forderte vom Reichsministerium für die Berliner Regierung die Ermächtigung zu neuen Verhandlungen mit Dänemark und erhielt sie auch, jedoch nur unter drei Bedingungen, die wenigstens einigermaßen die deutsche Sache in den Herzogtümern während des Waffenstillstandes zu sichern geeignet waren; auch sandte das Reichsministerium einen seiner Unterstaatssekretäre, einen Bruder des edlen Gagern, zur Überwachung der Verhandlungen zwischen Preußen und Dänemark ab.

Diese Dreistigkeiten verdrossen nun aber sehr in Berlin. Gagern hatte das gewöhnliche Schicksal all dieser Pechvögel von Reichsgesandten; Dänemark erkannte ihn gar nicht an, und Preußen lachte ihn aus. Die beiden kriegführenden Mächte schlossen vielmehr, des Reiches ungefragt, am 26. August den Waffenstillstand in Malmö ab, mit gänzlicher Missachtung der drei von der provisorischen Zentralgewalt gestellten Bedingungen, und auch sonst mit Bestimmungen, die den deutschen Interessen noch weit empfindlichem Eintrag taten als die Bestimmungen des ersten Entwurfs. Am meisten wurde die deutsche Nation dadurch empört, dass der Waffenstillstand nicht mehr nur drei, sondern sieben Monate gelten sollte, also den ganzen Winter hindurch, der die dänischen Kriegsschiffe lahmgelegt und den deutschen Truppen den Eisübergang nach Fünen gestattet hätte, und ferner, dass Graf Karl Moltke, der berüchtigtste Dänenfreund in den Herzogtümern, an die Spitze der für die Dauer des Waffenstillstandes von Dänemark und Preußen neu einzusetzenden Regierung treten sollte.

In den ersten Septembertagen fiel die Nachricht von diesem Waffenstillstände wie ein Donnerschlag auf die Frankfurter Versammlung, die, „waschweiberredselig wie die Scholastiker des Mittelalters"6, ihre papierenen „Grundrechte" bis zur Bewusstlosigkeit diskutierte. Die Alternative, die ihr nunmehr gestellt war, wurde von der „Neuen Rheinischen Zeitung" zutreffend formuliert, etwa nur mit einiger Überschätzung der revolutionären Kraft, die in der schleswig-holsteinischen Bewegung steckte. Entweder genehmigte die Versammlung den Waffenstillstand, und dann verfiel sie der allgemeinen Verachtung im Aus- und Inlande. Oder sie verwarf ihn und provozierte einen europäischen Krieg, der mit der Entfesselung aller revolutionären Kräfte geführt werden, also zuerst der Frankfurter Bourgeois- und Junkermehrheit das Dasein kosten musste. In ihrem erfolgreichen Bestreben, jede denkbare Chance der Lächerlichkeit auszunutzen, entschied sich die Versammlung nicht zwischen dem einen oder dem andern, sondern tat das eine und das andere. Sie beschloss erst am 5. September, die Ausführung des Waffenstillstandes zu sistieren, und veranlasste dadurch den Rücktritt des Reichsministeriums. Jedoch der Professor Dahlmann, der Führer der Mehrheit vom 5. September, vermochte nicht einmal ein neues Scheinministerium herzustellen, sowenig wie der gleichfalls vom Reichsverweser darum ersuchte Professor Herrmann, von dem ein Frankfurter Korrespondent der „Neuen Rheinischen Zeitung" am 11. September irrtümlich meldete, dass es ihm wahrscheinlich gelingen werde. Am 16. September genehmigte die Versammlung dann den Waffenstillstand und unterschrieb damit ihr moralisches Todesurteil; auch die Parteien der Linken konnten sich nicht entschließen, die Rolle eines Konvents zu übernehmen, mit Ausnahme etwa von einigen Mitgliedern der äußersten Linken.

Zu gleicher Zeit krachte das Ministerium Hansemann zusammen. Mittelbar bestand dadurch eine Verbindung zwischen diesen Septemberkrisen, dass unter den Ursachen der schleswig-holsteinischen Schande auch das lebhafte Verlangen der preußischen Krone mitspielte, die Garderegimenter, die sich an den zweideutigen Zwerglorbeeren des Dänenkriegs ein wenig von der schmählichen Niederlage des 18. März erholt hatten, wieder nach Berlin zu ziehen. Wrangel wurde zum „Oberbefehlshaber in den Marken", das will sagen zum Generalissimus der Gegenrevolution ernannt, was den bornierten Junker natürlich reichlich darüber tröstete, dass der endgültige Waffenstillstand von Malmö seine „Waffenehre" doppelt so stark besudelt hatte wie der ursprüngliche Entwurf. Seit den Pariser Junitagen rasselte die Plempe des preußischen Militarismus ungebärdig in der Scheide; ein verbrecherisches Blutbad, das eine Kompanie Infanterie in der Festung Schweidnitz unter der Bürgerwehr dieser Stadt angerichtet hatte, veranlasste den Antrag Stein gegen die militärische Reaktion, dessen wiederholte Annahme durch die Berliner Versammlung dann das Ministerium Hansemann stürzte. Die bürgerlichen Gesellschaftsretter hatten ihre Schuldigkeit im Dienste der Reaktion reichlich getan, und die Krone ließ sie lieber fallen, ehe sie ihnen gestattete, auch nur einen papierenen Erlass gegen die blutdürstigen Appetite des Offizierkorps zu richten.

Die Geschichte des Ministeriums Hansemann ist ebenso wie die Geschichte des Ministeriums Camphausen von der „Neuen Rheinischen Zeitung" mit so lapidaren, nicht minder verständlichen, als heute noch gültigen Zügen geschrieben worden, dass jeder Kommentar dazu als überflüssig erscheint. „Die Linke könnte an einem schönen Morgen finden, dass ihr parlamentarischer Sieg und ihre wirkliche Niederlage zusammenfallen"7: Diese Prophezeiung vom 4. Juli wurde pünktlich am 7. September eingelöst. Mit vollem Rechte sah die „Neue Rheinische Zeitung" in dem Sturze des Ministeriums Hansemann den Sieg des Prinzen von Preußen, hob sie hervor, dass der Konflikt zwischen Krone und Versammlung schon auf die Schneide des Schwertes gespielt sei. Der von ihr vermutete Mangel an Courage war es wirklich allein, der noch das Zwischenspiel des Ministeriums Pfuel veranlasste; die inzwischen veröffentlichten Briefe und Denkwürdigkeiten aus jener Zeit geben darüber reichlichen Aufschluss. Überaus treffend fertigte das revolutionäre Blatt auch schon das klägliche Jammergeschrei über die Bedrohung der Versammlung durch die revolutionären Volksmassen ab, jene reaktionäre Falle, in die dann trotz dieser eindringlichen Warnung zwei Monate später die blinden Philister mit würdevollster Grandezza getappt sind.

Es bleiben noch zwei Auslassungen der bürgerlichen Literatur über die Haltung der „Neuen Rheinischen Zeitung" in der preußischen Septemberkrise8 an ihren Ort zu stellen. So soll sie als einziges „Mittel zur Durchführung der Demokratie die sofortige Einführung der Diktatur verlangt" haben. Dieser Unsinn ist aus folgenden Sätzen herausdestilliert worden, die in der Nummer vom 14. September erschienen: „Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur. Wir haben es Camphausen von Anfang an vorgeworfen, dass er nicht diktatorisch auftrat, dass er die Überbleibsel der alten Institutionen nicht sogleich zerschlug und entfernte. Während also Herr Camphausen sich in konstitutionellen Träumereien wiegte, verstärkte die geschlagene Partei die Positionen in der Bürokratie und in der Armee, ja, wagte hier und da selbst den offenen Kampf."9 Man sieht, die Zeitung fasst hier in wenigen Sätzen zusammen, was sie in ihren langen Abhandlungen über das Ministerium Camphausen ausführlich begründete; gerade in dieser summarischen Fassung sagt sie nichts anderes, als was Waldeck am 15. Juni in der Berliner Versammlung gesagt hatte: Wenn wir die traurigen Reste des feudalen Staats nicht zertrümmern, so pflügen wir im Sande und bauen in der Luft, oder Bucher am 18. Juli an derselben Stelle: Wir sollten keinen Tag hingehen lassen, ohne ein Bruchstück der überwundenen Vergangenheit zu zertrümmern.

Ferner wird es der „Neuen Rheinischen Zeitung" als halber Hochverrat oder doch als kommunistischer Idiotismus vorgehalten, dass sie aus dem Prinzip der Vereinbarung gefolgert habe, wenn der König das Recht haben solle, die Versammlung aufzulösen, so habe die Versammlung auch das Recht, den König abzusetzen. Indessen auch diese logische Schlussfolgerung, die mit dem Einmaleins den Vorzug durchsichtiger Klarheit teilt, war damals Gemeingut bis tief in die konservativen Kreise hinein und ist von niemandem mit so schlüssiger Energie bewiesen worden wie von Gneist.

Das Marxtöten ist heutzutage ein bekömmliches Geschäft, das jeden deutschen Professor kleidet, und es muss wirklich die härtesten Herzen erschüttern, wenn es an Marx als extremen Kommunismus verflucht, was die bürgerliche Klasse selbst von allen Dächern gepredigt hat zur Zeit, wo sie noch einiges Hirn im Kopfe und noch einiges Mark in den Knochen hatte.

1 1640 kamen Schleswig und Holstein durch Personalunion (nicht Realunion) an Dänemark; sie sollten jedoch auf „ewig zusammen (und) ungeteilt" bleiben.

3 Gemeint sind die religiös-patriotischen Anhänger Nikolai Frederik Severin Grundtvigs (1783-1872), dänischer Theologe, Historiker und Dichter, seit 1839 Pastor, seit 1861 Bischof in Kopenhagen. In den 40er und 50er Jahren spielten Grundtvig, der Mitglied des Reichstags war, und seine Anhänger eine große Rolle beim Streit mit Deutschland um Schleswig-Holstein.

4 Der Zollverein war eine wirtschaftspolitische Vereinigung deutscher Einzelstaaten unter preußischer Führung zur Beseitigung der Binnenzölle und zur gemeinsamen Regelung der Grenzzölle. Er wurde am 1. Januar 1834 gebildet und umfasste 18 deutsche Staaten (Österreich und einige süddeutsche Staaten traten nicht bei) mit einer Bevölkerung von über 23 Millionen.

8 Am 7. September 1848 forderte die Preußische Konstituierende Versammlung mit 219 gegen 143 Stimmen von der Regierung die sofortige Ausführung ihres Beschlusses vom 9. August, nach dem das Heer nicht mehr auf den König, sondern auf die Verfassung vereidigt werden sollte. Daraufhin trat das Ministerium Hansemann am 21. September zurück. Der Konflikt des preußischen Parlaments mit der Krone hatte begonnen. Mit dem gleichzeitigen Beschluss der Frankfurter Nationalversammlung vom 5. September, den Vollzug des preußischen Waffenstillstandsabkommens mit Dänemark zunächst auszusetzen, trat die deutsche Revolution in ein entscheidendes Stadium. Aber durch die feige Annahme des Waffenstillstandes vom 16. September durch die Frankfurter liberale Mehrheit und vor allem dadurch, dass die Bourgeoisie den bewaffneten Kampf der Frankfurter Volksmassen von der reaktionären Soldateska blutig niederschlagen ließ, führte die Septemberkrise zum offenen Verrat der Bourgeoisie an der Revolution. Sie war das Vorspiel der entscheidenden konterrevolutionären Angriffe im Oktober in Wien.

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